Aussenstation (eBook)

Aus dem Nest gefallen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
588 Seiten
swiboo.ch (Verlag)
978-3-907106-55-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aussenstation -  Monique Kreis
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Der Roman erzählt die Geschichte von Anna, die im Alter von sieben Jahren an Polio erkrankt und schwer gelähmt bleibt. Sie verbringt ihre ganze Jugend in Rehaeinrichtungen. In der Aussenstation lebt sie in einem bunten Mikrokosmos mit Mitpatientinnen und Pflegepersonal aus allen Ländern der Erde. Sie verehrt und fürchtet die leitende Ärztin, die ihr tägliches Leben bestimmt. Weil sie viel liest und Freundschaften pflegt, öffnen sich ihr oft neue Türen. Als eranwachsendes junges Mädchen erkennt Anna, dass das Leben einmalig und unbedingt lebenswert ist.

Kapitel 1

«Stehen sollen die Kinder wieder lernen, um jeden Preis! Stehen und gehen!»

Frau Doktor Emmerich trommelte mit ihren Fingern auf den grossen Holzschreibtisch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

«Das verlangen die Eltern der Kinder, auch die Versicherungen und nicht zuletzt der Professor, Professor Rossini.»

«Mit Schienen, Apparaten, Geräten – nur wenigstens stehen müssen sie können?», stellte fragend die Physiotherapeutin Brenda Fisher fest.

«Ja, das wird von uns erwartet, verlangt! Wir sind eine Reha!»

Das Trommeln der Finger ging weiter, hektischer noch.

«Nur stehen…, stehen mit Schmerzen, mit einem immensen Aufwand, bis zur Grenze der Erschöpfung – aber auf jeden Fall stehen? Unter allen Umständen?», wieder diese Fragestellung von Frau Fisher.

Abrupt blieben die Finger der Frau Doktor, gestreckt und gespreizt, gespannt auf dem Tisch liegen: «Es geht auch um den Kreislauf und auch um das Gefühl, ‚das Stehen‘ zu erleben, in körperlich aufrechter, senkrechter Position zu sein.»

Brenda schüttelte kaum sichtbar den Kopf: «Wir quälen so die Kinder. Es ist von der Medizin her wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder, die im Rollstuhl sitzen und sich bewegen – sich auch nur minimal bewegen können – nicht von einem Kreislaufkollaps gefährdet sind… In Amerika…»

«Ja, ja, Ihr Amerika, Frau Fisher! Wir wissen Bescheid. Wir sind nicht in den USA. Wir sind in der Schweiz. Schon bei mehreren Patienten haben Sie die Gehübungen beanstandet…»

Brenda hob die Hand, um die Ärztin zu unterbrechen: «Aber nur bei den Kindern, die von den Muskeln her nicht mehr die geringsten Chancen haben, eigenständig Füsse und Beine zu biegen und zu strecken. Und nicht einmal mehr aus eigener Kraft – mit den Händen und Armen eine Krücke, einen Stock oder ein sonstiges Hilfsmittel zu halten vermögen… Vergessen wir nicht: Wir sind jetzt in den Sechzigerjahren und haben zur Problematik bessere medizinische und orthopädische Wissensgrundlagen…»

Mit einer wegwerfenden Handbewegung erhob sich die leitende Ärztin der Klinik: «Das ‚Standing‘ behalten wir auf jeden Fall bei. Und was die Gehübungen betrifft, sehen wir weiter.»

Frau Doktor Emmerichs Tonfall signalisierte, dass daran nicht zu rütteln war.

*

Ein Jahr später.

«Machen wir eine gute Sitzpatientin aus ihr.» Frau Doktor Emmerich blätterte flüchtig im Krankenbericht.

«Das heisst, keine Gehübungen mehr?», fragte Stefanie, eine junge Therapeutin, verwundert. «Sie ist doch erst zwölf.»

«Nein», erwiderte Frau Doktor Emmerich und schüttelte energisch den Kopf. «Es hat keinen Zweck. Erst eine Oberschenkelfraktur, trotz der Gehapparate, dann zwei Bänderrisse, eine starke Prellung an der Schulter, und kurz darauf hat sie den rechten Arm gebrochen. Das alles bei den Gehversuchen in der Physiotherapie. Wir können keine weiteren Frakturen riskieren. Schliesslich kann Anna nicht dauernd in der Schule fehlen.»

