Die Übernahme (eBook)

Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde
eBook Download: EPUB
2020 | 6. Auflage
319 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-77052-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Übernahme - Ilko-Sascha Kowalczuk
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Dreißig Jahre nach dem Mauerfall ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Was genau lief im Osten ab, als er vom Westen übernommen wurde? Worin unterscheidet sich Ostdeutschland von anderen Regionen in der Bundesrepublik? Und weshalb sind Populisten und Extremisten hier so erfolgreich? Ohne Scheuklappen stellt der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch harte Fakten neben persönliche Erfahrungen - und liefert damit das politische Buch der Stunde.
Die Revolution in der DDR kam völlig überraschend. Als die Mauer fiel, hatte niemand damit gerechnet. Die Herstellung der deutschen Einheit erfolgte in einem rasanten Tempo. Fast nichts blieb im Osten so, wie es war. Die Menschen mussten ihren Alltag, ihr Leben von heute auf morgen komplett neu einrichten. Die sozialen Folgen waren enorm und sind im Westen bis heute meist unbekannt. Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt in seinem kurzweiligen Essay, wie sich die Umwandlung Ostdeutschlands vollzog, welche Gewinne und Verluste die Menschen dort verbuchten und wie die ostdeutsche Gegenwart mit der Vergangenheit von vor und nach 1989 zusammenhängt. Er entfaltet dabei ein breites politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Panorama - mit Ecken und Kanten, voller Überraschungen und Zuspitzungen. Eine kontroverse Debatte zum Jubiläum ist garantiert.

Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker. Er hat zahlreiche Bücher zur DDR-Geschichte veröffentlicht.

1

Zwischen Aufbruch und Abbruch


Geschichten


Dieter starb nur wenige Tage vor seinem 65. Geburtstag. Wir schreiben das Jahr 1998. Neun Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen, acht Jahre seit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands: Aufbrüche. Hoffnungen. Erwartungen. Enttäuschungen. Bitternis. Alles nacheinander und alles zugleich. Es war eine aufregende Zeit, auch für Dieter. Schließlich das ultimative Aus. Nicht einmal die Rente konnte er genießen. In der DDR kannte jeder den Witz: Ein guter Kommunist stirbt an seinem 65. Geburtstag, um die leeren Kassen des Staatshaushaltes nicht zu belasten – oder geht in den Westen, um dem Klassenfeind zu schaden. Dieter war nicht in den Westen gegangen. Dieser kam zu ihm. Gefreut hatte er sich, endlich im Osten den Westen zu haben.

Dieter hatte keine untypische Karriere hingelegt. Am Ende des letzten großen Krieges mit Brüdern und Mutter vertrieben, ging er nur kurz im Brandenburgischen zur Schule. Er musste Geld verdienen, die Familie mit ernähren. Dieter wurde Maurer – im Nachkriegsdeutschland ein nützlicher, gefragter, krisenfester Beruf. Er baute viel, auch nach Feierabend und am Wochenende. Rackern und Schuften von morgens bis abends. Bescheidener Wohlstand stellte sich ein. Er brauchte diesen nicht, aber seinen beiden Kindern sollte es an nichts fehlen, sollte es besser ergehen als ihren Eltern. Alsbald ging er abends nicht mehr auf den Bau, sondern in die Schule. Fortbildung. Weiterbildung. Vorbild wollte er seinen Kindern sein. Dieter war es. Seine Kinder studierten. Ihr Vater machte Karriere. Stück für Stück. Ohne Kompromisse ging es nicht. Er trat in die Partei, die SED, ein. Kommunist war er nicht, wurde er nie. Dankbar war Dieter für die Chancen, die ihm die Kommunisten boten. Er griff zu, machte mit, der Parteieintritt als notwendiges Übel. Er wurde schließlich Direktor eines kleinen Baubetriebes im ländlichen Raum, in der fruchtbaren Magdeburger Börde. Er ackerte und schuftete. Es war zum Verzweifeln. Immer fehlte etwas. Bauen im Sozialismus war fast so unmöglich wie der Aufbau des Sozialismus selbst. Dieter fluchte, ackerte, trank zuweilen aus Ärger und Frust einen zu viel. Alles ganz normal. DDR eben. Aber er schaffte es irgendwie immer wieder, alles hinzubekommen, irgendwie. Es ging seinen sozialistischen Gang.

