5 Tage im Juni (eBook)

Stefan-Heym-Werkausgabe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
368 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-27834-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

5 Tage im Juni - Stefan Heym
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»Ein aufregendes, wichtiges und unbequemes Buch.« Süddeutsche Zeitung
Es ist 1953. Die DDR besteht seit vier Jahren. Martin Witte, Gewerkschaftsführer des größten Ost-Berliner Industriebetriebes, ist überzeugter Kommunist, doch als die Partei eine Normerhöhung von zehn Prozent einfordert, äußert er seine Bedenken. Witte wird suspendiert, doch die Arbeiterschaft stellt sich nun auch gegen die Parteilinie. Versuche, den Protest einzudämmen, scheitern, und die Belegschaft strömt auf die Straßen - wo russische Panzer auf sie warten ...

Anhand von zeitgenössischen Dokumenten erzählt Heym die Geschehnisse um den 17. Juni 1953. Ein packender Zeitroman, der als das bekannteste Werk des großen Schriftstellers gilt.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1953 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

1
Sonnabend, 13. Juni 1953


19.00 Uhr

lag Witte auf seinem Bett, halbnackt, das Kissen zerknüllt von seinen ruhelosen Kopfbewegungen. Der Wind, der gegen Abend aufgekommen war, hatte keine Abkühlung gebracht. Der Wind trug den Staub von den Ruinen an der Straße durch das offene Fenster herein, dazu die Straßengeräusche – ein Wochenendsäufer, der aus einer Kneipe grölte, ein paar Weiber, die von Balkon zu Balkon schnatterten.

Möglich, daß er ein Verfahren bekam. Aus Banggartz’ Andeutungen sprach schon die Anklage: Mißachtung von Parteibeschlüssen, Verstoß gegen die Parteidisziplin, Mangel an Vertrauen zur Parteiführung. Und dann würde alles wieder aufgebrüht werden – der leidige Fall Kasischke, der zu einem Fall Witte hochgespielt worden war; seine Bekanntschaft mit Genossen, die aus schwer ersichtlichen Gründen in Verruf geraten waren; bis zurück in die Zeit noch vor Hitler, ins Jahr 1932, wo er sich, seine Jugendsünde, geweigert hatte, Seite an Seite mit den Faschisten Streikposten zu beziehen gegen die sozialdemokratischen Verkehrsarbeiter. Nein, das würden sie wohl doch übergehen; der Verkehrsstreik war inzwischen stillschweigend als Fehler anerkannt worden.

Er entschloß sich aufzustehen. Ein sehr müdes Gesicht, Schatten unter den Augen, starrte ihm aus dem Spiegel entgegen. Die Stunden, die er wach gelegen, hatten einen stumpfen Schmerz im Kopf hinterlassen; er preßte die Fingerspitzen gegen den Schädel; dann strich er sich durch das Haar, das an den Schläfen schon grau wurde. Einundvierzig erst, dachte er; aber da waren Jahre gewesen, die für zehn zählten.

Er rasierte sich, obwohl er keine Pläne für den Abend hatte. Die Wand zum Nebenzimmer war dünn; dort wurde ein Kommodenfach aufgezogen und wieder zugeschoben. Er hörte die Schritte der jungen Frau. Anna hieß sie und war die Schwiegertochter der Frau Hofer, bei der er zur Untermiete wohnte. Manchmal, heute zum Beispiel, war es ihm tröstlich, daß ein anderes menschliches Wesen in der Nähe existierte – hustete oder gähnte oder einen Pantoffel zu Boden fallen ließ.

Natürlich konnte er sich aufmachen und zu Greta gehen. Greta würde überrascht sein, sehr zurückhaltend, würde ihn aber auffordern einzutreten, in die Wohnung, wo es nach Essen roch und nach frischer Wäsche. Die Kinder würden sich freuen, besonders die Kleine, Claudia, die so nach Zärtlichkeit hungerte; der Junge zeigte seine Gefühle weniger, aber auch der hing schon, mehr als gut war, an ihm; arme Kerlchen, beide, der Vater vermißt irgendwo bei Witebsk und die Mutter auf Arbeit bei VEB Merkur. Man würde vom Betrieb sprechen, von den Dingen des täglichen Lebens, vielleicht auch von der Partei, und das Persönliche sorgfältig vermeiden. Greta hatte nie Ansprüche gestellt, nie von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen; dennoch wuchs ihm die Sache über den Kopf; plötzlich war da eine Verantwortung: eine gute Frau und Genossin, warmherzig und verständnisvoll, sie verdiente einen guten Mann.