Frau Doktor wandte sich an eine andere Therapeutin: «Das Neuste ist nun, dass Anna am linken Handgelenk eine Schürfung hat, die eine Behandlung brauchte. Dazu kommen noch die zwei tiefen Kratzer am Hals, verursacht durch Ihre fahrlässigen, unüberlegten Zugriffe!»

Nun schlug die Ärztin mit der flachen Hand auf den riesigen Schreibtisch: «Das Schlimmste aber ist das Hämatom an Annas Kinn. Sie legt so viel Wert auf ihr Äusseres. Ich fordere mehr Achtsamkeit, meine Dame! Mehr Respekt!»

Scharf taxierte Frau Doktor Emmerich die Therapeutin Ulrike.

«Es ist mir übrigens ein Rätsel, wie das bei Ihnen, Frau Kunze, einer ausgebildeten Therapeutin, geschehen konnte. Anna ist ein zierliches kleines Mädchen. Mit geschulten, geschickten Griffen sollte eine erwachsene Frau ein so leichtgewichtiges Kind festhalten können, sodass es nicht auf diese Art auf die Fliesen fallen müsste.»

«Sie schrie», wehrte sich Ulrike Kunze. «Sie hat geschrien und geweint. Ich weiss nicht mehr, wo und wie ich sie überhaupt noch anfassen darf. Sie ist hysterisch, die Anna.»

«Das überrascht mich», meinte eine dritte Therapeutin, Frau Fisher, die Amerikanerin, «sie wirkt doch eher ruhig, still. Und Anna sagt immer genau, wie man sie anpacken soll. Sie weiss sehr bestimmt, wie es am besten geht. Ja, sie macht es einem in dieser Hinsicht leicht.» Die Amerikanerin nickte dabei, um es so noch mehr zu betonen.

«Anna hat Angst vor dir», bemerkte Irene zu Ulrike hin. «Ich habe gehört, wie sich die Kleine einmal bei einer Krankenschwester beschwert hat, Ulrike sei eigentlich keine Heilgymnastin, sie sei eher eine Heilhitlerin.»

Frau Doktor horchte auf: «Von wem hat die kleine Anna das wohl?»

«Aus den Büchern, die sie liest, Bücher, die mir noch nicht für ihr Alter geeignet erscheinen.» Frau Kunze setzte sich auf ihrem Stuhl sehr gerade, sehr aufrecht hin, «und weil ich eine Deutsche bin!»

«Nein, nein, das ist es nicht!», entgegnete Stefanie. «Du bist tatsächlich oft sehr grob. Die meisten Patienten haben Angst, wenn du nach den Fangopackungen zum Durchbewegen eingeteilt bist. Es ist schon öfters passiert, dass du dabei Sehnen überdehnt hast. Wie weh das tut, weisst du, das weiss jeder.»

«Das tut mir leid», sagte Ulrike bedauernd und blickte Stefanie mit ihren grossen, grauen Augen an, als sei es ganz allein ihr Kummer, ihr Unglück.

«Sie werden sich in Zukunft mehr Mühe geben, Frau Kunze. Ich erwarte das von Ihnen. Und wir sind nicht da, um die Kinder zu quälen. Sicher, wir wollen Fortschritte sehen, aber das im Rahmen des Möglichen. Vergessen Sie das nicht, meine Damen.» Die Ärztin runzelte die Stirn und nickte ein paar Mal. Für einen kurzen Augenblick sah sie zu Frau Fisher hin, die ihren Blick gleichmütig auffing.

Karen, die sich bisher aus der Diskussion herausgehalten hatte, fand es nun doch an der Zeit, sich einzumischen: «Ja, also – offensichtlich wurde Mohammed mit dem gebrochenen Bein durchbewegt.»

«Ich werde zu wenig unterrichtet!» Frau Doktor Emmerich beugte sich entrüstet vor, richtete sich plötzlich auf, klopfte mit dem Zeigfinger auf den Schreibtisch und fing an, den Therapeutinnen vorzuwerfen, sie hätten ihr nicht richtig rapportiert, sie nicht genügend informiert.

