1984 (eBook)

Neu übersetzt von Jan Strümpel

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
400 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-27911-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1984 - George Orwell
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London, 1984: Winston Smith, Geschichtsfälscher im Staatsdienst, verliebt sich in die schöne und geheimnisvolle Julia. Gemeinsam beginnen sie, die totalitäre Welt infrage zu stellen, als Teil derer sie bisher funktioniert haben. Doch bereits ihre Gedanken sind Verbrechen, und der Große Bruder richtet seinen stets wachsamen Blick auf jeden potenziellen Dissidenten. George Orwells Vision eines totalitären Staats, in dem Cyberüberwachung, Geschichtsrevisionismus und Gedankenpolizei den Alltag gläserner Bürger bestimmen, hat wie keine andere Dystopie bis heute nur an Brisanz gewonnen.

George Orwell wurde 1903 in Motihari/ Bengalen als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Er besuchte Privatschulen in England, diente in der burmesischen Imperial Police, arbeitete als Lehrer und Buchhandelsgehilfe, machte als Vagabund in Südengland und Paris Erfahrungen, kämpfte auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist. Neben seinen Welterfolgen »Farm der Tiere« und »1984« ist er durch zahllose politische wie literarische Essays bekannt geworden. Er starb 1950 in London.

II


Während er die Türklinke ergriff, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand dort wieder und wieder geschrieben in Buchstaben, die man vom Ende des Zimmers her fast lesen konnte, so groß waren sie. Das war nun eine unvorstellbare Dummheit gewesen. Doch ihm wurde bewusst, dass er selbst in seiner Panik das weiche Papier nicht besudeln wollte, indem er das Buch mit der noch feuchten Tinte zuklappte.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Woge der Erleichterung. Draußen stand eine blasse, geduckt wirkende Frau mit dünnem Haar und schmalem Gesicht.

»Ach, Genosse«, sagte sie mit düsterer, weinerlicher Stimme, »hab ich doch richtig gehört, dass Sie gerade heimgekommen sind. Ob Sie wohl mal rüberkommen und sich meinen Abfluss anschauen können? Er ist verstopft und …«

Es war Mrs Parsons, die Frau eines Nachbarn auf derselben Etage. (»Mrs« zu sagen wurde von der Partei missbilligt – man sollte jeden mit »Genosse« anreden –, aber gegenüber manchen Frauen fiel das Wort instinktiv.) Die Frau war etwa dreißig Jahre alt, wirkte aber viel älter. Man hatte den Eindruck, dass ihre Gesichtsfalten voller Staub waren. Winston folgte ihr durch den Flur. Diese Aushilfsreparaturen waren ein fast tägliches Ärgernis. Die Victory-Wohnblocks waren alte Gebäude, hochgezogen etwa in den 1930er-Jahren, und fielen auseinander. Ständig bröselte der Putz von den Decken und Wänden, bei strengem Frost barsten jedes Mal die Leitungen, es sickerte durchs Dach, wenn Schnee darauf lag, die Zentralheizung lief gewöhnlich nur mit halber Kraft, wenn sie zwecks Einsparung nicht ganz abgestellt war. Reparaturen, die man nicht selbst erledigen konnte, mussten von fernen Gremien genehmigt werden, die sich selbst mit dem Austausch einer kaputten Fensterscheibe zwei Jahre Zeit lassen konnten.

»Natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, sagte Mrs Parsons undeutlich.

Die Wohnung der Parsons’ war größer als die von Winston und in besonderer Art schäbig. Alles sah abgenutzt und ramponiert aus, als sei eben ein großes, wütendes Tier zu Besuch dagewesen. Der Boden war bedeckt mit Sportausrüstung – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Football, verschwitzte, auf links gewendete Shorts –, und auf dem Tisch stapelten sich schmutziges Geschirr und Schulhefte mit Eselsohren. An den Wänden hingen orangerote Fahnen des Jugendbundes und der Kundschafter, außerdem ein lebensgroßes Plakat des Großen Bruders. Hier hing der übliche Kohlgeruch im Raum, der das gesamte Gebäude durchzog, doch ihn überlagerte ein strenger Schweißmief, der – man wusste es nach einmal Schnuppern, gleich wie sich das erklären mochte – von einer gewissen, gerade nicht anwesenden Person herrührte. In einem anderen Zimmer versuchte jemand auf einem mit Papier überspannten Kamm die Militärmusik zu begleiten, die noch aus dem Monitor drang.

