Der Atem der Welt (eBook)

Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
656 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12103-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Atem der Welt -  Stefan Bollmann
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Goethe der Naturforscher - die große Biographie Einfühlsam und mit großer Erzählkunst zeichnet Stefan Bollmann ein überraschend neues Bild des Dichterfürsten und entdeckt den Naturforscher und Naturschriftsteller Goethe. Eine glänzend geschriebene Biographie, in deren Zentrum seine lebenslange Naturerfahrung und ihre hohe Aktualität für unsere Zeit stehen. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war nicht nur als Dichter und Schriftsteller ein Kristallisationspunkt seiner Zeit. Sein umfangreiches literarisches Werk bezeugt eine eingehende Beschäftigung mit Naturforschung und sein Leben ist von einem ununterbrochenen, intensiven Erleben der Natur in allen Erscheinungen tief geprägt und geformt. Souverän erschließt Stefan Bollmann in dieser Biographie dieses lange Zeit vernachlässigte Naturverständnis und vermittelt uns ein überraschend neues Goethebild. Auf einer spannenden Entdeckungsreise durch Goethes Landschaften, seine Texte und Gedanken begleiten wir ihn in Italien, in der Schweiz, beobachten ihn bei seinen Forschungen in Thüringen und im Harz. Wir nehmen teil an seinen geologischen, anatomischen, botanischen und optischen Untersuchungen, werden Zeuge seiner Freundschaft mit Alexander von Humboldt - und verstehen unsere eigene tiefe Sehnsucht nach der Natur neu. Goethe kann uns lehren, unsere Stellung in der Natur neu zu verorten. Eine große Geschichte der Naturwahrnehmung und zugleich ein hochaktuelles Buch, das zeigt, wie Goethes sinnlich anschauliche Erfahrung der Natur auch heute noch Grundlage unserer Humanität und Lebendigkeit sein kann.

Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen, promovierte nach einem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit annähernd eine halbe Million Mal.

Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen, promovierte nach einem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit annähernd eine halbe Million Mal.

Prolog


Wer Mitte der 1790er Jahre in Weimar weilte, dem konnte es passieren – so wird erzählt –, dass sie oder er einem Mann im fortgeschrittenen Alter und mit deutlich hervortretendem Bauchansatz begegnete, der beim Spazierengehen wild mit den Armen ruderte. Darauf angesprochen, was er damit bezwecke, erklärte er, dass diese Art der Fortbewegung an die der Tiere erinnere und mithin naturgemäßer sei. Nie um alles in der Welt würde er sich etwa unterstehen, mit einem Stock zu gehen.

Es kann aber auch sein, dass Karl August Böttiger, der boshafte Direktor des Weimarer Gymnasiums, diese Geschichte nur in die Welt gesetzt hat,[1] um dem allgemeinen Erstaunen darüber Ausdruck zu verleihen, dass der Dichter – denn ein Dichter war besagter Mann – sich schon wieder mit lauter Absonderlichkeiten abgab. Etwa mit einem »bis zur Affektation getriebenen Attachment an die Natur«, wie ein Autorenkollege das nannte, oder der Idee, dass wir erst Pflanzen und Tiere waren und ganz ungewiss sei, was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wie sich eine Dame der Gesellschaft ausgedrückt hatte, zu einer Zeit, als sie noch die platonische Geliebte des Dichters gewesen war.[2]

Der Dichter war kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, vor gut fünf Jahren aus Italien heimgekehrt, von wo ihn schon niemand mehr außer dem Herzog Carl August zurückerwartet hatte. Carl August war nicht nur sein Dienst- und Schirmherr, sondern seit Goethes Anfängen in Weimar mit ihm in einer alle gegenseitigen Irritationen überdauernden Männerfreundschaft verbunden.

