Wang Jinkang, Jahrgang 1948, ist zusammen mit Cixin Liu und Han Song einer der »Großen Drei« der chinesischen Science-Fiction. Er hat jahrelang als Ingenieur und Entwickler in der Ölförderindustrie gearbeitet, bis er mit seinen ersten Kurzgeschichten über Nacht berühmt wurde. Seitdem hat Wang Jinkang mehr als 15 Romane und über 80 Erzählungen verfasst, für die er so vielen Preisen wie kaum ein anderer chinesischer Autor ausgezeichnet wurde.
2.
DIE WISSENSCHAFT VON DEN AMEISEN
Yan Zhe entstammte einer der vier einflussreichsten alteingesessenen Familien von Beiyin. Zu ihrer Blütezeit besaß die Familie Yan rund tausend Mu, also an die siebzig Hektar Land. Nach der Gründung der Volksrepublik China wurde ihr ländlicher Grund- und Immobilienbesitz restlos beschlagnahmt. Ihre städtischen Immobilien dagegen galten als Betriebsvermögen und hätten den offiziellen politischen Leitlinien zufolge eigentlich im Familienbesitz verbleiben sollen. Tatsächlich jedoch verloren die Yans auch den Großteil dieses Besitzes: Ihre Häuser wurden ohne jede Entschädigung von diversen kleineren staatlichen Organisationen wie der lokalen Ein- und Verkaufsgenossenschaft, der Kreditgenossenschaft und dem Büro des Nachbarschaftskomitees in Beschlag genommen. Faktisch wurden also auch diese Besitztümer konfisziert. Am Ende blieb den Yans nichts als ein großer Hof am Stadtrand, den die Familie ursprünglich einmal als Maulbeergarten genutzt hatte: eine bis auf ein paar Strohhütten weitgehend unbebaute Fläche voller Maulbeerbäume, umgeben von einem niedrigen Lehmwall. Weil die Alten in der Familie bereits verstorben waren und die mittlere Generation sich größtenteils im Ausland niedergelassen hatte, hatte dieser Hof lange leer gestanden und sich in ein Paradies für uns spielende Nachbarskinder verwandelt.
Yan Zhes Vater Yan Fuzhi war in jungen Jahren zum Studium nach England gegangen und hatte sich als Entomologe in der internationalen Fachwelt einen Namen gemacht. Nach der Gründung der Volksrepublik China war er in sein Vaterland zurückgekehrt und hatte an einer renommierten Pekinger Universität eine Professur angetreten. Seine alte Heimatstadt hatte er in diesen Jahren kaum einmal besucht. 1957 jedoch, während der Kampagne gegen Rechtsabweichler, wurden einige seiner Äußerungen als »bösartige Attacken« auf die revolutionäre Gesinnung angeprangert: Man dürfe, so hatte er kritisiert, »nicht aufgrund von politischen Kriterien die Vererbungslehre von Mendel und Morgan unterdrücken«; die sowjetische Lehre von Mitschurin und Lyssenko sei »nichts als eine politische Missgeburt« und Lyssenko selbst »ein Scharlatan reinsten Wassers«. Mehr noch: »Eine Wissenschaft, der man die Freiheit genommen hat, wird ersticken.«
Diese Aussagen hätten eigentlich genügt, um ihn zum »Ultrarechten« abzustempeln. Glücklicherweise legte ein hoher Kader ein gutes Wort für ihn ein: Während des Koreakriegs habe sich Yan als Insektenkundler darum verdient gemacht, die bakteriologische Kriegsführung der amerikanischen Imperialisten aufzudecken. In der Folge wurde er nicht mehr als »rechtes Element« gebrandmarkt, sondern nur noch als »rechtes Objekt« und samt Familie in seine alte Heimat geschickt.
Nachdem er auf den verwaisten Hof zurückgekehrt war, erzählten mir die Erwachsenen in meinem Umfeld von seiner Einstufung als »rechtes Objekt«. Doch ich wurde aus diesem Ausdruck nicht schlau, gerade weil ich schon wusste, was das Wort »Objekt« normalerweise bedeutete: Wenn die »Rechten«, wie ich naturgemäß glaubte, Herrn Yan zu ihrem Ziel gemacht hatten, wer waren dann diese Rechten? Etwa seine Frau?
