Tiefe Wasser zwischen uns (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-27803-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tiefe Wasser zwischen uns -  Ayesha Harruna Attah
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Ghana 1892: Die Zwillingsschwestern Hassana und Husseina sind zehn Jahre alt, als ihr Dorf von Sklavenhändlern überfallen und niedergebrannt wird, obwohl Sklaverei bereits verboten ist. Dieses traumatische Ereignis ist jedoch nicht das Ende, sondern der Beginn ihrer Geschichte - eine Geschichte, die sie an fremde Orte und in unbekannte Kulturen führen wird. Die Mädchen werden getrennt und entwickeln sich in Brasilien und an der Goldküste Westafrikas zu ganz unterschiedlichen jungen Frauen. Trotz allem verbindet ein unsichtbares Band die Zwillinge, selbst über tiefe blaue Wasser hinweg. Doch wird das Schicksal sie jemals wieder wirklich zusammenführen?

Ayesha Harruna Attah wurde in Ghana geboren, studierte in den USA u.a. an der Columbia University und der NYU und lebt heute mit ihrer Familie im Senegal. Ihr Roman »Die Frauen von Salaga« ist von dem Schicksal ihrer Ururgroßmutter inspiriert.

2


Hassana

Ich könnte damit beginnen, wie mein Baba nach Dschenne aufgebrochen ist, um dort seine Schuhe zu verkaufen, und nie mehr zurückkam. Oder damit, wie unser Dorf in Schutt und Asche gelegt wurde und dass ich nicht weiß, was aus meiner Mutter und meiner Großmutter geworden ist. Damit, wie meine ältere Schwester Aminah und ich unseren Bruder in einer Menschenkarawane verloren haben. Oder aber ich könnte vom schlimmsten Tag meines Lebens erzählen, als mir meine Zwillingsschwester entrissen wurde. Doch ich werde mit dem Moment beginnen, ab dem ich nicht länger zuließ, dass andere bestimmen, was ich tue, wohin ich gehe oder was mit mir geschieht. Ich werde mit dem Moment beginnen, in dem ich mich befreit habe.

1892 – ich war damals zehn – war ich gezwungen, auf einem Stück Land zu leben, wo die Bäume so dicht nebeneinander wuchsen, dass es mir die Sprache verschlug. Wofa Sarpong, ein Mann, der gerade mal so groß war wie ich, hatte Aminah und mich gekauft und uns mit in sein Haus auf einer Lichtung genommen, die von bis zu den Wolken reichenden Bäumen gesäumt wurde. Jedes Mal, wenn ich an ihnen emporschaute, fragte ich mich, wie die Bäume es bloß schafften, so groß zu werden, ohne umzufallen, und jeden Tag drückte der Wald meine Brust platt wie einen leeren Trinkschlauch aus Kuhleder. Nacht für Nacht wachte ich schweißgebadet und mit Herzrasen auf, jedes Mal völlig außer Atem. Ich war ein Kind der Savanne, der offenen Weite mit niedrigen Bäumen. Am Horizont konnten wir die Kamele der Karawanen näher kommen sehen. Die Welt erschien uns riesig und grenzenlos. Der Wald hingegen ließ die Welt schrumpfen und damit mein ganzes Leben.

Es gibt nichts, was ich an Wofa Sarpong und seiner Familie mochte. Höchstens, dass Aminah damals noch bei mir war. Sie schlug sich etwas wackerer als ich und meinte, die Speisen von besagtem Wofa Sarpong seien recht schmackhaft, ihr Tuo, das sie Fufu nannten, sei süßer als unseres. Sie achtete darauf, dass ich ein paar Schlucke von ihren Suppen mit Fisch und Pilzen nahm, aber genauso gut hätte ich Baumrinde essen können. Alles lag mir schwer im Magen, alles war ohne jeden Geschmack. Ich aß, weil Aminah es mir befahl. Aber ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.

