Die Sagen der Antike (eBook)

eBook Download: EPUB
2021
400 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-27909-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sagen der Antike - Heinrich Wilhelm Stoll
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Trojanisches Pferd, Achillesferse, bezirzen: Unser Wortschatz steckt voller Entlehnungen aus der Sagenwelt der Antike. Bis heute sind die mythischen Erzählungen des Altertums Anregung für große Werke der Weltliteratur. Heinrich Wilhelm Stoll, dessen Bücher im 19. Jahrhundert viele Auflagen erlebten, hat mit einzigartigem Kenntnisreichtum den griechisch-römischen Sagenschatz zusammengetragen und in einer Ausgabe vereint, die der Sammlung Gustav Schwabs in nichts nachsteht. Sein legendäres zweibändiges Sammelwerk liegt hier in einem Band vor, der die schönsten und bedeutendsten Sagen enthält.

DIE GROSSE FLUT


(Ovids Metamorphosen I, 163–437)

Dem Himmelsvater Zeus war von der Schlechtigkeit der Menschen viel Schlimmes zu Ohren gekommen. Der Wunsch, dass diese Gerüchte unwahr oder übertrieben sein möchten, bewog ihn, seinen Himmel zu verlassen und selbst in menschlicher Gestalt unter den Menschen umherzuwandern, um mit eigenen Augen zu schauen. Er fand leider die Wahrheit noch schlimmer als das Gerücht. Überall traf er Verwilderung und Verruchtheit. So kam er auf seiner Wanderung durch Arkadien noch in später Dämmerung nach Lykosura in das Haus des Königs Lykaon. Sobald er eingetreten war, gab er Zeichen, dass ein Gott genaht, und die Menge begann ihn mit Gebeten und Gelübden zu verehren. Aber Lykaon verlachte die Gebete und sprach: »Ich werde schon sicher erproben, ob er ein Gott ist oder ein sterblicher Mensch. Er gedachte nämlich während der Nacht im Schlaf ihn durch ungeahnten Mord zu verderben. Zuvor aber versuchte er den Gast auf andere Weise. In seinem Haus hatte er einen Geisel vom Volk der Molosser; dem durchstach er mit dem Schwert die Kehle und kochte und briet die noch zuckenden Glieder und setzte sie seinem Gast vor, ob er wohl erkenne, was er esse. Da schleudert Zeus im Zorn den rächenden Blitz ins Haus und zerschmettert es. Entsetzt stürzt der Frevler aus den brechenden Trümmern hinaus und sucht das Weite. Er heult auf, denn zu sprechen vermag er nicht; in schäumender Wut fällt er, getrieben von der alten Mordlust, in die Herden und freut auch jetzt noch sich am Blut. Sein Gewand zergeht in raue Zotteln, seine Arme wandeln sich in Beine: Er wird ein Wolf und behält noch die Spuren des früheren Aussehens, die Gräue des Haars, die blutgierigen Augen, dieselbe Wildheit des Gesichts und der Gebärden.

Ein Haus ist vernichtet, aber alle sind desselben Loses wert. Der Himmelsvater ist entschlossen, das gesamte ruchlose Menschengeschlecht zu vertilgen. Sobald er in den Himmel zurückgekehrt ist, beruft er den Rat sämtlicher Götter. Die kommen sofort auf der glänzenden Milchstraße – denn das ist der Weg der Unsterblichen – hinauf zu der Höhe des Himmels, zum Königspalast des großen Donnerers. Zur Rechten und zur Linken in der Nähe des Zeus haben die vornehmsten unter den Göttern ihre Wohnungen, weiter ab liegen zerstreut die der niederen Götter. Als die heilige Schar der Himmlischen sich niedergelassen im Marmorsaal des Zeus und dieser selbst auf erhöhtem Thron, gestützt auf ein elfenbeinernes Zepter, Platz genommen hat, schüttelte er dreimal und viermal sein gewaltiges Lockenhaupt, mit dem er Erde und Meer und Gestirne bewegte, und sprach also: »Noch nie war ich so besorgt um den Bestand meines Reiches wie jetzt, selbst nicht, als die schlangenfüßigen Giganten den Himmel bestürmten. Soweit die Erde reicht, habe ich nichts als ruchlose Schlechtigkeit gefunden; das gesamte Menschengeschlecht muss ausgerottet werden.« Nachdem darauf die Götter die Geschichte des Lykaon gehört haben, billigen sie alle den Entschluss des Zeus; doch fragen sie alle besorgt, wie nach Vertilgung der Menschen in Zukunft der Zustand der Erde sein, wer den Göttern Weihrauch und Opfer darbringen solle. Darüber beruhigt sie der Götterkönig und verspricht, mit einem neuen besseren Geschlecht die Erde zu bevölkern. Und schon greift er nach seinen Blitzen, um sie auf die Erde zu verstreuen; doch er fürchtet, der Äther möchte Feuer fangen und die Himmelsachse verbrennen, auch erinnert er sich, dass nach dem Schluss des Schicksals eine Zeit kommen solle, wo Erde und Meer und die Burg des Himmels in furchtbarem Brand zusammenstürzten – und er legte die Donnerkeile wieder beiseite und beschloss, durch die Wasser des Himmels die Menschen zu vertilgen.

