Dein ist das Reich (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
480 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2452-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dein ist das Reich -  Katharina Döbler
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Ein ungewöhnlicher Familienroman über ein verschwiegenes Kapitel deutscher Geschichte: die Beziehung zwischen christlichem Sendungsbewusstsein, Kolonialismus und Rassismus. Die Familienerzählungen, die vom ländlichen Bayern an die Südsee führten, waren so behaftet mit Unglück und Nostalgie, dass sie, die Nachgeborene, sie stets von sich wies. Zumal die Großeltern auf der falschen Seite standen: Sie waren Kolonialisten, und zwar überzeugte. Doch jetzt will die Enkelin mehr wissen, sichtet die Spuren, die der Kolonialismus und zwei Kriege in ihrer Familie hinterlassen haben. Immer deutlicher entrollt sich vor ihr die exotische Welt Neuguineas, in die ihr Großvater Johann als abenteuerlustiger Missionar auszog, um die Heiden im 'Kaiser-Wilhelmsland' zu bekehren. Eine vermeintliche Südsee-Idylle, geprägt von Bigotterie und Chauvinismus, in der sich die Wege vierer eigensinniger Menschen - ihrer Großeltern - schicksalhaft kreuzen. Klug und mit feinem Humor zeichnet die Erzählerin des Romans nach, wie die große Weltgeschichte über das kleine Leben der Familie hinwegfegt.

Katharina Döbler, Jahrgang 1957, studierte Theaterwissenschaften, experimentierte als Kabarettistin und Punksängerin, schrieb das Theaterstück Schneeziegenmanöver (UA 2000) und Hörspiele. Als Journalistin arbeitet sie für den Rundfunk und Le Monde Diplomatique. 2010 erschien ihr viel beachtetes Romandebüt Die Stille nachdem Gesang. Die Autorin lebt in Berlin.

Katharina Döbler, Jahrgang 1957, studierte Theaterwissenschaften, experimentierte als Kabarettistin und Punksängerin, schrieb das Theaterstück Schneeziegenmanöver (UA 2000) und Hörspiele. Als Journalistin arbeitet sie für den Rundfunk und Le Monde Diplomatique. 2010 erschien ihr viel beachtetes Romandebüt Die Stille nach dem Gesang. Die Autorin lebt in Berlin.

Prolog


Es war Sommer, als ich zum letzten Mal mit meiner Großmutter allein war.

Sie hieß Linette, aber genannt wurde sie immer nur Nette. Die späten, sesshaften Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einem süddeutschen Städtchen mit Rokokoschloss, Kopfsteinpflaster, Kirchen und einer amerikanischen Garnison. Hier fühlte sie sich sicher. Ob sie sich auch zu Hause fühlte, weiß ich nicht.

In den heißen Tagen damals erzählte sie mir zum letzten Mal von ihren Schiffen und Heiden, ihren Dämonen und Soldaten.

Die Weltgeschichte, Kind, wird nicht von den Frauen gemacht, sagte sie am Ende, aber sie müssen halt darin leben.

Ihr alter Seufzer.

Meine junge Ungeduld gegenüber solchen Sätzen und Seufzern.

Wir saßen im Garten zwischen Bohnen, Beeren, Gartenzwergen und Phlox. Das Holzbänkchen roch in der Hitze nach altem Lack.

Ich trug eine zweifarbige Stachelfrisur, die sie missbilligte, große Ohrringe, die sie ebenfalls missbilligte, und Flickenjeans, die sie am allermeisten missbilligte, nur meine Lederjacke fand sie vernünftig. Und ich fragte mich zum ersten Mal in meinem Leben, was die Weltgeschichte mit meiner Großmutter zu tun hatte.

Bis dahin war ich nie auf den Gedanken gekommen, ihre Erzählungen an irgendeiner Art von Wirklichkeit zu messen. Sie waren die Märchen meiner Kindheit, die auf dem langsamen Fluss ihrer hohen, leisen Stimme dahinzogen, unerklärlich, schrecklich und schön. In meiner Vorstellung spiegelten sie sich als unklare schwarz-weiße Bilder, ähnlich den Fotografien, auf denen meine weißen Verwandten in weißen Kleidern und schwarze, mit weißen Streifen bemalte Papua unter Palmen zu sehen sind.

Ich war ein Kind. Ich hielt einen Wollstrang um die Hände gespannt, meine Großmutter wickelte das Knäuel, der Faden zuckte zwischen uns beiden hin und her.