»Die Kinder«, sagte Mrs Parsons mit leicht ängstlichem Blick in Richtung Tür. »Sie waren heute nicht draußen. Und natürlich …«

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Spüle in der Küche war beinahe randvoll mit einer grünlichen Dreckbrühe, die schlimmer denn je nach Kohl stank. Winston kniete nieder und machte sich am Siphon zu schaffen. Er hasste es, mit den Händen zu arbeiten, und er hasste es, sich bücken zu müssen, wovon er immer gleich zu husten begann. Mrs Parsons sah hilflos drein.

»Natürlich, wenn Tom da wäre, hätte er das sofort repariert«, sagte sie. »Er tut so etwas furchtbar gern. Er hat so geschickte Hände, der Tom.«

Parsons war ein Kollege von Winston im Ministerium für Wahrheit. Er war ein ziemlich dicker, aber sehr emsiger Mann von abgrundtiefer Dummheit, ein Ausbund idiotischen Eifers – einer jener völlig bedingungslos ergebenen Knechte, auf denen mehr noch als auf der Gedankenpolizei die Stabilität der Partei beruhte. Mit 35 Jahren hatte er widerwillig den Jugendbund verlassen, und bevor er in den Jugendbund aufgerückt war, hatte er ein Jahr über das maximal gestattete Höchstalter hinaus bei den Kundschaftern verbracht. Beim Ministerium saß er auf irgendeiner niederen Position, die kein Auffassungsvermögen erforderte, dagegen war er eine treibende Kraft im Sportausschuss und in allen anderen Ausschüssen, die Gruppenwanderungen, Spontandemonstrationen, Sparaktionen und jede Art von freiwilligem Einsatz organisierten. Mit leisem Stolz setzte er einen zwischen zwei Zügen an seiner Pfeife in Kenntnis, dass er in den vergangenen vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum vorbeigeschaut habe. Ein durchdringender Schweißgeruch folgte ihm wie ein unbewusster Beleg für die Anstrengungen seines Lebens auf Schritt und Tritt und hing noch in der Luft, wenn er längst wieder fort war.

»Haben Sie einen Schraubenschlüssel?«, fragte Winston, der die Mutter am Siphon betastete.

»Einen Schraubenschlüssel«, sagte Mrs Parsons und wurde sofort nervös. »Keine Ahnung, bestimmt. Die Kinder könnten …«

Stiefelgetrappel war zu hören und noch eine Fanfare auf dem Kamm, als die Kinder ins Wohnzimmer einfielen. Mrs Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angeekelt den Pfropfen aus Menschenhaar, der den Abfluss verstopft hatte. Er wusch sich die Hände, so gut es mit dem kalten Wasser aus der Leitung möglich war, und ging in das andere Zimmer zurück.

»Hände hoch!«, schrie jemand schrill.

Ein hübscher, robust wirkender Junge, neun Jahre alt, war hinter dem Tisch hochgesprungen und hielt eine Spielzeugpistole auf ihn gerichtet; seine kleine Schwester, die etwa zwei Jahre jünger war, machte ihm dies mit einem Stück Holz nach. Beide trugen kurze blaue Hosen, graue Hemden und rote Halsbänder, die Uniform der Kundschafter. Winston streckte seine Hände in die Luft, aber mit einem unguten Gefühl, denn der Junge verhielt sich so garstig, dass es gar nichts mehr von einem Spiel hatte.

»Du bist ein Verräter!«, schrie der Junge. »Du bist ein Gedankenverbrecher! Ein eurasischer Spion bist du! Ich erschieße dich, ich vaporisiere dich, ich steck dich ins Salzbergwerk!«

Mit einem Mal hüpften sie beide um ihn herum, schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen dem Bruder alles nachmachte. Es war ein bisschen beängstigend, wie das Herumtollen von Tigerjungen, die bald groß sein und Menschen auffressen werden. Im Blick des Jungen lag eine berechnende Wildheit, das offenkundige Verlangen, Winston zu schlagen und zu treten, und das Bewusstsein davon, sehr bald groß genug zu sein, um es zu können. Ein Glück, dass er da keine echte Waffe in der Hand hielt, dachte Winston.