Nach seiner zweijährigen Abwesenheit hatte Goethe in vielfacher Weise von sich reden gemacht – nach dem allgemeinen Urteil der Weimarer Gesellschaft vornehmlich negativ. Erst hatte er sich eine heimliche, völlig unstandesgemäße Geliebte zugelegt, die im Landes-Industrie-Comptoir des Unternehmers Friedrich Justin Bertuch künstliche Blumen herstellte, und mit der er schon bald in wilder Ehe zusammenlebte, sogar einen Sohn zeugte. Dann hatte er Römische Elegien und Venezianische Epigramme gedichtet, wobei sich die letzteren von den ersteren nicht nur in Versmaß und -form unterscheiden, sondern vor allem dadurch, dass sie sich noch anstößiger ausnahmen. Und nun schien er sich nicht genug austauschen zu können mit diesem jungen Oberbergrat, der noch um einiges jünger war als seine Geliebte, von dem jedoch alle Welt ahnte, dass er homosexuell war, und mit dem gemeinsam er die seltsamsten Experimente unternahm – nicht nur in Weimar selbst, sondern auch in der nahen Universitätsstadt Jena. Da wurden etwa präparierte Froschschenkel auf eine Glasplatte gelegt und deren Nerven- und Muskelenden mit verschiedenen metallischen Leitern verbunden. Beugte man sich mit dem Gesicht und dem Mund darüber, kam es zum Erstaunen aller zu so heftigen Zuckungen, dass der Froschschenkel von der Platte herabflog. Mit dem Hauch des eigenen Atems schien man das Froschbein in Bewegung versetzen zu können. »Das Experiment sieht einem Zauber ähnlich, indem man bald – Leben einhaucht, bald den belebenden Odem zurücknimmt!«, meinte der junge Oberbergrat, der durch und durch Naturwissenschaftler war und sogar bekannte, nicht existieren zu können, ohne zu experimentieren.[3] Und auch Goethe zeigte sich beeindruckt: »Wie merkwürdig ist, was ein bloßer Hauch … thun kann!«[4]

Der Oberbergrat war Alexander von Humboldt, Absolvent der berühmten Bergakademie in Freiberg und laut Friedrich Schiller, dessen Freundschaft mit Goethe damals gerade begann, »in Deutschland gewiss der vorzüglichste in seinem Fache«. Er übertreffe »an Kopf vielleicht noch seinen Bruder, der gewiß sehr vorzüglich ist«.[5] Goethe und der Allervorzüglichste sind sich zum ersten Mal im Winter 1794/95 in der Universitätsstadt Jena begegnet, annähernd fünf Jahre, bevor Alexander von Humboldt mit seinem Aufbruch in die Tropen als Entdeckungsreisender die Welt erobern und Geschichte schreiben sollte. Gleich kam man ins Gespräch über Naturwissenschaften, über Geologie, Botanik, Anatomie, Physiologie. Es war tiefe Sympathie auf den ersten Blick, unverständlich für alle, die in dem Jüngeren nur den »nackten schneidenden Verstand« sehen wollten, dem Älteren hingegen aus der Seele zu sprechen meinten, wenn sie verkündeten, die Natur müsse »angeschaut und empfunden werden, in ihren einzelnsten Erscheinungen, wie in ihren höchsten Gesetzen«.[6]

Das klingt zwar bis heute nach Goethe, stammt aber ebenfalls von Schiller. Dieser fand Alexander von Humboldt schon bald gar nicht mehr so vorzüglich, nicht zuletzt weil er in ihm einen Konkurrenten in seiner Freundschaft zu Goethe witterte. Andererseits unterschätzte er die Bedeutung, die sein Freund Naturforschung und Naturwissenschaft, Beobachtung und Experiment beimaß.