Dann 1989: Erstmals darf er im Sommer mit seiner Frau in die Bundesrepublik fahren, seinen Bruder besuchen, der noch vor dem Mauerbau 1961 abgehauen war. Sein erster Weg führt ihn in einen Baumarkt. Dieter hat sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr unter Kontrolle: Er weint, ist fassungslos, obwohl er es doch wusste. Hier steht und liegt alles in Hülle und Fülle herum, Baustoffe wie Werkzeuge, denen er in seinem Arbeitsalltag ständig hinterherrennt. Was könnte er bauen, wenn er diese Beschaffungsprobleme nicht hätte! Was hätte er dann für wunderbare Probleme, lösbare!

Er fährt zurück ins Anhaltinische. Beeindruckt, ergriffen vom Westen, entsetzt, entmutigt vom Osten. Nur Wochen später fällt die Mauer. Getan hat er dafür nichts. Der Mauerfall kam über ihn. Dieter freut sich. Er ist 56 Jahre alt und schwört, nun noch einmal durchstarten zu wollen, da er nun endlich so bauen könne, wie er es schon immer wollte. Aus der Partei tritt er nebenbei aus, zahlt einfach keine Beiträge mehr. Im Frühjahr 1990 wird er Geschäftsführer einer gerade gegründeten GmbH, der sein Betrieb nun gehört. Wie genau das abgelaufen ist? Die Privatisierung im Osten wird auch Jahre später noch große Rätsel aufgeben. Dieter ist jetzt jedenfalls Geschäftsführer. Elan und Engagement zeichnen ihn aus. Was soll jetzt noch schiefgehen? Die Auftragsbücher sind voll. Die Baumärkte prächtig gefüllt. Es kann losgehen. Die paar Kredite zur Ankurbelung können doch kein Problem sein.

Der Nachbarbetrieb mit Grund und Boden und für schuldenfrei erklärt ist für eine symbolische Mark Mitte 1991 an einen schwäbischen Unternehmer verkauft worden. Grund und Boden für eine symbolische Mark! Dazu keine Schulden. Dieter kommt nicht aus Stuttgart oder Hamburg, aus Düsseldorf oder München, sondern aus Magdeburg. Ihm werden die «Altschulden» nicht erlassen. Er erfährt, sein Betrieb ist überschuldet wegen der «Schulden», die sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre angehäuft hätten. Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein! Habt Ihr gar keinen Durchblick? Altschulden aus der DDR-Zeit? Altschulden als Mitgift der DDR-Volkswirtschaft? Wisst Ihr gar nicht, wie das lief mit den Schulden in der DDR? Dass das nur Buchungstechnik in der Planwirtschaft war? Das ist doch nicht zu fassen! Und warum werden die Altschulden den neuen Besitzern aus dem Westen eigentlich erlassen?

Viele Fragen, keine Antworten. Dieter ist gezwungen, faule Kompromisse einzugehen. Die Arbeiter und Angestellten sind damit einverstanden, unter Tarif bezahlt zu werden, damit niemand entlassen werden muss. Der Chef selbst halbiert sein Gehalt. Dann wird gar keines mehr bezahlt. Alle sind damit einverstanden. Nun wird es brenzlig. Monatelang kann der Betrieb keine Sozialabgaben abführen. Die Firma nebenan ist sofort zugemacht worden, die neuen Besitzer dachten gar nicht daran, die Arbeitsplätze zu erhalten, für eine Mark Grund und Boden! Die lachen noch heute. Dieter kämpfte, für die Kollegen, für sich. Es nützte nichts. Niemand half. Keiner hatte Interesse daran, dass der einstige kleine DDR-Baubetrieb mit der neuen GmbH überlebt. Die Banken geben Dieter, dem Geschäftsführer, keine Termine mehr. Die Schulden häufen sich, obwohl die Auftragsbücher voll sind. Viele haben ähnliche Probleme, können Rechnungen nicht bezahlen oder nur nach monatelanger Verzögerung. Ein Teufelskreislauf, dem nur entrinnen kann, wer auf Rücklagen zurückgreifen kann. Die hat kein Ostler im Osten. Der Betrieb von Dieter hat viele Außenstände, aber niemand zahlt sie. Dieter haftet auch privat, ganz persönlich. Der Staatsanwalt schaltet sich ein. Dieter wird krank. Krebs. Unheilbar. Ganz schnell geht es. Das ultimative Aus. So optimistisch gestartet. So hart gelandet. Gerecht war das nicht. Er stirbt an dem Tag, an dem er ins Gericht zur ersten Verhandlung vorgeladen worden ist.