Mrs Parsons’ Blick ging nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte Winston interessiert, dass tatsächlich Staub in ihren Gesichtsfalten hing.

»Sie machen so einen Lärm«, sagte sie. »Sie sind enttäuscht, weil sie nicht zur Hinrichtung können, deshalb. Ich hab keine Zeit, sie hinzubringen, und Tom ist nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«

»Warum dürfen wir nicht zur Hinrichtung?«, brüllte der Junge mit lauter Stimme.

»Wir woll’n zur Hinrichtung! Wir woll’n zur Hinrichtung!«, skandierte das Mädchen, das noch immer herumhüpfte.

Am Abend, das fiel Winston wieder ein, sollten im Park eurasische Gefangene hingerichtet werden, überführte Kriegsverbrecher. Etwa einmal im Monat fand dies statt, es war ein beliebtes Schauspiel. Kinder zeterten immer herum, dass sie mit hinwollten. Er verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Tür. Als er im Treppenhaus noch keine sechs Stufen hinabgestiegen war, schoss ihm etwas unerträglich schmerzhaft in den Nacken. Es war, als sei ein glühend heißer Draht in ihn gerammt worden. Er fuhr herum und konnte gerade noch sehen, wie Mrs Parsons ihren Sohn, der eine Zwille wegsteckte, zurück durch den Eingang zerrte.

»Goldstein!«, grölte der Junge, während sich die Tür schloss. Vor allem erschütterte Winston jedoch der Anblick hilflosen Schreckens auf dem blassgrauen Gesicht der Frau.

In seiner Wohnung ging er rasch am Monitor vorbei und setzte sich, weiter den Nacken reibend, wieder an den Tisch. Aus dem Monitor kam keine Musik mehr. Dafür verlas eine militärische Stimme abgehackt und mit einer Art brutaler Lust Angaben zur Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die eben zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.

Mit diesen Kindern, dachte Winston, musste die arme Frau in Angst und Schrecken leben. Noch ein, zwei Jahre, dann würden sie sie Tag und Nacht nach Anzeichen von mangelnder Orthodoxie belauern. Fast alle Kinder waren schrecklich heutzutage. Am Schlimmsten von allem war, dass sie durch Organisationen wie die Kundschafter systematisch in unkontrollierbare kleine Bestien verwandelt wurden; und doch regte sich in ihnen keinerlei Neigung, gegen die Lehre der Partei aufzubegehren. Ganz im Gegenteil, sie schwärmten für die Partei und alles, was mit ihr zu tun hatte. Die Lieder, die Umzüge, die Fahnen, die Wanderungen, das Exerzieren mit Gewehrattrappen, das Skandieren von Parolen, die Anbetung des Großen Bruders – all dies war ihnen eine Art herrliches Spiel. Ihre ganze Grausamkeit wurde nach außen gelenkt, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Menschen über dreißig war es fast normal, die eigenen Kinder zu fürchten. Aus gutem Grund, denn selten verging eine Woche, ohne dass in der Times ein Artikel darüber zu lesen war, wie irgendein kleiner Schnüffler –...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2021
Übersetzer Jan Strümpel
Sprache deutsch
Original-Titel 1984
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Big Brother • Booktok • der große Bruder • Diktatur • Dystopie • dystopie fantasy • dystopischer Roman • eBooks • Farm der Tiere • Gedankenpolizei • Gehirnwäsche • Huxley • Julia • Klassiker • kleine geschenke für frauen • MachtGier • Neunzehnvierundachtzig • Neusprech • Nineteen eighty four • Orwells Rosen • Ost-West-Konflikt • Ozeanien • Penguin • Propaganda • rebecca solnit • Retro • Russland verstehen • Sandra Newman • Schöne neue Welt • Staatspartei • Stalin • totalitärer Staat • Totalitarismus • Überwachungsmaßnahmen • Überwachungsstaat • Ukraine-Krise • Utopie • Vintage • Vladimir Putin • Widerstand
ISBN-10 3-641-27911-9 / 3641279119
ISBN-13 978-3-641-27911-0 / 9783641279110
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