Sofort schloss er alle Winde, welche die Wolken verscheuchen und den Himmel klären, in die Höhlen des Aiolos ein und ließ nur den Regen bringenden Notos, den Südwind, wehen. Der flog über die Erde mit feuchten Schwingen, das Haupt mit schwarzem Dunkel verhüllt, aus dem langen Bart und dem grauen Haar, aus Gefieder und Busen trieft die Flut, und wie er mit der Hand die weitumherhangenden Wolken drückt, strömen unter donnerndem Brausen dichte Regengüsse vom Himmel; Iris, die Göttin des Regenbogens in schimmerndem Gewand, schöpft unaufhörlich Wasser und trägt es den Wolken als Nahrung zu. Da werden die Saaten niedergepeitscht vom Regenschwall; die Hoffnung des Landmanns, die Arbeit des langen Jahres liegt zerstört am Boden. Und der Zorn des Zeus begnügt sich nicht mit den Wassern des Himmels; sein Bruder, der Meergott, unterstützt ihn mit seinen Gewässern. Dieser ruft alle Flüsse zusammen und befiehlt ihnen: »Brecht die Schleusen auf, öffnet die Wasserkammern, lasst euren Fluten alle Zügel schießen!« Die Flüsse gehorchen, und Poseidon selbst stößt mit seinem Dreizack in die Erde, dass sie erzittert und den Gewässern in ihrem Schoß freie Bahnen lässt. Da stürzen die Flüsse entfesselt über ihre Ufer und reißen weithin alles mit sich fort, Saaten und Bäume, Menschen und Vieh, Häuser und Tempel. Und wo ein Haus oder eine hochgetürmte Burg der Gewalt der Fluten trotzte, da stieg bald das Wasser über Giebel und Türme. Schon sind Land und Meer nicht mehr durch Grenzen voneinander geschieden; alles ist Meer, ein Meer ohne Ufer. Wo früher schlanke Ziegen geweidet, da lagern jetzt ungestaltete Robben, Delphine tummeln sich in den Wäldern umher, die Meernymphen, die Töchter des Nereus, betrachten mit Staunen die Haine und Häuser und Städte unter dem Wasser. Wolf und Schaf, Löwen und Tiger schwimmen bunt durcheinander in den Wogen, nichts hilft dem Eber seine Blitzeskraft, nichts dem Hirsch seine Schnelle, und der Vogel, nachdem er lange vergeblich einen Platz zum Ruhen gesucht, sinkt endlich mit matten Schwingen ins Meer. Und die Menschen? Die einen suchen Schutz auf dem Hügel, auf den Bergen, die andern in Kahn und Schiff; Hügel und Berge überdeckt die Flut, die Schiffe verschlingt der Abgrund, und wen die Woge verschont, den tötet endlich der Hunger.