Nein, belehrten mich die Erwachsenen: Ein »rechtes Objekt« erfülle zwar eigentlich alle Voraussetzungen, um als Rechter zu gelten, aber die Regierung habe Milde mit ihm walten lassen und ihn deshalb nicht zum »rechten Element« erklärt. Und Tante Yuan, die Frau von Onkel Yan, sei weder ein rechtes Element noch ein rechtes Objekt, sondern nur von ihrem Mann in die Sache hineingezogen worden. Deshalb sei im Grunde sie das rechte Objekt.
Die Erwachsenen gaben sich alle Mühe, mir das Unerklärliche zu erklären, und ich nickte artig, auch wenn ich noch immer allenfalls die Hälfte begriffen hatte. Die Feinheiten der politischen Terminologie waren einfach zu kompliziert für den beschränkten Verstand eines sechsjährigen Kindes.
An dem Tag, als die Familie Yan wieder in ihrer alten Heimat ankam, spielten wir also gerade auf dem Hof voller Maulbeerbäume. Meine Spielgefährten und ich kamen alle aus ärmlichen Verhältnissen, und entsprechend bescheiden waren auch unsere Vergnügungen: Zu unseren liebsten Beschäftigungen gehörte es, die heimischen Ameisen dabei zu beobachten, wie sie eine Raupe mit sich fortschleppten. Zhuang Xuexu, der zwei Jahre älter als ich und unser aller Anführer war, leitete auch an diesem Tag unser Spiel. In Reichweite einer suchend umherkrabbelnden schwarzen Ameise platzierte er eine halb tote Raupe. Kaum hatte die Ameise die Raupe entdeckt, stürzte sie sich auf sie, verbiss sich in ihr und zerrte mit aller Kraft an ihrem verzweifelt sich wehrenden Opfer. Bald aber sah sie ein, dass sie allein nichts würde ausrichten können. Kurz entschlossen entfernte sie sich und kehrte schnurstracks zu ihrem Nest heim.
»Gleich kommt sie mit einem großen Trupp zurück!«, prophezeite Xuexu aufgeregt. »Wartet’s nur ab!«
Und tatsächlich marschierte kurz darauf eine mächtige Kolonne aus Hunderten von Ameisen herbei, umzingelte die Raupe und griff sie an. Ihr Opfer hatte bald seine letzten Kräfte erschöpft, oder vielleicht war es von den feindlichen Heerscharen auch ohnmächtig gestochen worden, jedenfalls leistete es keinen Widerstand mehr. Die Ameisen begannen nun, an ihrer Beute zu zerren – anfangs noch in einem chaotischen Gewimmel, in dem jede einzelne von ihnen mit ihren sechs Beinchen in eine andere Richtung zu ziehen schien, sodass sich ihre Beute keinen Millimeter vom Fleck rührte. Dann jedoch koordinierten die Ameisen auf geheimnisvolle Weise ihre Anstrengungen, sodass sich nun all die Hunderte von Beinchen in dieselbe Richtung stemmten – und endlich, ganz langsam, setzte sich der aus ihrer Sicht ungeheure Körper in Bewegung. Davon angespornt, trippelten die Ameisen mit verdoppeltem Schwung voran, und alle legten sie sich so eifrig ins Zeug, dass sich ihre Beute bald mit gleichmäßiger Geschwindigkeit auf ihr Nest zubewegte.
Auch wenn wir solch ein Schauspiel nicht zum ersten Mal erlebten, konnten wir uns doch nie daran sattsehen. Dieses einfache Treiben weckte in mir mit meinen sechs Jahren die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens.
»Woher wusste die Späherin eigentlich den Weg?«, fragte ich Xuexu. »Und wie hat sie Verstärkung geholt? So eine Ameise kann doch gar nicht sprechen! Und dann hat sie auch noch genau gewusst, wie viele andere Ameisen sie herbeirufen muss für so eine große Raupe – wie ist denn das möglich?«
Wir hatten nämlich auch schon beobachtet, wie die Ameisen für kleinere Insekten entsprechend kleinere Trupps von manchmal nur einem guten Dutzend Tieren aufboten.
