Outpost - Der Posten (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
416 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28270-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Outpost - Der Posten - Dmitry Glukhovsky
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Russland in der nahen Zukunft. Nach dem Krieg sind ganze Landstriche verseucht, die Flüsse vergiftet. Die einzelnen Städte haben kaum noch Kontakt zur Regierung in Moskau. Schon seit Jahren harrt Jegor im Außenposten in Jaroslawl aus. Sein Stiefvater Polkan, der Kommandant des Postens, macht ihm das Leben schwer, und die schöne Michelle interessiert sich nicht für ihn. Jegor träumt von der Welt jenseits der Eisenbahnbrücke, auf der anderen Seite des Flusses. Doch schon seit Jahrzehnten ist niemand mehr über diese Brücke gekommen. Bis heute ...

Dmitry Glukhovsky ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. 1979 in Moskau geboren, machte er seinen Abschluss an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er schreibt für die internationale Presse, darunter THE GUARDIAN, LA LIBERATION, DIE ZEIT und NOVAYA GAZETA. Glukhovsky ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter der Welterfolg »METRO 2033«. Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt. Als entschiedener Kritiker des Putin-Regimes wurde Dmitry Glukhovsky zum »ausländischen Agenten« erklärt und 2023 von einem Moskauer Gericht in Abwesenheit zu 8 Jahren Haft verurteilt. Er lebt im Exil.

Instagram: @glukhovsky, Twitter: @glukhovsky, Facebook: @glukhovskybooks

ZWEI

Jegor kommt über die Asphaltstraße zum Checkpoint gerast, springt von seinem Brett und schlägt sich durchs Gebüsch zu den Gleisen, wobei er haufenweise graue Kletten von den verdorrten Pflanzen mitnimmt.

»Haltet durch, Männer! Ich komme! Ich bin hier!«

Zum Glück war er in der Nähe, als beim Checkpoint das Geballer losging.

Zum Glück war er nicht schon beim Wachtposten. Gerade noch rechtzeitig! Oder?

Sobald er endlich an den Gleisen ist, krallt Jegor die Hand noch fester um den Schaft, blickt hektisch um sich – wer hat geschossen, wer hat angegriffen?!

Die Männer beim Checkpoint haben die Gewehre abgesetzt.

Sie starren gebannt in den Nebel, wie gelähmt – jetzt wirklich.

Wankend, gebeugt, bewegt sich etwas … jemand auf sie zu. Er geht und … nein, er heult nicht, er singt. »Heeerr, erbaaaarme dich …«

Jetzt sind die Worte deutlich zu hören; warum sie beim ersten Mal nicht zu verstehen waren, sieht man jetzt auch.

Er trägt eine zerschlissene schwarze Kutte, die auf der Brust entzwei gerissen ist. Die Fetzen blähen sich auf wie ein Segel und verzerren seine Umrisse. Ein schweres Eisenkreuz tanzt an einer Kette, prallt bei jedem Schritt von den Rippen ab, holt aus und schlägt wieder dagegen.

»Heeerr, erbaaaarme dich …«

Was im Nebel wie der riesige Kopf eines Ungeheuers ausgesehen hat, ist ein schmutziges Kirchenbanner, auf dem das handgemalte Antlitz eines weißbärtigen Greises prangt – erschöpft, leidend, die Brust von Bleikugeln durchlöchert.

Während sich die seltsame Gestalt die letzten Meter zum Schlagbaum schleppt, flüstern die Männer.

»Wie kommt der über die Brücke?«

»Wie viele Kugeln waren das?! Und der läuft einfach weiter …«

»Heeerr, erbaaaarme dich!«

Da – endlich sieht man alles.

In der einen Hand baumelt eine uralte grüne Gasmaske mit schmutzigen Gläsern: Die muss er getragen haben, als er über die Brücke ging. So hat er es geschafft. Durch den Schlauch klang sein Gesang wie das Geheul einer Bestie.

Sein Gesicht und die Arme sind von Wunden übersät, die Brust voller Schrammen. Die milchig weißen Augen quellen aus den Höhlen. Er blinzelt nicht. An den Füßen trägt er zerschlissene Turnschuhe, blutgetränkt. Der Bart ist zerzaust. Viel mehr ist von seinem Gesicht nicht zu erkennen – es ist überzogen von einer Kruste aus Dreck und Schorf.

»He! Wer bist du?! Woher kommst du?«

Der Mann antwortet nicht.

