Niemandsland (eBook)

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2020 | 1. Auflage
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76749-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Niemandsland -  Juan Carlos Onetti
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Niemandsland erzählt von einer lose verbundenen Clique mit sich überkreuzenden erotischen Beziehungen: ein Maler, ein Schriftsteller, ein Anwalt, ein linksrevolutionärer Gewerkschaftler, der Zuhälter Larsen, ein junges Mädchen, die Frau mit dem gelben Haar, eine Prostituierte - nicht das Gefüge der Handlung, sondern die kaleidoskopartige Erzählperspektive, mit der die Lebenswünsche und Lebenslügen all dieser Figuren im Geflecht ihrer Beziehungen dargestellt werden, macht die Intensität dieses frühen Werks Onettis aus.



<p>Juan Carlos Onetti (*1909 in Montevideo, Uruguay, &dagger;1994 in Madrid, Spanien) ist vielfach und zu Recht als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller bezeichnet worden. 1932 erschien im Rahmen eines Literaturwettbewerbs eine Erz&auml;hlung von ihm in der argentinischen Tageszeitung <em>La Prensa.</em> Sein erster Roman, <em>El Pozo</em> (dt. <em>Der Schacht,</em> 1989), folgte 1939 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Er ver&ouml;ffentlichte insgesamt elf Romane und zahlreiche Erz&auml;hlungen sowie zwei Sammlungen von Artikeln, von denen die Mehrzahl ins Deutsche &uuml;bersetzt wurde.</p> <p>Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und Montevideo, arbeitete unter anderem f&uuml;r die Nachrichtenagentur Reuters, war lange Jahre als Direktor der st&auml;dtischen Bibliotheken in Montevideo t&auml;tig und publizierte regelm&auml;&szlig;ig in verschiedenen uruguayischen Zeitschriften. Erst mit dem Roman<em> La vida breve </em>(1950, dt. <em>Das kurze Leben, </em>1978) erlangte er einen gewissen Bekanntheitsgrad, blieb aber noch viele Jahre lang eine Art &raquo;Geheimtipp&laquo; und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil. In <em>La vida breve</em> erschuf er den fiktiven Kosmos um die Stadt Santa Mar&iacute;a, der in vielen weiteren Romanen und Erz&auml;hlungen auftauchen sollte.</p> <p>W&auml;hrend der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod blieb und die Romane <em>Dejemos hablar al viento</em> (dt. <em>Lassen wir den Wind sprechen,</em> 1986),<em> Cuando entonces </em>(dt. <em>Magda,</em> 1989) und <em>Cuando ya no importe </em>(dt.<em> Wenn es nicht mehr wichtig ist,</em> 1996) ver&ouml;ffentlichte.</p> <p>Der uruguayische Nationalpreis f&uuml;r Literatur wurde ihm gleich zweimal verliehen: 1962 und nach der R&uuml;ckkehr der Demokratie noch einmal 1985. Au&szlig;erdem erhielt er 1980 den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Cervantes-Preis.</p> <p>1994 erschien die erste Ausgabe der <em>Cuentos completos </em>(dt. <em>Willkommen, Bob.</em> Gesammelte Erz&auml;hlungen, 1999) in Buenos Aires. Am 30. Mai desselben Jahres starb Juan Carlos Onetti 84-j&auml;hrig in Madrid.</p> <p>Fast alle gro&szlig;en Autoren Lateinamerikas erkennen Onettis Einfluss auf ihr eigenes Werk an, und von vielen wird er f&uuml;r den ...

I


Das Taxi bremste an der Ecke der Diagonal, und der Körper der Frau mit dem gelben Haar wurde zum Fahrer hin gestoßen. Der gesenkte Kopf starrte immer noch auf den blauen Brief, der ihre Schenkel trennte. ›Wir werden aufeinander zurückgeworfen wie ein Ball, ein Reflex…‹

Während sie seufzte ›wir werden aufeinander zurückgeworfen‹, kam überraschend die Geburt des großen roten Schriftzuges.

Ein Blutfleck: »Bristol.« Dann sogleich der bläuliche Himmel und ein weiterer Lichtstoß: »Importierte Zigaretten.« Wieder der Himmel. Im Kreuz der Straßen schlugen die riesigen Buchstaben auf die Flanke des ersten Wolkenkratzers, auf seinen Stufenturm. Bristol, die Luft, Zigaretten, kleine Wölkchen. Die roten Lichtstöße liefen über die verlassenen Dachterrassen und befleckten flüchtig das finstere Grau der Brüstungen.

