Iva atmet

Roman

**** 1 Bewertung

Buch | Hardcover
302 Seiten
2021
Frankfurter Verlagsanstalt
978-3-627-00285-5 (ISBN)
22,00 inkl. MwSt
Nach langer Abwesenheit kehrt Iva in ihr Elternhaus nach Dresden zurück. Die abgestorbenen Köcherbäume vor dem Anwesen erinnern an die Wurzeln der Familie in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Seitdem ist viel passiert. Um endlich frei atmen zu können, muss Iva sich ihrer Familiengeschichte stellen.
Schweigend überschatten die Köcherbäume das Elternhaus in Dresden, in das Iva zum ersten Mal seit vielen Jahren zurückkehrt. Ihr Vater, ein einflussreicher Richter, hatte die beiden toten Riesen dort einbetoniert, zur Erinnerung an die Kindheit der Großmutter in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia.

Nun liegt der Vater im Sterben, und alte Bilder wirbeln in Iva auf: die Fragen des Bruders nach dem Großvater im Dritten Reich, die verschwörerischen Treffen, bei denen der Vater auf alte Zeiten anstößt, sie und ihre Schwester, die auf der Treppe lauschen.

Immer klarer treten die Umrisse einer Täterfamilie zutage, und Iva kann nicht länger die Luft anhalten.

Amanda Lasker-Berlin, geboren 1994 in Essen, inszenierte mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert sie Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Ihre Theaterstücke und Prosa wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, Elijas Lied (FVA 2020) wurde mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 und für Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur nominiert. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Mit Iva atmet widmet sich Amanda Lasker-Berlin großen gesellschaftlichen Themen: der persönliche Umgang mit historischer Schuld, das Schweigen in Familien und die deutschen Kolonialverbrechen. Ohne Pathos und Effekthascherei, dafür mit umso größerer Leichtigkeit und Lebendigkeit verwebt die Autorin ihren Stoff zu einer mitreißenden Geschichte.

Erster Tag 1 Iva gleitet unter die Oberfläche. Von der steigt Dampf auf, über die ziehen sich Hügel aus Schaum. Ihr Kopf treibt Richtung Grund. Die Muscheln laufen voller Wasser. Machen die Gehörgänge dicht. Iva hört fast nichts. Nur monotones Rauschen und die Schläge des Pulses. Aufgerissene Augen, die brennen von der Seife. Die auf die Beine schauen. Die dünnen Beine, die viel zu lange im grellbeleuchteten OP-Saal standen, zittrig die Wohnung betraten, aushalten mussten, bei dem Telefonat. Bevor sie sich endlich ins Wasser fallen lassen konnten. Jetzt treiben sie über dem Keramikboden. Ihre Haut ist durchweicht. Doch die alten Hautpartikel lösen sich nicht vom Knöchel. Iva kratzt. Vielleicht schwimmt ein bisschen Haut durchs Wasser. Wie ein kleiner Fisch, könnte ja sein. Das Wasser ist wärmer, seitdem Iva alleine in der Wanne liegt. Roy hat seine Körperwärme dagelassen. Damit Iva nicht friert. Wärme dalassen. Das macht Roy manchmal, wenn Iva neben ihm liegt und ganz kalt ist. Wenn sie mit den Zähnen die oberste Hornschicht der Fingernägel abzieht. Sich nicht traut, die Augen zu schließen. Iva taucht in den warmen Nebelschwaden auf, atmet tief ein. Lehnt den Nacken an. Überlegt, wie er aussieht, ihr Abdruck auf den beschlagenen Fliesen – vielleicht sind es die Umrisse der krummgeschwungenen Bäume. Die Äste, die sich umeinanderwinden und in den Himmel stechen. Das Laub in ihrer Lunge liegt auf ordentlichen Haufen, merkt Iva beim Ausatmen. Das beruhigt sie. Roy tritt ein. Seitdem Shlomo geboren ist, sind seine Schritte so leise, dass nur Iva sie hören kann. Iva beobachtet ihn. Mit dem Ellbogen wischt er den Badetau vom Spiegelschrank. Sieht sich an. Sein Haar ist noch nass. Er ist schon wieder angezogen, hat sein weißes Hemd über den schmalen Oberkörper gelegt, es schief geknöpft und es nicht bemerkt. Mit seinen Drahtfingern versucht er, etwas Form in die Frisur zu bringen. Atmet enttäuscht aus. Die Locken lassen sich nicht bändigen. Durch den Spiegel schaut er zu Iva. Sie sitzt in der Wanne. Fängt seinen Blick auf. So haben sie sich lange nicht mehr angesehen. Schnell taucht Iva unter. Da sind keine Blicke. Da sind nur sie und das Wasser. Und auf einmal das Gefühl von brechenden Grashalmen unter den Füßen. Dieses Kitzeln von ausgetrockneten Halmen. Iva schnellt hoch. Fährt mit der Hand über die Füße. Damit es weggeht, das Grasgefühl. „Als ich gerade nachschauen war, hat er geschlafen“, sagt Roy. „Mal sehen, wie lange noch“, murmelt Iva, sieht sich schon in einer Viertelstunde den kleinen Shlomo auf dem Arm halten, während Roy hinter sich die Wohnungstür zuzieht. „Bist du sicher, dass du heute Nacht noch fahren willst?“, fragt Roy und setzt sich auf den Rand der Badewanne. Seine Finger hüpfen zu Iva. Wie Wasserflöhe, die auf Ivas Schulter landen. „Eigentlich nicht.“ „Dann fahr doch morgen ganz früh.“ Die Flohfinger hüpfen weiter, landen an Ivas Hals, spüren den Puls. „Nein, ich fahr heute Nacht, wenn du von der Vorstellung kommst.“ Kurzes Innehalten. Dann zieht Iva die Hand aus dem Wasser. Legt sie auf seine Jeans. Das hinterlässt einen Abdruck. „Wer weiß, wie es ihm geht.“ Iva blinzelt das Bild weg. Vom Gesicht des Vaters. Das blau ist. Oder vielleicht schon weiß? Aus dem noch Atem stolpert? Roy sagt nichts. Küsst ihren Mund ganz kurz. Dreht sich zum Spiegel und versucht es noch mal mit den Haaren. „Das werden die in der Maske schon hinkriegen“, sagt Iva amüsiert. „Na, hoffen wir mal. Stell dir vor, ich würde mit den Haaren irgendwo hängenbleiben, wenn ich gerade zum Sprung ansetze, und dann würde mein Genick …“ „Roy!“, schnurrt Iva. „Ein Halbtoter am Tag reicht ja wohl.“ „Stimmt.“ Mit einem Gummi befestigt er seine Locken sorgfältig im Nacken. „Sehen grau aus, deine Haare. Sogar, wenn sie nass sind.“ Iva wird frech. Er soll zu ihr schauen. So richtig. Nicht nur halb durch den Spiegel. „Gar nicht! Die sehen schwarz aus, tiefschwarz. Jugendlich schwarz.“ „Rentnerschwarz.“ „Also, Iva, sei lieb zu dem Kleinen.“ „Bin ich immer.“ Roy versucht, nicht skeptisch zu schauen. Aber Iva kennt sein Gesicht.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutsch-Südwestafrika • Familienerbe • Großmutter • Herero • Historische Schuld • Köcherbaum • Kolonialismus • Krankenhaus • Lunge • Missionare • Namibia • Nationalsozialismus • Schweigen in Familien • Stolperstein • Täterfamilie • Vater
ISBN-10 3-627-00285-7 / 3627002857
ISBN-13 978-3-627-00285-5 / 9783627002855
Zustand Neuware
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4 Eine ganz besondere, poetische Sprache