Goethe ist zeitlebens nicht müde geworden, Humboldts immense Kenntnisse, sein lebendiges Wissen, seinen Forscherdrang und seine Vielseitigkeit zu rühmen. Der junge Oberbergrat war vielleicht der einzige Mann, dem der Weimarer Geheime Rat sich zumindest teilweise unterlegen fühlte. Immer noch vom eigenen Lebenstempo und seiner raschen Auffassungsgabe überzeugt, pflegte der auf die Fünfzig zugehende Goethe trocken zu bemerken, die Leute hielten mit ihm nicht Schritt; wenn sie glaubten, er weile noch in Weimar, sei er schon längst in Erfurt angekommen. Mit Humboldt aber bekam er es mit einem jungen Mann zu tun, dessen Sturmlauf ihn das Staunen lehrte: »Man könnte in acht Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt«, äußerte er sich gegenüber Carl August, als Alexander von Humboldt einmal mehr in seiner Nähe weilte.[7]

Ermuntert durch ihn begann Goethe, im Januar 1795 den Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie zu verfassen – anders als der umständliche und spezialistisch klingende Titel vermuten lässt, eine grundlegende Skizze seiner Morphologie, Zentrum seines naturwissenschaftlichen Denkens. Jeden Morgen um sieben Uhr trat der junge Medizinstudent Max Jacobi zu einem ersten Diktat an sein Bett, bevor Goethe dann um acht Uhr durch »tiefsten Schnee«, wie er sich erinnert, zur Jenaer Universität eilte, um dort gemeinsam mit Alexander von Humboldt und dessen Bruder Wilhelm einer Vorlesung des Anatomen Justus Christian Loder über Bänderlehre beizuwohnen, die durch die Anwesenheit von so viel Prominenz fast den Charakter eines gesellschaftlichen Ereignisses bekam.[8] Loder war stolz, gerade für diese Vorlesung sechs Leichen für Demonstrationen zur Verfügung zu haben. Sie seien zwar »alle hart gefroren«, würden »sich aber nach und nach … auftauen lassen«, hatte er Goethe im Vorhinein frohgemut angekündigt. Und hinzugefügt: Fast wünschte er, der Tod wäre ihm und den anderen Medizinern immer so günstig.[9] Im Anschluss an den Vortrag von Loder fuhr Goethe dann häufig mit dem Diktat fort. Dabei habe sich auch Alexander von Humboldt eingefunden, berichtet er, und gleichsam mitgedacht und mitgeschrieben an dem gerade entstehenden Konzept, als er seine »Ideen fast alle aphoristisch« von sich gab.[10]

Aber auch Alexander von Humboldt profitierte von der Freundschaft mit Goethe. Als die beiden sich im Winter 1794/95 kennenlernten, war er ein so ehrgeiziger wie hochbegabter Experimentalwissenschaftler. Er stand an der Spitze einer Generation junger Forscher, die sich zunehmend auf Messungen verließen, dabei wenig Rücksicht auf Tradition und ethische Bedenken nahmen, aber große Erfolge vorzuweisen hatten. Nicht zuletzt durch spektakuläre, selbst den eigenen Körper nicht schonende Versuchsanordnungen verstand er es, in einzelnen Disziplinen wie der Physiologie, der Botanik oder der Geologie zu glänzen. Doch Humboldts Ehrgeiz ging weiter: Er suchte nach einer leitenden Idee, unter der sich die einzelnen Disziplinen zu einer Art Metawissenschaft zusammenfassen ließen. Sie sollte es ermöglichen, die Erscheinungen der Natur in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu verstehen. Und da war die Begegnung mit Goethe ein großer Glücksfall.

Denn Goethe kannte sich in allen diesen Wissenschaften bestens aus und hatte sich zum Zeitpunkt der Begegnung mit Alexander von Humboldt in jeder einzelnen bereits Meriten erworben. Zudem hatte er schon 1785, also noch vor seiner Italienreise, als er den Zwischenkieferknochen beim...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2021
Zusatzinfo mit zahlreichen Abbildungen
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Alexander von Humboldt • Anatomie • Anthropologie • Biologie • Botanik • Farbenlehre • Forschung • Geologie • Goethe • Italienreise • Klassik • Lyrik • Mineralogie • Natur • Naturbegeisterung • Naturwissenschaften • Pflanzenkunde • Poesie • Schiller • Schweizer Reise • Wilhelm von Humboldt • Wissenschaft • Wolkenformation • Wolkenkunde • Zwischenkieferknochen
ISBN-10 3-608-12103-X / 360812103X
ISBN-13 978-3-608-12103-2 / 9783608121032
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