Fünf Schritte vor den Wachtposten die sich hinter der Brustwehr drängen, bleibt er wie angewurzelt stehen, lässt den steifen Arm mit dem Banner sinken und steckt es in den Schotter der Eisenbahngleise.

Dann sinkt er kraftlos auf die Knie und kippt zur Seite.

Vom Wachtposten her kommen Leute angerannt – Polkan und die Patrouillen. Sie scharen sich um den Eindringling und durchsuchen ihn. Er ist offenbar unbewaffnet. Sie packen ihn an Armen und Beinen und tragen ihn zum Posten. Polkan lässt ihn auf die Krankenstation bringen.

In der allgemeinen Aufregung nähert sich Jegor der Brücke so weit er kann – bis der Nebel in den Augen zu brennen und in der Kehle zu kratzen beginnt. Er blickt in das glucksende grüne Gebräu, horcht hinein …

Mal scheint es, als würde dort drüben jemand murmeln, dann wieder – ein Röcheln wie von einem Erstickenden. Aber außer diesem seltsamen Gast durchbricht niemand mehr die Nebelwand.

»Jegor! Ab nach Hause mit dir!«

Eine brennende Ohrfeige lässt ihn einen Moment lang taub werden.

Polkan packt ihn am Nacken, zerrt ihn mit sich.

Jegor flucht leise, aber Polkan jetzt zu provozieren, wagt er nicht. Egal, dafür kann er sich später revanchieren.

Polkan selbst zögert; er bleibt, nachdem er alle zum Teufel gejagt hat, noch kurz an der Brücke stehen. Dann spuckt er wütend in ihre Richtung aus und geht nach Hause …

Faina, die Chefärztin und überhaupt die einzige Ärztin der Krankenstation auf dem Posten, nimmt den Hörer ab. »Ja, Sergej Petrowitsch. Faina hier. Nein, immer noch bewusstlos. Eine Vergiftung. Die Gasmaske war uralt, er hat zu viel eingeatmet. Er stammelt nur wirres Zeug, man versteht kein Wort … Mache ich. Ich lasse ihn nicht aus den Augen … Danke … ja, verstanden.«

Die Betten der Krankenstation sind leer, nur auf einem liegt unter einer Flanelldecke zusammengerollt der dürre, ausgemergelte Mann. Seine Hände sind zerkratzt, die Beine von blauen Flecken übersät, die Arme zerschnitten, der Rücken vor lauter Schürfwunden angeschwollen. Man könnte meinen, er sei eine einzige blutende Wunde, ein einziges Geschwür. Als man ihn eingeliefert hat, war davon noch nichts zu sehen, so dick war die Dreckkruste, die seinen Körper und sein Gesicht bedeckte.

Nun wurde die Kruste abgewaschen, und man kann das Alter des Mannes annähernd schätzen: Knapp über dreißig dürfte er sein. Genauer lässt es sich nicht bestimmen – sein Gesicht ist wettergegerbt und zu einer Grimasse verzogen. Aber im dünnen, offenbar noch nie geschnittenen Bart ist kein einziges graues Haar. Der Bart ist hellbraun, genau wie sein Haar; welche Farbe seine Augen haben, kann die Ärztin nicht sagen, weil er sie noch kein einziges Mal geöffnet hat.

Seine Augäpfel zucken unter den dünnen, von roten Äderchen durchzogenen Lidern. Er wälzt sich im Bett und stöhnt, streitet mit jemandem, schreit erschrocken auf und murmelt wieder zusammenhangloses Zeug. Dann befolgt Faina Polkans Anweisungen und beugt sich sofort über den Schlafenden. »Wie heißt du denn, hm?«, fragt sie sanft und geduldig.

Er reagiert nicht. Nach einer Weile scheint allerdings doch etwas zu ihm durchzudringen, und er beginnt zu stammeln, verstummt aber gleich wieder. Faina hört angestrengt zu, seufzt und versucht es weiter. »Woher kommst du?«

Ihre Frage schafft es nicht, die Membran des Schlafs zu durchdringen, ihn aus seiner Ohnmacht zu holen. Sein Körper wird ganz steif, dann rollt er sich zusammen, zieht Arme und Kopf ein, will ganz unter der Decke verschwinden. Immer wieder wird er vom Fieber geschüttelt.