Zwischen dem Öta und dem Lande Böotien liegt Phokis, ein fruchtbares Land, solange es Land war, jetzt war’s ein Teil des Meeres und ein weites Feld der Wogen. Dort ragt mit doppeltem Gipfel der Parnassus hoch über die Wolken, ein gewaltiger Berg, höher als alles Land umher. Dessen Haupt, zwar von der Brandung umtobt, bleibt frei von der Flut. Dort landete in kleinem Schiff nach langer Irrfahrt auf den Gewässern der gerechte Deukalion mit Pyrrha, seinem frommen Weib – Deukalion ein Sohn des Prometheus, Pyrrha eine Tochter des Epimetheus und der Pandora. Beim Herannahen der Flut hatte er sich auf den Rat seines Vaters ein festes, wohlüberdecktes Schiff gezimmert und hinlänglich mit Lebensmitteln versehen. So entging er dem Untergang. Als Zeus von so vielen Tausenden die beiden allein noch übrig sah, beide unsträflich und durch frommen Sinn ausgezeichnet vor den andern Menschen, da zerstreute er das dunkle Regengewölk und zeigte dem Himmel die Erde wieder und der Erde den Himmel, und Poseidon ließ auf sein Geheiß durch Triton den Wogen des Meeres den Rückzug blasen. Schon bekommt das Meer wieder Ufer, die Ströme, die Bäche fließen voll in ihren Betten, die Hügel und die Wälder und die Fluren steigen hervor aus den sinkenden Gewässern, und die Erde zeigt wieder ihre vorige Gestalt.

Als Deukalion nach dem Verlaufen der Flut die Erde ringsum einsam und öde sah, sprach er mit tränendem Auge also zu Pyrrha: »O Schwester, o Gattin, einziges Weib noch auf Erden, in allen Ländern, die reichen vom Aufgang zum Niedergang, sind wir beide noch das einzige Volk, alle andern hat die Flut begraben. Aber auch wir sind unseres Lebens noch nicht sicher, jede Wolke erschreckt noch meine Seele. Und sind wir auch frei von Gefahr, was sollen wir beide, vereinsamt auf der leeren Erde, beginnen? Hätte ich doch die Kunst vom Vater gelernt, Menschen zu bilden und dem geformten Ton Leben einzuhauchen. So bleiben wir allein, der einzige Rest des Menschengeschlechts.« So sprach er, und sie weinten – und beschlossen, den Rat und die Hilfe der Himmlischen im Orakel zu erflehen. Sie suchen die Orakelstätte von Delphi auf, am Fuße des Parnassus, wo damals noch Themis ihre Weissagungen gab. Als sie die Stufen des verlassenen Tempels berührten, fielen sie zur Erde nieder, küssten den halb verfallenen Altar und flehten: »Sag uns, o Themis, durch welche Kunst der Verlust unseres Geschlechtes wieder ersetzt werden kann; gib neues Leben der versunkenen Welt.« Die Göttin antwortete:

»Geht aus dem Tempel,

Hüllt euch beide das Haupt und löst die gegürteten Kleider, Werft sodann die Gebeine der großen Erzeugerin rückwärts.«

Lange staunten sie. Endlich brach Pyrrha das Schweigen; sie weigert sich, der Göttin zu gehorchen, und fleht sie furchtsam um Verzeihung, es sei ihr unmöglich, den Schatten ihrer Mutter durch Zerstreuung ihrer Gebeine zu kränken. Unterdessen sinnen sie noch weiter über die dunklen Worte nach; da wird plötzlich Deukalion die Deutung klar. Er beruhigte seine Gattin mit den freundlichen Worten: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm und wollen keinen Frevel. Die große Erzeugerin ist die Erde, die Steine in dem Leib der Erde sind, denk ich, ihre Gebeine; die sollen wir rückwärts werfen.«

Zwar setzen sie noch Zweifel in ihre Deutung; doch was schadet’s, die Probe zu machen? Sie gehen hinab ins Tal, verhüllen das Haupt, entgürten die Gewänder und werfen die Steine. Und die Steine – welch ein Wunder! – begannen ihre Härte und Spröde zu verlieren, sie erweichten allmählich und zogen sich zu langen Gestalten auseinander. Bald, nachdem sie so gewachsen, wurde ihr Aussehen milder, und menschliche Formen,...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Zusatzinfo Mit 49 schwarz-weißen Abbildungen aus der Originalausgabe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altertum • Antike • antike Mythologie • eBooks • Götter • Göttersagen • griechische Sagen • Helden • Heldensagen • Odysseus • Sagen • Sagen des Altertums • Schöpfungsmythen • Troja
ISBN-10 3-641-27909-7 / 3641279097
ISBN-13 978-3-641-27909-7 / 9783641279097
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