Dann kamen die Soldaten, und wir mussten weg. Der Krieg –

Sie machte eine Pause. Ich kannte das schon. Nach dem Krieg kam immer eine Pause. Einen tiefen Atemzug lang sagte sie dann nichts und tat nichts.

Die Offiziere im Lager waren ganz scharf auf Muskatnüsse, fuhr sie schließlich fort, während ihr Handgelenk wieder rasend schnell um das Wollknäuel kreiste. Die konnten nicht genug davon kriegen. Wir haben ihnen immer welche gesammelt.

Ich stellte mir meine zierliche Großmutter vor, mit ihrem Haarknoten und ihrer ewigen Schürze, wie sie sich unter Nussbäumen bückte, umringt von Männern mit Reitstiefeln und Peitschen. Dieses Bild ist in meinem Gedächtnis so lebendig, als hätte ich das alles selbst gesehen, als wäre es tatsächlich so gewesen. Aber welche Wirklichkeit verbarg sich dahinter? Was für Offiziere waren das? Für wen und gegen wen haben sie gekämpft? Wer außer ihr war in diesem Lager? Und wo wachsen überhaupt Muskatnüsse?

Meine Großmutter hat immer nur nebenbei erzählt. Was ihr gerade so einfiel, während sie Wolle wickelte, Äpfel schälte oder sonst etwas tat, sie tat immer etwas. Vielleicht hat sie mich dabei manchmal einfach vergessen, denn sie redete ganz selbstverständlich über Grausamkeiten und Gefahren, die man Kindern gewöhnlich verschweigt. Ich erinnere mich an ihre Geschichte über eine Frau, die am Ende vom Teufel geholt wurde und mit schreckensstarren Augen starb. An die Existenz von Teufel und Dämonen glaubte sie fest.

Meine Großmutter war anders als alle anderen Menschen meiner Welt.

Sie kochte bizarre, bunte Gerichte. Sie hatte immer eine Schürze um, außer in der Kirche, manchmal sogar zwei. Sie trug so viele Kleider übereinander, dass sie bei Einbruch der Dämmerung mit dem Ausziehen begann und erst bei Sonnenuntergang damit fertig war.

Sie weinte im Schlaf.

Sie war regelmäßig wie der Tag und die Nacht. Sie war da, wenn ich aufwachte, und ging zusammen mit mir zu Bett.

Sie rupfte Hühner und zeigte mir beim Ausnehmen die Eierstöcke im Bauch. Sie strickte Strumpfhosen aus fürchterlicher, kratziger brauner Wolle. Sie glättete die Wellen des Fiebers mit eisigen Wickeln. Sie erfand ein Märchen, in dem ein Huhn mit einer Schere den Fuchs erledigte.

Jeden Morgen flocht sie ihr dünn gewordenes Haar zu einem Zopf, den sie als Knoten aufsteckte. Der winzige Dutt hielt nie lange, herausgefallene Haarnadeln markierten die Spur meiner Großmutter durch Haus und Garten. Niemals hätte sie ihr Haar abgeschnitten. Sie glaubte, dass Frauen bestimmte Dinge nicht tun durften, wenn sie nicht hässlich und unanständig werden wollten.

Als ich trotz ihrer Missbilligung in das von Russen umzingelte Berlin zog – die Frauen dort, wusste sie, rauchten und führten auch sonst ein liederliches Leben –, schickte sie mir jeden Monat fünfzig Mark. Sie schrieb dazu, ich solle davon Fleisch und keinesfalls Zigaretten kaufen, mich im Übrigen vor den Roten in Acht nehmen und vor Männern, die trinken und spielen und keine ernsten Absichten haben.

Sie schrieb viele, viele Briefe, nicht nur an mich, und sie schrieb auch, wenn sie keine Antwort bekam.

Lange Zeit hatte sie kein Telefon, sie lebte im spärlichen Komfort der 1930er-Jahre. Die Woche über sammelte sie Kleingeld, das sie am Samstagnachmittag zum Telefonhäuschen trug. Sie führte eine Liste, in der sie vermerkte, wonach sie sich erkundigen musste: ob das Paket angekommen oder die Krankheit überwunden war, ob das Geld reichte, ob eine Prüfung, eine Hochzeit, ein Kind bevorstand. Sie sprach in kurzen, knappen Sätzen, während die Münzen durchs Telefon ratterten. Ihr Gesprächsstil änderte sich auch nicht, als sie später ein eigenes Telefon hatte. Sie plauderte nicht, sie fragte, sammelte Informationen wie eine Spionin.

