Billy ist Kriegsveteran und verdingt sich als Auftragskiller. Sein neuester Job ist so lukrativ, dass es sein letzter sein soll. Danach will er ein neues Leben beginnen. Aber er hat sich mit mächtigen Hintermännern eingelassen und steht schließlich selbst im Fadenkreuz. Auf der Flucht rettet er die junge Alice, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Billy muss sich entscheiden. Geht er den Weg der Rache oder der Gerechtigkeit? Gibt es da einen Unterschied? So oder so, die Antwort liegt am Ende des Wegs.
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Kapitel 1
1
Billy Summers sitzt in der Hotelhalle und wartet darauf, abgeholt zu werden. Es ist Freitagnachmittag. Er hat ein Comictaschenbuch aus der Reihe Archie’s Pals ’n’ Gals aufgeschlagen vor sich, ist in Gedanken aber bei Émile Zola und dessen drittem Roman, mit dem er schließlich den Durchbruch als Autor erzielt hat: Thérèse Raquin. Er findet, dass es sich dabei eindeutig um das Buch eines jungen Mannes handelt. Zola, denkt er, hat gerade erst den Zugang zu etwas gefunden, was sich später als tiefe, fabelhafte Goldgrube erweisen sollte. Er denkt, dass Zola eine albtraumhafte Version von Charles Dickens war – oder vielmehr ist. Das wäre ein guter Ausgangspunkt für einen Essay, findet er. Nicht dass er je einen geschrieben hätte.
Um zwei Minuten nach zwölf geht die Tür auf, und zwei Männer betreten die Hotelhalle. Der eine ist groß und hat das schwarze Haar zu einer Schmalzlocke im Stil der Fünfziger gestylt. Der andere ist untersetzt und hat eine Brille auf der Nase. Beide tragen Anzug. Alle von Nicks Leuten tragen Anzug. Den Großen kennt Billy von drüben im Westen her. Er ist schon lange bei Nick und heißt Frank Macintosh. Wegen seiner Tolle nennen manche von Nicks Leuten ihn Frankie Elvis oder – weil er inzwischen eine winzige kahle Stelle am Hinterkopf hat – Elvis den Kahlen. Allerdings nicht, wenn er das mitbekommen könnte. Den anderen kennt Billy nicht. Der muss aus dem Ort hier sein.
Macintosh streckt Billy die Hand hin. Billy erhebt sich und schüttelt sie.
»He, Billy, ist ’ne Weile her. Schön, dich zu sehen.«
»Dich auch, Frank.«
»Das ist Paulie Logan.«
»Hi, Paulie.« Billy schüttelt dem Untersetzten die Hand.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Billy.«
Macintosh nimmt Billy das Archie-Taschenbuch aus der Hand. »Wie ich sehe, liest du immer noch Comics.«
»Genau, stimmt«, sagt Billy. »Ich mag die halt. Also die lustigen. Die mit den Superhelden lese ich auch manchmal, aber die mag ich nicht so.«
Macintosh blättert durch die Seiten und zeigt Paulie Logan dann etwas. »Guck dir mal die Puppen hier an. Mann, auf die könnte ich glatt abwichsen.«
»Das sind Betty und Veronica.« Billy nimmt das Comicbuch wieder an sich. »Veronica ist die Freundin von Archie, obwohl Betty das gern wär.«
»Liest du auch richtige Bücher?«, fragt Logan.
»Manchmal, wenn ich lange unterwegs bin. Zeitschriften auch. Aber hauptsächlich Comics.«
»Gut, gut«, sagt Logan und zwinkert Macintosh zu. Nicht gerade dezent, weshalb Macintosh die Stirn runzelt, aber Billy schert sich nicht darum.
»Bereit für einen kleinen Ausflug?«, fragt Macintosh.
»Klar.« Billy schiebt das Buch in die Gesäßtasche. Archie und seine vollbusigen Freundinnen. Das wäre auch ein Thema für einen Essay. Darüber, wie tröstlich es ist, wenn Frisuren und Einstellungen sich nicht ändern. Über Riverdale und darüber, dass die Zeit dort stillsteht.