Witte wusch sich die Reste des Rasierschaums vom Gesicht. Einmal, die Aussprache hatte schon stattgefunden, sagte sie ihm: Teil doch wenigstens deine Sorgen mit mir. Aber wie viele Erklärungen würden nötig sein, ihr begreiflich zu machen, was da zwischen ihm und Banggartz stand. Und warum in Gretas so kürzlich erst ausgerichtete politische Welt neue Unsicherheit bringen? Außerdem würde er sie ja auf dem Betriebsausflug morgen sehen; sehen müssen.

Der Alkohol prickelte auf der Gesichtshaut. Die Hosen müßten mal gebügelt werden, dachte er. Auf dem Weg zur Küche, sich seinen Tee zu brühen, wäre er fast mit der jungen Frau zusammengestoßen. »Entschuldigen Sie«, sagte er. Er wußte nicht, sollte er an ihr vorbeigehen oder noch ein paar Worte mit ihr sprechen – da lebt man Wand an Wand mit Menschen und redet kaum je mit ihnen, vielleicht war es nicht richtig.

Sie lachte: ein angenehmes Lachen. »Die Birne im Korridor ist kaputt«, sagte sie, »meine Schwiegermutter spart überall.« Was ihm in Erinnerung rief, daß sie verheiratet war; allerdings hatte er den Mann noch nie zu Gesicht bekommen.

Seine Augen hatten sich dem Halbdunkel angepaßt. Er konnte erkennen, daß sie die Teedose in seiner Hand und den Teller mit Butter und Brot und Wurst betrachtete.

»Mein Abendbrot«, erläuterte er.

Sie öffnete ihm die Küchentür. Er ging zum Herd und setzte Wasser auf. Sie blieb in der Tür stehen, unschlüssig.

»Haben Sie schon gegessen?« fragte er.

Sie nickte.

»Kann ich Sie zu einer Tasse Tee einladen?«

Sie trat in die Küche. »Soll ich Ihnen nicht helfen?«

»Großer Gott, nein, danke schön.« Er sah die Härchen, die sich an ihrem Nackenansatz kräuselten. »Ich habe sieben Jahre allein gelebt und habe gelernt, wie man Wasser kocht.«

Er holte Geschirr aus dem Küchenschrank, deckte den Tisch für sie beide, sprach vom Wetter, von einem Konzert, das er besucht hatte, leider habe er zu wenig Zeit für derlei Dinge, liebte sie auch Musik, ja, welche, moderne, klassische, und Theater? – was man so redet, bis der Tee gezogen hat.

Dann goß er ein. »Stark genug?«

Sie kostete, nickte.

Vom Wohnzimmer her die nörgelnde Stimme der Witwe Hofer: »Anna – was treibst du da in der Küche?«

Ihr Lächeln erstarb. »Ich trinke Tee.«

Die Witwe kam hereingeschlurft, verquollenes Gesicht, papierne Lockenwickler.

»Guten Abend, Frau Hofer«, grüßte Witte.

»Guten Abend«, erwiderte die Witwe. Und zu der jungen Frau: »Ich dachte, du wolltest spazierengehen!«

»Ich habe mir erlaubt, Ihre Schwiegertochter zum Tee zu bitten«, erklärte Witte.

Die Witwe warf ihm einen scheelen Blick zu. »Sie kriegt bei mir genug zu essen.«

»Ich arbeite, und ich zahle für mein Essen!« Anna war aufgesprungen.

»Das nennst du Arbeit, was du da in deinem HO-Laden machst?« Die Witwe wandte sich an Witte. »Die arbeiten ja heute nicht mehr. Früher, da war das anders.« Und wieder zu Anna: »Aber wenn der Heinz zurückkommt, wird er dir schon die Meinung sagen, und nicht nur zu dem Punkt!«

Sie preßte die Lippen zusammen, ein Schlußstrich, und zog sich zurück, wobei sie etwas über Untermieter murmelte, die einem aufgezwungen wurden; dann warf sie die Tür hinter sich zu.