Diese Geschichte ist nicht ausgedacht, verdichtet, aus vielen Mosaiken zusammengefügt. Nein, ich habe nicht irgendeine Geschichte erzählt. Es ist das Leben des Vaters meiner Frau, meines Schwiegervaters. Ich lernte ihn 1990 kennen und habe das alles Stück für Stück mitbekommen. Die Hoffnungen, die Tragik, das Ende. Ganz ähnlich und doch ganz anders mein eigener Vater: Er arbeitete in den achtziger Jahren im «Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung» (ASMW), dem ostdeutschen Pendant zum «Deutschen Institut für Normung» (DIN). Auch mein Vater gehörte wie Dieter zu den Nachkriegsgewinnern: Sein Vater ist noch vor seiner Geburt ums Leben gekommen. Mit seiner Mutter 1946 aus Böhmen vertrieben, landet mein Vater in Gützkow in der Nähe von Wolgast. Er will Pastor werden. Das redet ihm sein Religionslehrer aus. In der DDR würden die Pastoren bald ans Kreuz genagelt. Harte Zeiten sind das, Anfang der fünfziger Jahre. Der Sportbegeisterte darf nicht Sport studieren, wird Finanzökonom. Auch er tritt in die SED ein, aber aus Überzeugung, am 12. April 1961, einem Datum, das fast allen älteren Ostdeutschen geläufig ist. Erst der Sputnik-Coup am 4. Oktober 1957, nun der Gagarin-Triumph, der Kommunismus hat gesiegt – vorerst nur im Weltraum. Der Katholik ist nun Kommunist mit einem Kruzifix auf dem Nachttisch. Mein Vater versucht sogar, Anfang der sechziger Jahre Mitarbeiter der Staatssicherheit zu werden. Er wird nicht genommen, weil er sich nicht traut, seiner tiefgläubigen Mutter zu sagen, dass er aus der Kirche ausgetreten ist. Seine versuchte Mitarbeit bei der Stasi bleibt eine unwesentliche Episode, über die auch wir Kinder in den siebziger Jahren aus seinen Erzählungen erfahren. So wie wir wissen, wer in unserer Familie die Kommunisten hasst, wer im Knast war, wer gegen die Kommunisten kämpfte, wer Kommunist ist. Verrückte Geschichten, wie in vielen, vielen anderen Familien alles auch in unserer gebündelt. Anpassung und Selbstbehauptung, Mitmachen und Widerspruch, Überzeugung und Verrat – immer wieder auch in einer Person, in einer Biographie. Mein Großvater väterlicherseits zum Tode verurteilt wegen seines Kampfes für eine freie, unabhängige Ukraine – und kurz vor der geplanten Hinrichtung befreit und außer Landes gebracht; der Bruder meines Großvaters mütterlicherseits erschießt sich als Leutnant der Wehrmacht auf Weihnachtsurlaub von der Ostfront 1943 aus Gram über die...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2020
Reihe/Serie Beck Paperback
Beck Paperback
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte BRD • DDR • Deutschland • Geschichte • Gesellschaft • Jubiläum • Mauerfall • Politik • Transformation • Transition • Wende • Wiedervereinigung • Wirtschaft
ISBN-10 3-406-77052-5 / 3406770525
ISBN-13 978-3-406-77052-4 / 9783406770524
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