«Wer hat Mohammeds gebrochenes Bein durchbewegt?» fragte sie laut. Sie schaute von einer Therapeutin zur anderen. «Karen, antworten sie mir!»

«Es war Ulrike», kam es leise von Karen her. «Erst am dritten Tag, nachdem er immer noch weinte und jammerte, dass ihm das Bein wehtäte, brachten Brenda», Stefanie sah Frau Fisher an, «und ich Mohammed ins Röntgen.»

«Das ist ja ein Drama!» Wieder schlug Frau Doktor mit der Hand hart auf den Tisch. «Frau Kunze, Sie werden sich für ein Gespräch bei Professor Rossini zur Verfügung stellen! Und ab heute übernimmt Frau Fisher die Behandlungen der kleinen Anna.»

«Bei uns in den Staaten», lenkte Brenda ab und wandte sich zu Stefanie hin, «macht man mit so stark gelähmten Patienten schon längst keine Gehübungen mehr. Man ist ganz davon abgekommen, weil man sich so auf andere Körperfunktionen konzentrieren und andere Kräfte freisetzen kann, was für den Patienten mehr von Nutzen ist – und vor allem sein wird.»

«Entschuldigen Sie, Brenda!», erhob Frau Doktor Emmerich die Stimme, «ja, diese Methode aus Amerika, ‚gute Sitzpatienten‘ zu machen, habe ich nun wirklich als therapeutisch brillant durchdacht kennengelernt. Dafür bin ich dankbar. Wir können also alle voneinander lernen, nicht wahr, meine Damen?»

Brenda senkte den Kopf.

«Frau Fisher, Sie werden mit Anna über den veränderten Therapieplan sprechen. Sie erklären ihr, warum man zum Entschluss gekommen ist, die Geh- und Stehübungen abzubrechen. Über Annas Reaktionen werden Sie mir akkurat rapportieren.»

«Es wird nicht einfach sein, es ihr beizubringen», gab Frau Fisher zu bedenken.

«Ja, ich weiss», nickte Frau Doktor Emmerich, «Anna ist ein kritisches Mädchen. Aber es ist Ihre Aufgabe, Brenda, mit ihr zu sprechen.»

*

Anna hörte mit trockenem Schluchzen zu. Was für eine Lehrstunde!

«Versteh doch. Ich will dich unterstützen.» Brenda Fisher kniete neben Annas Rollstuhl und hielt einen Arm von Anna mit beiden Händen: «Deine Hände und deine Arme sind wichtig, die musst du bewegen und brauchen können, um selbstständiger zu werden. Gut und gerade und sicher musst du im Rollstuhl sitzen können, damit du aktiv am Leben teilnehmen, dich darüber freuen kannst. Mit dem Rollstuhl kannst du in jede Schule, ins Kino, ins Theater und spazieren gehen. Du kannst überallhin. Anna, dir bleibt die Welt offen, wirklich! Ich kenne viele Menschen, die gelähmt sind und trotzdem alles mitmachen mit den starken, gesunden Leuten.»

Anna war fassungslos. Sie hörte die Prognose der Expertin, die Prognose, die nicht sein konnte, nicht so ausweglos und ohne Milderungsgründe. Aber die Expertin war unerbittlich und unbarmherzig wie Annas Schicksal.

«Aber ich will doch auf meinen Beinen gehen können.»

«Was nützt es dir, Anna, wenn du die Gehapparate nicht selber anziehen kannst, dich nicht selber aufrichten, nicht alleine stehen und keinen Schritt machen kannst, ohne dass dich auf jeder Seite eine Person halten muss. Anna, sei doch vernünftig!»

«Irgendwann werde ich doch wieder ohne Apparate auf meinen Beinen stehen können. Habe ich in der letzten Zeit nicht Fortschritte gemacht?»

«Du solltest dir jetzt nichts vormachen. Du weisst es genau, dass du seit zwei Jahren einen Stillstand hast.»

«Ich werde also nie mehr gehen dürfen?»

«Du wirst anderes...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Aus dem Nest gefallen • Aussenstation
ISBN-10 3-907106-55-5 / 3907106555
ISBN-13 978-3-907106-55-6 / 9783907106556
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