»Entschuldigen Sie«, sagte Anna. »Eine alte, unzufriedene Frau.«

»Setzen Sie sich doch wieder.« Witte bot ihr Brot an und Butter. »Wir wollen uns nicht den Appetit verderben lassen.«

Sie trank nur Tee.

»Wo ist Ihr Mann eigentlich?« fragte er, seine Scheibe Brot bestreichend.

Sie zögerte. »Ich weiß es nicht.«

»Drüben?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Weiß sie?«

»Ich vermute. Aber sie sagt es mir nicht.«

»Jedenfalls vertritt sie seine Interessen.«

»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.«

»Ich war wohl sehr ungeschickt.« Er blickte sie an. »Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als mischte ich mich in Ihre Angelegenheiten.«

Sie hatte eine Stirn, die zu hoch war für den Rest ihres Gesichts, und viel zu große dunkelbraune Augen, und weiche volle Lippen, und ein kleines Kinn, wohlgerundet. Sonderbare Proportionen, dachte er, ein Gesicht, das einen nur schwer wieder losließ.

»Schönen Dank für den Tee«, sagte sie.

»Sie haben ja nicht mal ausgetrunken.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen doch helfen.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern stellte Teller und Tassen aufeinander und trug sie zum Abwaschbecken.

Schließlich wuschen sie beide das Geschirr, trockneten es, stellten es in den Schrank. Von dem dumpfen Druck in seinem Kopf war nichts geblieben, nur war ihm die Zunge auf einmal wie ausgetrocknet, und er befürchtete, seine Stimme könnte heiser klingen.

»Und was jetzt«, sagte er, tatsächlich heiser, »nachdem wir uns gemeinsam häuslich betätigt haben?«

Sie hängte das Geschirrtuch an den Haken.

»Wollen wir auch gemeinsam spazierengehen?«

»Eine Weile wird es wohl noch hell sein«, sagte sie.

An der Wohnungstür trafen sie sich und gingen nebeneinander die Treppen hinunter. Er bemühte sich, sie nicht merken zu lassen, daß ihm sein Bein wieder zu schaffen machte. Er haßte es, mit Rücksicht behandelt zu werden, konnte aber nicht verhindern, daß sie ihren Schritt verlangsamte.

»Das Geländer müßte auch endlich in Ordnung gebracht werden«, bemerkte er. »Das ganze Haus verfällt und verfault.«

»Der Krieg …«, sagte sie gleichmütig.

»Man kann nicht alles auf den Krieg schieben«, widersprach er. »Sehr vieles liegt an uns selber!« Und dachte: was predige ich schon wieder.

Dann war ein Hof zu überqueren, vorbei an den Teppichstangen und den Aschkästen, aus denen es roch. Ein Torweg führte unter den Resten des Vorderhauses hindurch; auf den Trümmern wuchsen Sträucher und sogar eine junge Birke.

Ihre Hand legte sich leicht auf seinen Ellbogen. »Ihr Bein«, sagte sie. »Sie waren verwundet?«

Er sah den Karren vor sich, mit Steinen beladen, der sich den ausgemergelten Händen entriß und auf ihn zugerollt kam, im Lager Mauthausen. »Nein«, sagte er, »gebrochen. Der Knochen ist schlecht verheilt, sagen die Ärzte.«

Nach einer Weile fragte sie: »Warum leben Sie so allein?«

»Meine Frau ist gestorben«, sagte er, schroffer als beabsichtigt. Greta erwähnte er nicht.

»Waren Sie lange verheiratet?«

»Wenn Sie meinen: habe ich...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2021
Reihe/Serie Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 17. Juni 1953 • 1953 • Arbeiter • Arbeiteraufstand • Aufstand • DDR • Deutschland • eBooks • Genosse • Gesamtausgabe • Kommunismus • Ost-Berlin • Roman • Romane • Sozialgeschichte • Volksaufstand • Werkausgabe
ISBN-10 3-641-27834-1 / 3641278341
ISBN-13 978-3-641-27834-2 / 9783641278342
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