Durch das schmutzige Fenster ließen sie das Lachen des Mannes auf dem Bild an der Wand erröten. Ein schnell geschlossener Fächer an den Wänden und ein dicker Balken quer über dem bereits erkalteten Griff der Pistole auf der Bettdecke.

Die Hand des schlafenden Mannes hing über dem Boden. Den Schatten und den vorbeihuschenden roten Worten entrückt, atmete der Mann langsam und geräuschvoll, eine Hand an der Gürtelschnalle, die rechte über den Dielen voller Flecken und Spucke.

Draußen, im gelben Licht des Flures, schob sich eine weitere Hand vor und legte sich um die Türklinke. Abgesperrt. Der dicke Mann zog gereizt die Finger ein und wartete. ›Er wird doch nicht auf die Idee gekommen sein…‹ Er klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür.

Aber das einzig Lebendige in dem kleinen Zimmer war das Flimmern des Lichtes an der Wand und der breite, rasche Streifen, der über das Bett glitt.

Er klopfte erneut, nun mit der Faust, wieder und wieder. Dazwischen wartete er, strich sich über das fleischige Kinn und blinzelte zu dem schmutzigen Licht hin.

Das Klopfen drang zu dem liegenden Mann wie rasche Gongschläge, und im stillen Land des Schlafes wurden die Geräusche in ebendiese goldene Scheibe des Gongs verwandelt. Ein leuchtender Mond drehte sich wie wild, kam näher, stieg auf und nahm den Mann schließlich mit nach oben. Wieder verspürte er die Angst des Wachzustandes, nur wegen der drei rhythmischen Schläge an der Tür. Er blieb sitzen und schüttelte im Dunkeln das Gesicht. Tock, tock, tock, machten die Schläge. Die Hand tastete auf der Decke nach dem Griff der Waffe. Er lauschte reglos inmitten ferner Geräusche und seines Atems. Wieder sprangen ihn die Schläge an, wütend und ungeduldig.

Er stand ganz auf und schlurfte in Strümpfen über die Kühle der Dielen. Die Tür sagte:

»Ich bin's. Mach auf.«

Er atmete auf, und sein Körper entspannte sich, er machte das Licht an, zog den Schlüssel aus der Tür und kehrte zum Bett zurück, mit dem Rücken zu dem eintretenden Mann.

Larsen schloß die Tür. Er kam langsam herein, klein und rund, die Hände in den Taschen des dunklen Mantels.

»Ich dachte, du bist nicht da, hm?«

Der Mann in Strümpfen warf den Revolver auf das Bett.

»Ja. Ganz genau.«

Er streckte im Sitzen die Beine aus und gähnte. Da war etwas Feiges, Befangenes, eine plumpe Verstellung in dem gleichgültig zur Grimasse verzogenen Gesicht.

»Hör zu. Heute nacht habe ich kein Auge zugetan. Ich weiß nicht einmal, bis wann.«

Larsens kleiner aufgeworfener Mund deutete auf den Revolver.

»Angst vor einem Türken zu haben…«

Er lachte schrill auf wie eine Frau. Mit dem Bein angelte er sich einen Stuhl und setzte sich.

»Du hast also Angst. Der Indio Óscar, unser ›Indio‹. Und das vor einem Türken, hm?«

Er lachte wieder. Er schüttelte den Kopf und warf ein Päckchen Zigaretten Richtung Bett. Gierig nestelte der andere daran. Das Feuerzeug schimmerte im leeren Glas auf dem Nachttisch auf. Larsen sah ihn mit einem kleinen Leuchten in den Augen an, den Mund zusammengepreßt.

»Du hattest keine Zigaretten, hm? Der Türke erlaubt dir also nicht…«

Er lachte, daß sein ganzer Körper bebte, die Fettpolster im Gesicht blieben fast reglos. Plötzlich wurde er ernst, zwei Speichelfäden am Mund, und sah den Mann auf dem Bett hart an.

»Na schön… Was machen wir?«

Der andere streckte langsam die Hand mit der Zigarette weg und hob einen bösartigen Blick.

»Hast du mir nicht selbst ausrichten lassen, ich soll nichts tun, ich soll ruhig bleiben und nichts tun?«

Larsen zog an den Manschetten, die seine halbe Hand bedeckten.