»Na, dann los«, sagt Macintosh. »Nick wartet schon.«
2
Macintosh sitzt am Steuer. Logan hat sich freiwillig hinten reingesetzt, weil er der Kleinste sei. Billy hätte erwartet, dass sie nach Westen fahren, weil da der noble Teil von Red Bluff liegt, und Nick Majarian lebt gern auf großem Fuß, egal ob zu Hause oder anderswo. Und in Hotels übernachtet er grundsätzlich nicht. Aber stattdessen fahren sie nach Nordosten.
Zwei Meilen vom Stadtzentrum entfernt kommen sie in ein Viertel, das Billy als untere Mittelschicht einschätzt. Drei bis vier Stufen besser als der Trailer-Park, wo er aufgewachsen ist, aber alles andere als nobel. Hier stehen keine großen, gut geschützten Villen, sondern Häuser im Ranchstil mit kleinen Vorgärten, in denen sich Rasensprenger drehen. Die meisten sind einstöckig und gut in Schuss, aber einige müssten frisch angestrichen werden, und auf manchen Rasenflächen breitet sich Fingerhirse aus. Billy sieht ein Haus mit einem zerbrochenen Fenster, das mit einem Stück Pappkarton gesichert ist. Vor einem anderen sitzt ein dicker Mann in Bermudashorts und Trägerunterhemd auf einem Gartensessel von Costco oder Sam’s Club. Er trinkt Bier und beobachtet sie beim Vorüberfahren. Eine Weile lang waren die Zeiten in Amerika jetzt gut, aber vielleicht wird sich das auch wieder ändern. Billy kennt solche Wohnviertel. Sie sind wie ein Barometer, und das hier ist im Sinken begriffen. Die Leute, die hier wohnen, haben Jobs, bei denen man eine Stechuhr bedient.
Macintosh biegt in die Einfahrt eines zweistöckigen Hauses mit einem ungepflegten Rasen ein. Es ist in einem matten Gelb gestrichen und ganz in Ordnung, sieht jedoch nicht wie ein Ort aus, wo Nick Majarian sich niederlassen würde, und wenn auch nur für ein paar Tage. Es sieht aus, als würde hier ein Mechaniker oder ein kleiner Flughafenangestellter mit seiner Rabattcoupons sammelnden Frau und zwei Kindern leben, jeden Monat seine Hypotheken abzahlen und sich am Donnerstagabend mit Bier und Bowling vergnügen.
Logan zieht Billys Tür auf. Billy legt sein Comicbuch aufs Armaturenbrett und steigt ebenfalls aus.
Macintosh geht als Erster die paar Stufen zur Veranda hoch. Draußen ist es heiß, drinnen klimatisiert. Nick Majarian steht in dem kurzen, zur Küche führenden Flur. Er trägt einen Anzug, der wahrscheinlich beinah so viel wie eine monatliche Hypothekenzahlung für das Haus gekostet hat. Sein schütteres Haar ist an den Kopf gekämmt, von Schmalzlocke keine Spur. Das Gesicht ist rundlich und von der Sonne in Vegas gebräunt. Er ist korpulent, aber als er Billy in die Arme nimmt, fühlt sein vorstehender Bauch sich bretthart an.
»Billy!«, ruft Nick aus und küsst ihn auf beide Wangen. Herzhafte Schmatzer sind das. Im Gesicht trägt Nick ein breites, strahlendes Grinsen zur Schau. »Billy, Billy, Mann, ist richtig schön, dich zu sehen!«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Nick.« Billy blickt sich um. »Normalerweise wohnst du nobler als hier.« Er hält kurz inne. »Nichts für ungut.«
Nick lacht. Er hat ein wohltönendes, ansteckendes Lachen, das zu seinem Grinsen passt. Macintosh schließt sich ihm an, während Logan lediglich lächelt. »Ich hab ein Haus im Westen. Vorübergehend. Betätige mich sozusagen als Haushüter. Im Vorgarten ist ein Springbrunnen, auf dem in der Mitte ein kleiner nackter Kerl steht. Wie nennt man so was noch …?«
Eine Putte, denkt Billy, hält jedoch den Mund. Er lächelt einfach weiter.