»Und wie schaffen es die Ameisen, dass sie alle in dieselbe Richtung ziehen?«, bohrte ich weiter. »Die können doch keine Kommandos schreien.«
Xuexu kratzte sich am Hinterkopf. »Keine Ahnung. Ich weiß nur: Die Ameisen können es von Geburt an. Anscheinend hat der liebe Gott das so eingerichtet.«
»Wollen wir mal ihr Nest ausbuddeln und gucken, wie es darin ausschaut?«, schlug er vor. »Seid ihr dabei? Drüben im Hof haben die Ameisen ein großes Nest, da gehe ich jede Wette ein.«
Wir wussten genau, wie wir in den Hof der Familie Yan gelangen konnten: An einer Stelle der Mauer, an der der Lehm abgebröckelt war, stiegen wir zu fünft oder sechst auf das Grundstück. Xuexu hatte einen kleinen Spaten dabei. Erst am Vortag hatte ein Trupp Männer, angeführt von meinem Vater, das Anwesen aufgeräumt, denn der Eigentümer, so erklärte mir mein Vater, werde jetzt zurückkehren. Diese Aussicht trübte unsere ausgelassene Laune jedoch nicht im Geringsten.
In dem großen Ameisennest, das wir zwischen den Maulbeerbäumen ausgruben, herrschte ein ungeheuer dichtes schwarzes Gewimmel – über zehntausend Tiere mussten das sein, die da in kopfloser Erregung wie die sprichwörtlichen Ameisen in der heißen Pfanne durcheinanderwuselten! Wenn man allerdings genau hinblickte, erkannte man selbst in diesem Getümmel noch eine verborgene Ordnung: Während die kleinköpfigen Ameisen – die Arbeiterinnen – mit den weißen, ovalen Eiern im Mund hastig einen Schlupfwinkel suchten, spreizten ihre großköpfigen Artgenossinnen – die Soldatinnen – drohend ihre mächtigen Beißwerkzeuge, als wollten sie ihrem unsichtbaren Feind den Krieg erklären.
Mit meinen scharfen Augen erspähte ich inmitten dieses Gewühls auch die Königin, die drei- oder viermal so groß wie eine gewöhnliche Ameise war. Verstört irrte sie mit plumpen Bewegungen zwischen den Trümmern ihres Nestes umher, fand sich jedoch bald von einem guten Dutzend Arbeiterinnen umringt, die sie mit ihren Kiefern an den Beinen packten und sie energisch unter einen Klumpen Erde zerrten, um sie zu verstecken. Die Disziplin dieser winzigen Tierchen, die Selbstaufopferung, mit der sie für die Schwachen und Jungen sorgten, rührte mich zutiefst.
»Ich habe heute noch was Spaßiges mitgebracht«, verkündete Xuexu.
Er zog eine alte Lupe hervor, die schon halb zerbrochen war, aber noch immer als Brennglas taugte. Ich staunte nicht zum ersten Mal, was für kleine Schätze er ein ums andere Mal von zu Hause hervorzauberte, obwohl seine Familie noch ärmer war als meine: außer dieser Lupe zum Beispiel einen Kompass, eine kaputte Taschenuhr in einem goldenen Gehäuse oder den kleinen Armeespaten, mit dem wir soeben das Ameisennest ausgegraben hatten. Ich hatte sogar einmal ein Foto seiner Mutter gesehen, auf dem sie Ohrringe und einen Cheongsam trug – sie sah darauf wie ein anderer Mensch aus, nicht wie die zerzauste Gestalt, die...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2023 |
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Übersetzer | Marc Hermann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 蚁生 (Yǐ shēng, "Ant Life") |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • Alternate History • Alternative Geschichte • Ameisen • Ant Life • China • chinesische Science-Fiction • Cixin Liu • eBooks • Hao Jinfang • Kulturrevolution • Mo Yan • Neuerscheinung |
ISBN-10 | 3-641-27282-3 / 3641272823 |
ISBN-13 | 978-3-641-27282-1 / 9783641272821 |
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