Als sich mein Leben von Grund auf änderte, war gerade Hauptsaison bei der Kolaernte. Wie immer befahl uns Wofa Sarpong, in mehr Kolabäume zu klettern, als ich zählen konnte. Wir Jüngeren – seine Kinder und diejenigen, die er gekauft hatte – huschten daran hinauf wie Eidechsen, immer auf der Suche nach Plätzen, an denen wir weit genug voneinander entfernt waren, um so viele Nüsse wie möglich ernten zu können. Wofa Sarpong behauptete, Kola sei ein Geschenk Gottes, und Gott werde wütend, wenn wir nicht nähmen, was er uns schenke. Ich war wütend auf meinen Gott Otienu, weil er mich an einen solchen Ort geschickt hatte, ohne dass ich etwas falsch gemacht hätte. Manchmal fragte ich mich, wie Wofa Sarpongs Gott wohl war. Er schien ihn mit einer Fülle an Kolanüssen zu segnen. Ich werde nie vergessen, wie sehr ich die Arme recken musste, um sie ganz unten abschneiden zu können, während ich mit nackten Füßen gefährlich auf den Ästen balancierte und jedes Mal befürchtete hinunterzufallen. Ich fiel nie und schaffte es, meine Angst so weit in Schach zu halten, dass ich weiterhin nach den Früchten greifen konnte, die ich Kwesi, Aminah und den anderen Älteren zuwarf. Die legten sie in große Körbe, die sie später tragen würden. Tag für Tag arbeiteten wir vor- und nachmittags, ohne dass sich Wofa Sarpong auch nur einmal bedankt hätte.

Wenn er »Fertig!« rief, hieß das, dass wir wieder runterklettern sollten. Wir ließen unsere Messer in die großen Körbe fallen, auf die Kolanüsse mit ihren höckrigen Schalen. Wir liefen auf einem Pfad zurück, der alle paar Schritte von Ameisen gekreuzt wurde. Ich hätte den Ameisen tagelang dabei zuschauen können, wie sie eine nach der anderen ihrer Arbeit nachgingen und wie sie, sobald eine von ihnen in Schwierigkeiten geriet, sich gegenseitig zu Hilfe eilten. An diesem Tag wurde ich unglaublich traurig, als ich mir vor Augen führte, wie sogar solch winzige Geschöpfe freundlich zueinander sein können, während Leute wie Wofa Sarpong und die Männer, die uns entführt hatten, von nichts als Grausamkeit erfüllt waren.

Wir erreichten Wofa Sarpongs aus vier Langhütten bestehendes Gehöft, in dem er, seine Frauen und seine kleinen Kinder lebten. Zwei standen abseits, sie waren für seine erwachsenen Kinder und für diejenigen, die er gekauft hatte. Unweit der Tür seiner Wohnstatt befand sich eine kleine Hütte, in der Töpfe, Mörser und Stößel aufbewahrt wurden. Während Aminah mit ihrem Korb vorneweg ging, suchte ich diese für sich stehende Hütte auf und nahm einen schwarzen Tontopf, um ihn Wofa Sarpongs erster Frau zu bringen. Ich fühlte mich schwer, so als hätte man mir den Amboss eines Schmieds auf den Rücken gebunden. Wofa Sarpongs Frau schaufelte zwei glänzende Tuo-Klöße in den Topf und reichte die Schale ihrer Nebenfrau, die Kellen mit Palmsuppe und zwei Stückchen Fisch dazugab.

»Mach nicht so ein Gesicht!«, befahl sie.

Normalerweise hätte ich ein halbherziges Lächeln aufgesetzt, damit sie mich in Ruhe ließen, aber an diesem Tag brauchte ich es gar nicht erst zu versuchen.

Ich stellte den Topf Aminah und den anderen Mädchen hin, die ihre Finger in den Eintopf steckten und zu essen begannen. Noch bevor ich mich entscheiden konnte, ob ich es ihnen gleichtun wollte oder nicht, hielt Aminah den Tuo bereits an meine Lippen.

»Iss deinen Fufu«, sagte sie.

Ich weigerte mich, deren Worte zu benutzen. Ich würde das nicht Fufu nennen wie Aminah.

Ich nahm den Klumpen gelbe Kochbanane und Maniok in den Mund, und es schmeckte nach nichts. Sekunden später hatte ich Sodbrennen. Mir würde bloß alles wieder hochkommen, wenn ich mich weiterhin zum Essen zwang, deshalb stand ich auf und setzte mich unter den Katappenbaum. Ich wollte nur noch, dass das alles endlich aufhörte.

Es war jetzt ungefähr ein Jahr her, dass man uns hergebracht hatte, und der Lärm jener Nacht ließ mich immer noch zusammenzucken. Wofa Sarpong schlich häufig in unser Zimmer, um Aminah zu besuchen, und wenn er wieder weg war, lag ich lange wach und lauschte auf das Weinen meiner Schwester neben mir. In dieser Nacht schlief ich jedoch wie ein vollgefressener Python, obwohl ich wegen der auf mir lastenden Traurigkeit nicht das Geringste gegessen hatte.