»Na egal, ein Wasser pinkelnder Knabe halt. Wirst schon noch sehen, keine Angst. Nein, das Haus hier ist nicht meins, Billy. Es ist deins. Falls du dich entscheidest, den Job zu übernehmen.«
3
Nick führt Billy durchs Haus. »Voll möbliert«, sagt er, als wollte er es an den Mann bringen. Was er wohl irgendwie gerade tut.
Im Obergeschoss sind drei Schlafzimmer und zwei Bäder, von denen das zweite kleiner und wahrscheinlich für die Kinder gedacht ist. Das Erdgeschoss besteht aus Küche, Wohnzimmer und einem Esszimmer, das so klein ist, dass man es eigentlich als Essecke bezeichnen müsste. Der größte Teil des Kellers ist zu einem langen, mit Teppichboden belegten Raum umgewandelt worden, wo am einen Ende ein großer Fernseher und am anderen eine Tischtennisplatte stehen. An der Decke sind Schienenleuchten angebracht. Nick bezeichnet das Ganze als Hobbyraum, und hier setzen sie sich zusammen.
Macintosh erkundigt sich, ob jemand etwas trinken wolle. Zur Auswahl stünden Mineralwasser, Bier, Limonade und Eistee.
»Ich nehme einen Arnold Palmer«, sagt Nick. »Halb und halb. Viel Eis.«
Hört sich gut an, sagt Billy. Bis die Getränke kommen, plaudern sie miteinander. Über das Wetter und wie heiß es hier unten in den nördlichen Südstaaten ist. Nick will wissen, wie Billys Reise war. Gut, sagt Billy, erklärt jedoch nicht, wo er losgeflogen ist, und Nick fragt nicht nach. Nick sagt, was soll man bloß zu diesem verfluchten Trump sagen, und Billy meint, tja, was soll man da schon sagen. Das ist in etwa alles, was sie zustande bringen, aber das macht nichts, weil jetzt Macintosh mit einem Tablett kommt, auf dem zwei hohe Gläser stehen, und sobald er wieder abgezogen ist, kommt Nick zur Sache.
»Als ich mit deinem Kumpel Bucky telefoniert hab, hat der mir gesagt, du willst dich bald zur Ruhe setzen.«
»Ich denk drüber nach. Mache das Ganze schon eine lange Zeit. Viel zu lange.«
»Stimmt. Wie alt bist du überhaupt?«
»Vierundvierzig.«
»Und du bist im Geschäft, seit du die Uniform ausgezogen hast?«
»Mehr oder weniger.« Er ist sich ziemlich sicher, dass Nick das alles weiß.
»Wie viele insgesamt?«
Billy zuckt die Achseln. »Das weiß ich nicht mehr genau.« Es sind siebzehn. Achtzehn, wenn man den ersten mitrechnet, den Mann mit dem gegipsten Arm.
»Bucky meint, du übernimmst eventuell noch einen, wenn der Preis stimmt.«
Er wartet darauf, dass Billy etwas antwortet. Weil er das nicht tut, fährt Nick fort.
»Der Preis stimmt auf jeden Fall. Wenn du den übernimmst, kannst du dein restliches Leben irgendwo da verbringen, wo es warm ist. Kannst dich in ’ne Hängematte legen und Piña colada trinken.« Sein breites Grinsen kommt wieder zum Vorschein. »Zwei Millionen. Fünfhunderttausend als Vorschuss, der Rest hinterher.«
Billys Pfiff gehört nicht zu seiner kleinen Show, die er zudem nicht als solche betrachtet, sondern als feste Rolle des Einfältigen, die er Typen wie Nick, Frank und Paulie immer vorspielt. Sie ist wie ein Sicherheitsgurt. Den...
Erscheint lt. Verlag | 9.8.2021 |
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Übersetzer | Bernhard Kleinschmidt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Billy Summers |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Auftragskiller • Bonnie & Clyde • der letzte coup • eBooks • Émile Zola • Falludscha • Fiktion und Wirklichkeit • Gruppenvergewaltigung • Irakkrieg • Krimi • Kriminalromane • Krimis • medienmogul • Operation Phantom Fury • Overlook Hotel • Päderastie • Roadmovie • Scharfschütze • Shining • Thérèse Raquin • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-27940-2 / 3641279402 |
ISBN-13 | 978-3-641-27940-0 / 9783641279400 |
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