Faina hat mit Mitleid mit ihm, in den paar Tagen hat sie ihn fast lieb gewonnen. Sie hat ihn insgeheim Aljoscha getauft und entschieden, dass er kein schlechter Mensch ist, sondern bloß Schlimmes durchgemacht hat und unter Schock steht. Faina merkt, dass Aljoscha Angst hat, aber sie darf ihn nicht in Ruhe lassen – Polkan hat ihr befohlen, nicht nachzugeben, bis der Eindringling zu Bewusstsein kommt oder sich im Schlaf verrät. »Was siehst du?«

Irgendetwas sieht er, aber er will es ihr nicht sagen. Er windet sich nur immerzu im Bett. Faina streicht ihm über die heiße, hohe Stirn, entwirrt die verklebten Haarsträhnen und redet ihm gut zu. »Ruhig, ganz ruhig …«

Er scheint auf sie zu hören, beruhigt sich.

Die Ärztin setzt Teewasser auf, holt ein Sudoku-Heft aus dem Schrank – ein Weihnachtsgeschenk, das vom Schimmel noch fast verschont ist – und macht sich ans Rätseln.

Beim dritten Sudoku unterbricht sie ein Geräusch aus dem Krankenzimmer. Sie springt auf und läuft zum Bett ihres einzigen Patienten.

Die Laken sind zerwühlt, das Fieber schüttelt ihn, mit einer Hand umklammert er das Kreuz an seiner Brust – so fest, dass sich seine Finger weiß gefärbt haben.

Seine Augen sind offen.

Polkan hat nicht gerade freiwillig auf der Krankenstation angerufen. Ihm könnte dieser Pope ja egal sein. Aber seit er Moskau informiert hat, dass nach all den Jahren zum ersten Mal jemand über die Brücke gekommen ist, herrscht am anderen Ende der Leitung Hochbetrieb.

Die direkte Verbindung nach Moskau – ein beiger chinesischer Telefonapparat mit Ringelschnur und dem ausgeblichenen Aufkleber mit dem Doppeladlers vor der Krone – klingelt von früh bis spät. Der Posten ist für den Kabelabschnitt bis zum nächsten Bahnhof zuständig. Ab und zu wird er geklaut oder von Tieren durchgenagt, aber meistens ist auf die Verbindung Verlass. Kontaktaufnahme ist nur über Kabel erlaubt, Funkverbindungen sind seit dem Krieg verboten, damit der Feind nicht mithört. Früher kamen Anrufe aus Moskau allerdings ziemlich selten – wenn überhaupt, dann nur im äußersten Notfall. Moskau war es ganz recht, dass auf dem Posten nichts los war.

Polkan schaut auf die Uhr: zehn Uhr morgens.

Das Telefon klingelt auf die Minute genau.

Er geht ran. »Posten Jaroslawl!«, kläfft er wie ein Wachhund. »Pirogow am Apparat! Ich höre!«

»Pokrowski hier. Gibt’s was Neues?«

»Nein, Konstantin Sergejewitsch. Er ist immer noch bewusstlos.«

»Sind unsere Männer eingetroffen?«

»Welche Männer, Konstantin Sergejewitsch?«

»Sie wissen von nichts? Immer diese Geheimnistuerei. Ein Trupp ist unterwegs zu euch. Er müsste jeden Moment eintreffen.«

»Geht es um unseren, Sie wissen schon – Gast?«

»Das erfahren Sie früh genug.«

»Zu Befehl.«

»Also, bereiten Sie den Männern einen guten Empfang. Und kein unnötiges Geschwätz.«

»Verstanden.«

»Gut, Ende.«

»Einen Moment noch, Konstantin Sergejewitsch. Eine Frage, wenn Sie gestatten. Wir warten hier schon seit einer Weile auf die Lieferung … Die Fleischkonserven gehen uns aus. Und das Getreide wird knapp …«

»Und was hat das mit mir zu tun? Klären Sie das mit der zuständigen Abteilung. Dem Versorgungsdienst. Was soll ich da machen?«, blafft es missmutig aus dem Hörer.

Polkan wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Bei den...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Reihe/Serie Outpost-Romane
Outpost-Romane
Sprache deutsch
Original-Titel Outpost / ПОСТ
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Apokalypse • Atomkrieg • diezukunft.de • eBooks • Jugendlicher Held • Metro 2033 • Moskau • Postapokalypse • Russland • Umweltzerstörung
ISBN-10 3-641-28270-5 / 3641282705
ISBN-13 978-3-641-28270-7 / 9783641282707
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