»Das habe ich dir ausrichten lassen, weil ihr alle nur Unsinn anstellt. Wie mit dieser Türkin. Man muß schon dämlich sein, wirklich. Was für ein Hornochse.«

»Es ist nun mal passiert.«

»Schon gut. Mein Reden.«

Er holte eine Zeitung hervor und faltete sie langsam auf. Er ging die Spalten durch, folgte mit dem Kopf der Zickzackbewegung der Buchstaben. Óscar musterte sein Gesicht. Sanfter Glanz umschmeichelte das Fleisch an Kinn und Wangen. Im Nebenzimmer ging jemand umher. Man hörte einen Boiler aufflammen und unverständliche Stimmen. Frauenabsätze klapperten auf der Treppe. Óscar drückte die Zigarette aus. Zusammengekauert betrachtete er Larsens gefahrvolles Schweigen. Er tastete sich langsam vor:

»Ich weiß ja… Ich würde sie liebend gern auf den Mond schießen. Den lieben langen Tag, wie man so sagt, mit so einer und… Na ja, eine Frau, die…«

Larsen nahm die Zeitung herunter, sah sich suchend um und spuckte schließlich zum Fenster hin.

»So was nennt sich also Frau. Stinkende Türkin.«

Er widmete sich weiter den Schlagzeilen. Dann blickte er zur Decke auf.

»Sag mal, am Tag des Zusammenstoßes, hat da Capicúa gewonnen? Oder letzten Samstag, hm?…«

Er legte die Zeitung auf den Tisch. Er atmete vernehmlich, den Mund zu einem O geformt. Langsam schob er seinen Hut in den Nacken. Einen Moment lang verharrte er reglos, hypnotisiert vom Schimmer seiner auf den Tisch trommelnden Fingernägel. Plötzlich streckte er den Zeigefinger und das rundliche Gesicht Richtung Bett aus. Seine Stimme bebte, sie war ganz dünn geworden, fast ein Maunzen:

»Wußtest du nicht, daß sie minderjährig war?«

Óscar lachte, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Man schätzt eben. Bei dem Körper.«

»Aha. Und warum hast du sie geschlagen?«

»Warum?«

Ein erstauntes, dummes Gesicht blickte vom Bett hoch.

»Warum ich sie geschlagen habe?« Er wiederholte die absurde Frage und lachte.

»Ja«, sagte Larsen. »Du bist ein Mordskerl, was? Aber wenn ich dir nicht aus der Patsche helfe…«

Er bückte sich und zog an den seidenen Strümpfen. Der Hut verbarg das Gesicht. Hinter dem schwarzen Oval wurde die Stimme eine andere, süßlich, bezwingend:

»Man hat dich nämlich gestern abend gesucht. Im Bajo. Auch bei García.«

Der andere explodierte:

»Zur Hölle mit ihnen. Was soll ich tun?«

Larsen richtete sich lächelnd auf.

»Keine Ahnung. Was meinst du?«

Óscar zuckte die Achseln. Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging zum Fenster. Die Lichter der Straße, große bunte Plakate am Theater. Larsen meinte:

»Abhauen hat keinen Zweck. Egal wo du hingehst, man wird dich finden. Ich an deiner Stelle würde eines tun. Etwas anderes bleibt dir nicht übrig.«

Der andere drehte sich um, seine Hoffnung kaschierend.

»Sag schon.«

»Schau, ich an deiner Stelle würde mich stellen. Mach nicht lange herum.«

»Und ein paar Jahre absitzen. Sehe ich etwa so aus…«

Larsen streckte eine Hand nach der Zeitung aus. Óscar kam auf ihn zu.

»Aber denk doch mal nach… Ich geh da nicht selbst hin…«

»Na gut. Früher oder später werden sie dich schnappen. Man kann einen Anwalt aufsuchen und eine Schmonzette auftischen. Alles andere ist Schwachsinn.«

»Aber du hast mir doch gesagt, Guerra…«

»Klar. Der Esel hat geplaudert. Aber ich habe einen, den mir Balsa vorgestellt hat.«

Óscar suchte Larsens kleine, faltige Augen. Da war nichts. Lasch hob er die Arme.

»Wenn du dir sicher bist… Aber schau…«

Larsen zog seine Brieftasche heraus und suchte.

»Hier. Das ist die Karte. Aránzuru. Bestimmt ein Ausländer. Laß uns telefonieren.«

Óscar folgte dem gelangweilten Schlingern des anderen. Automatisch dachte er: ›Ich könnte ihm einen Schuß in den Nacken verpassen.‹ Der schwarze Kragen war von Schuppen übersät. Er stützte sich auf das Geländer im Flur, während Larsen...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Übersetzer Sabine Giersberg
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Borges • García Márquez • Lassen wir den Wind sprechen • Lateinamerika • Lateinamerikanische Literatur • Montevideo • ST 5039 • ST5039 • suhrkamp taschenbuch 5039 • Tierra de nadie deutsch • Uruguay • Wenn damals
ISBN-10 3-518-76749-6 / 3518767496
ISBN-13 978-3-518-76749-8 / 9783518767498
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