Wir sind von Wasser umgeben. Darin spiegelt sich ein Blau, das noch intensiver ist als das des Himmels. Wir sind von Menschen umgeben, die aufs Wasser schauen. Das erstreckt sich hinter uns bis in alle Winkel der Erde und noch darüber hinaus. Stoffe bauschen sich wie riesige weiße Tücher im Wind, und wir stehen auf einer hölzernen Plattform. Vor uns liegt Land, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt, mit Bäumen, die an Palmen erinnern und sich im Wind biegen. Die Bäume werden zunehmend größer. Wir bewegen uns.

Ich wachte auf, klatschnass, so als hätte man einen Eimer Wasser über mir ausgekippt. Der Wald hatte mir nicht nur die Sprache verschlagen, sondern mich auch bis in meine Träume verfolgt, das enge Band zwischen meiner Schwester und mir durchtrennt. Als unser Baba verschwand, wussten wir, dass er noch lebte, weil sowohl Husseina als auch ich träumten, dass er in einem Zimmer war. Ich sah die Dinge aus einer Perspektive und sie aus einer anderen. Wo ich ein Gesicht erkannte, erkannte sie einen Rücken. Gemeinsam nahmen wir das Ganze wahr. Der Wald hatte dafür gesorgt, dass unsere Träume nicht mehr zueinanderfanden. Bis jetzt …

Ich rüttelte Aminah wach und erzählte ihr von dem Traum.

»Das sind ihre Träume«, sagte ich. »Husseina lebt.«

Die nächsten Tage waren anders. Die Traurigkeit ließ nach, wich einer verwirrenden Mischung aus Aufregung und furchtbaren Bauchschmerzen. Die wurden doppelt so schlimm, wenn ich die Wäsche der Sarpongs wusch und in die Kolabäume kletterte. Ich konnte weder stillsitzen noch mich konzentrieren, schon gar nicht, als Wofa Sarpong uns antreten ließ und uns etwas sagte, auch nicht, als Aminah mich ansprach. Meine Zwillingsschwester lebte, sie war an einem Ort, der vom blauesten Wasser umgeben war, das ich je gesehen hatte. Einerseits wollte ich losrennen und alle umarmen, die Neuigkeit verkünden. Andererseits wurde ich von Angst regelrecht überrollt – was, wenn wir uns nie mehr wiedersehen würden und nur noch durch unsere Träume miteinander verbunden wären? Würde ich damit leben können? Die Frage quälte mich und rumorte wild in meinen Eingeweiden.

Eines Nachmittags rief Wofa Sarpong, in Begleitung eines Mannes, den ich noch nie auf dem Gehöft gesehen hatte, alle im Hof zusammen, wo seine Kinder Stöcke und Steine versteckten und wir gerade im Sitzen Hirse lasen. Der Fremde trug kurze Hosen, die von einem Lederband über der Taille zusammengehalten wurden. Er trug auch einen weißen Hut und marschierte auf und ab, während er darauf wartete, dass Wofa Sarpong uns Aufstellung nehmen ließ. Der Mann ging herum und fragte alle nach ihrem Namen, doch ich hörte kaum hin. Ich beobachtete Rüsselkäfer zwischen den Steinen und konnte nicht aufhören, an Husseina zu denken.

Jemand stieß mich in die Seite.

Der Mann mit den kurzen Hosen und dem Hut fragte nach meinem Namen.

»Hassana«, erwiderte ich.

Wofa Sarpong sah mich an, als hätte ich ihm das letzte Stück Fisch aus der Suppe geklaut.

Der Mann fragte mich noch einmal.

»Hassana.« Diesmal sagte ich es ganz bewusst. Denn mir fiel wieder ein, dass Wofa...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2021
Übersetzer Christiane Burkhardt
Sprache deutsch
Original-Titel The Deep Blue Between
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Afrika • #blacklivesmatter • BlackLivesMatter • Brasilien • Die Frauen von Salaga • eBooks • Ghana • Historische Romane • Lebensreise • Schwestern • Sklaverei • Zwillinge
ISBN-10 3-641-27803-1 / 3641278031
ISBN-13 978-3-641-27803-8 / 9783641278038
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