Sie brauchte alle Fakten, die sie in Erfahrung bringen konnte, für ihre Gebete. Jeden Tag zählte sie ihrem Gott die Namen derer auf, die sie ihm ans Herz legen wollte. Sie glaubte, dass er ein Herz hatte. Ihre Gebete waren lang, es kamen ständig Namen hinzu, die von Urenkeln und von Opfern immer neuer Katastrophen. Die Toten wurden nicht vergessen. Sie war froh, dass ihr Gedächtnis nicht nachließ und sie all die deutschen, amerikanischen, holländischen, papuanischen und chinesischen Namen behielt, samt den zugehörigen Geschichten und Familien und dem, was sie Anfechtungen nannte. Sie glaubte, dass ihr Gott sie nicht sterben ließ, weil es ihre Aufgabe war, für diese Menschen zu beten. Und wie immer erfüllte sie ihre Aufgabe gewissenhaft.

Ein Laster aber hatte auch sie, und sie kämpfte mit der ganzen Weisheit ihrer protestantischen Seele dagegen an: Sie las. Sie las nicht einfach nur gern. Sie las gierig wie ein hungriges Krokodil. Sie las und versank in ihrer Lektüre wie in einem weichen Bett (das sie nie hatte), wie in Wolken und Träumen, während die Zeit verging, die Nacht verging, die Kinder wieder einen Millimeter wuchsen und es so viel anderes zu tun gab. Sie wusste, dass es Sünde war. Das ausgedachte Zeug, aus dem Romane bestehen, die unerfüllbaren Sehnsüchte einer falschen Wirklichkeit, die weder göttlich noch wahrhaft menschlich ist: Das war Gift für die Seele, Spekulation, vertane Zeit.

Sie sah, dass ich diesem süßen Gift ebenso verfallen war wie sie, und sie war mit ihren Geschichten nicht unschuldig daran. Deshalb brachte sie mir bei, worin der Unterschied zwischen wertvollen und zu missbilligenden Büchern bestand. Wertvoll waren solche, die aus reiner Wahrheit bestanden und deshalb ein bisschen langweilig waren. Noch wertvoller solche, in denen man außerdem etwas lernen konnte, zum Beispiel wie sich selbst unter widrigen Umständen ein gottgefälliges Leben führen ließ.

Die widrigen Umstände waren oft recht unterhaltsam.

Irgendwann beschloss sie, nur noch wertvolle Bücher zu lesen. Biografien wurden zu ihrer bevorzugten Lektüre, am liebsten solche von Frauen, die in der Fremde echte Not erlebt hatten. Und meistens waren die Heldinnen ihrer Bücher Heidenmissionarinnen, so wie sie.

Ihre eigenen Erzählungen waren von großer Lakonie, was sie noch fantastischer machte, als sie ohnehin waren.

Die Männer haben unter unserm Haus gesessen und gemurmelt, sagte sie etwa. Sie waren bemalt. Die wollten nichts Gutes. Die ganze Nacht ging das. Die waren direkt unter mir, da war nur der dünne Bambusboden dazwischen, ich hab sie hören können. Und ich war mit den Kindern allein. Am nächsten Morgen waren sie weg. Ich glaube, sie haben gezaubert.

Ich habe ihre Geschichten, wie die Geschichten all meiner Verwandten, hingenommen wie Ereignisse, die in einem Buch stattfinden: Geschichten von eigener, fremdartiger Logik. Es war allerdings so, als würden aus diesem dicken Buch immer nur ein paar Abschnitte gelesen. Die Lücken waren groß, die Zusammenhänge unklar.

Überlieferungen, das weiß ich heute, bestehen zum großen Teil aus Verschwiegenem. Ich habe lange geglaubt, es wäre alles gesagt, habe sehr wenig gefragt. Es interessierte mich nicht mehr, als ich dem Märchenalter entwachsen und mit meinem eigenen Leben beschäftigt war. Und ich hatte genug von der Düsterkeit dieser Familiensaga.

Die Schätze unserer Vergangenheit lagerten in einer schwarzen geschnitzten Truhe aus China. Ein Messer aus Knochen, gerötet von Betelsaft. Eine struppige Paradiesvogelfeder,...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Autobiografisch • Autobiographisch • Bayern • christliche Mission • Erinnerung • Familie • Generationen • Geschichte • Kaiser-Wilhelms-Land • Kolonialismus • Missionar • Nationalsozialismus • Neuerscheinung 2021 • Rassismus • Roman • Südsee • Welt
ISBN-10 3-8437-2452-0 / 3843724520
ISBN-13 978-3-8437-2452-4 / 9783843724524
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