von , am 11.04.2021

Auch bei ihrem zweiten Buch begeistert Amanda Lasker-Berlin von Anfang an mit ihrer poetischen, von zahlreichen Metaphern gezeichneten Sprache. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob ich ihre Wortspielereien stets richtig interpretiert habe, dennoch habe ich sie genossen und musste immer wieder innehalten, um die Worte auf mich wirken zu lassen. Das machte es für mich zu einem Buch, das man nicht unbedingt am Stück verschlingen, sondern für das man sich Zeit lassen möchte.
Ich hatte stets das Gefühl, dass die Autorin sehr differenziert ihre Umgebung wahrgenommen, in sich aufgesogen und sie äußerst atmosphärisch zu Papier gebracht hat.
Beschreibungen wie „Ihre Schlafanzüge schmiegen sich an das verschnörkelte Geländer.“, „Zwischen den Fugen friert Moos.“ oder „Er hat Drachenhaut von der Kälte.“, machten das Buch für mich sprachlich sehr besonders und lesenswert.
Vor allem zu Beginn fielen mir die vielen kurzen, abgehackten Sätze auf. Sie passten für mich gut zum Gemütszustand von Iva, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Vater im Sterben liegt.
Insgesamt wurden die Gefühle meinem Empfinden nach sehr gut transportiert.

Thematisch kannte ich vorher nur den Klappentext und sehr viel mehr möchte ich auch gar nicht verraten, da nicht viel mehr als das geschieht.
Es werden verschiedene interessante Inhalte im Buch angeschnitten (historische Schuld, zerrüttete Familien, Kolonialverbrechen, Antisemitismus, Partnerschaft, usw.). Hier hätte ich mir teilweise noch mehr inhaltliche Tiefe gewünscht.
Manches wird nur angedeutet, was Platz für eigene Mutmaßungen lässt.

Insgesamt wirkte das Buch auf mich ziemlich melancholisch und trostlos. Daher fand ich die außergewöhnlichen Figuren von Ismene und Alexander sehr erfrischend. Mit Iva habe ich sehr mitgefiebert und gelitten. Die Metapher bei ihr mit den Blättern in der Lunge, die am Ende vollends aufgelöst wird, empfand ich als besonders gelungen.

FAZIT: Erneut begeistert Amanda Lasker-Berlin mit ihrer poetischen, von zahlreichen Metaphern gezeichneten Sprache. Atmosphärisch und mit viel Gefühl führt sie einen durch das Buch, welches ich gerne gelesen habe. Lediglich bei manchen Themen hätte ich mir noch mehr Tiefe gewünscht. 4/5 Sterne!
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