Nacht ohne Sterne (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2686-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nacht ohne Sterne - Paula McLain
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Wenn die Sterne verlöschen.

Anna Hart weiß selbst, dass sie vor ihrem Unglück davonläuft. Eigentlich ist sie Ermittlerin, Expertin darin, verschwundene Kinder zu finden. Doch nun ist ihrem eigenen Kind etwas passiert, und sie zieht sich an den Ort zurück, in dem sie aufgewachsen ist und glücklich war - zumindest für einige Zeit, als ihr Adoptivvater sich fürsorglich um sie kümmerte. Doch kaum ist sie angekommen, erfährt sie, dass ein junges Mädchen vermisst wird. Und sie weiß sofort, dass sie helfen - und sich den Gespenstern ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss ...

'Paula McLain hat ein Meisterwerk von Roman geschrieben, das den Leser garantiert die ganze Nacht wachhalten wird. Ein literarischer Thriller - mit einer unvergesslichen Heldin und Wendungen, die einen bis ans Ende überraschen. Ein unkonventioneller Blick auf die langen Schatten, die Traumata werfen. Ein Buch voller Trauer und großer Schönheit.' Kristin Hannah.



Paula McLain studierte an der University of Michigan Kreatives Schreiben und lebte in den Künstlerkolonien Yaddo und MacDowell. Nach zwei Gedichtsammlungen und einem ersten Roman gelang ihr mit dem in 35 Sprachen übersetzten Roman 'Madame Hemingway' ein internationaler Bestseller. Paula McLain lebt mit ihrer Familie in Cleveland. Im Aufbau Taschenbuch sind neben 'Madame Hemingway' ebenfalls ihre Romane 'Lady Africa' und 'Hemingway und ich' lieferbar. Mehr zur Autorin unter paulamclain.com Yasemin Dinçer, geboren 1983, studierte Literaturübersetzen und hat u. a. Werke von Paula McLain, Shirley Hazzard und David Harvey ins Deutsche übertragen.

Drei


Als ich in Santa Rosa aufbreche, ist die Luft so warm wie Badewasser, und die Sonne glitzert aufreizend. Sogar der verwahrloste Parkplatz des Motels ist ein Garten aus einem halben Dutzend Seidenbäumen mit fedrigen fuchsiafarbenen Dragqueen-Blüten. Überall sind Vögel – auf den Zweigen, im wolkenlosen Himmel, in dem verfallenen neonroten Drive-Through-Kiosk von Jack in the Box, von wo aus mich drei flaumige Küken aus einem mit Strohhalmverpackungen durchzogenen Nest anstarren, die Hälse so pink und so weit aufgerissen, dass allein schon der Anblick wehtut.

Ich bestelle einen großen Kaffee und ein Eiersandwich, das ich nicht essen kann, ehe ich auf die Route 116 abbiege, die mich durch das Russian River Valley bis zur Küste führen wird. Der Ort dort heißt Jenner, mehr Postkarte als tatsächliches Dorf. Weit unterhalb sieht der Goat Rock vor dem atemberaubenden Blau des Pazifiks aus wie der plumpe Spielzeugball eines Riesen, jene Art von Zaubertrick, die Nordkalifornien im Schlaf zu beherrschen scheint.

In fünfunddreißig Jahren habe ich nie den Bundesstaat verlassen oder irgendwo südlicher als Oakland gelebt, dennoch haut mich die Schönheit noch immer um. Dumme, mühelose, lächerliche Schönheit, die einfach kein Ende nimmt – die Achterbahn des Pacific Coast Highway, das Meer wie ein wilder Farbwirbel.

Ich fahre rechts ran und parke auf einem kleinen Oval aus Schotter, überquere beide Fahrspuren, um mich auf einen kahlen Flecken Erde über verheddertem Unterholz und schwarzen gezackten Felsen zu stellen. Ein Abgrund gähnt unter mir – schwindelerregend. Der Wind stürzt sich auf mich und gräbt sich unter all meine Kleidungsschichten, so dass ich mich zitternd mit den Armen umschlingen muss. Dann ist mein Gesicht plötzlich nass, zum ersten Mal seit Wochen kommen mir die Tränen. Nicht über das, was ich getan oder nicht getan habe. Nicht über das, was ich verloren habe und nie wieder zurückbekommen werde, sondern, weil mir klar wird, dass es nur einen Ort gibt, an den ich von hier aus gehen kann, nur eine Straße auf der Karte, die mir jetzt noch etwas bedeutet. Der Weg zurück nach Hause.

Siebzehn Jahre lang bin ich Mendocino ferngeblieben, habe den Ort in meinem Inneren weggeschlossen als etwas, das zu kostbar ist, um es auch nur zu betrachten. In diesem Augenblick auf der Klippe erscheint es mir jedoch wie das Einzige, das mich noch am Leben hält, das Einzige, was jemals mir gehört hat.

Denkt man einmal darüber nach, haben die meisten von uns kaum eine Wahl, wenn es darum geht, was wir werden oder wen wir lieben oder welcher Ort auf der Erde uns auserwählt hat und zu unserem Zuhause wird.

Wir können uns lediglich auf den Weg machen, wenn dieser Ort uns ruft, und hoffen, dass wir dort noch immer hereingelassen werden.

***

Bis ich ein paar Stunden später Albion erreiche, hat der Küstennebel die Sonne verdeckt. Er wirbelt vor meinen tiefen Scheinwerfern, lässt alles vor mir verschwinden und wieder auftauchen: die sich windende Küstenstraße und die Tannen und dann endlich das Dorf, das wie ein Ort aus einer düsteren Sage erscheint – viktorianische Häuser schweben weiß über der Landspitze; der alles umgebende Dunst zittert und löst sich auf.

Mich überkommt ein beklemmendes Gefühl, während jede gewundene Kurve mich der Vergangenheit näherbringt. Die Umrisse der Bäume scheinen nachzuhallen. Ebenso die Straßenschilder und die lange feuchte Brücke. Ich bin schon beinahe auf Höhe der Ampel, ehe ich sie wahrnehme, und muss Gas geben, um noch bei Gelb auf die Little Lake Road abzubiegen. Dann habe ich das Steilufer erreicht.

Als ich links auf die Lansing Street abbiege, habe ich das Gefühl, seitlich durch die Zeit geschoben zu werden. Auf dem Dach der Masonic Hall zeichnet sich vor dem durchscheinenden Himmel die Holzstatue von Zeit und die Jungfrau scharf und weiß ab, das bekannteste Wahrzeichen des Ortes. Eine bärtige ältere Figur mit Flügeln und einer Sense, die das Haar eines vor ihr stehenden Mädchens flicht. Deren Kopf ist über ein auf einer abgebrochenen Säule liegendes Buch gebeugt, in einer Hand hält sie einen Akazienzweig, in der anderen eine Urne, und vor ihren Füßen steht ein Stundenglas – jedes der Objekte ein mysteriöses Symbol in einem größeren Rätsel. Die gesamte Schnitzerei wie ein für alle sichtbares Geheimnis.

Als ich zehn war, kurz nach meinem Umzug nach Mendocino, fragte ich Hap einmal, was die Figuren zu bedeuten hätten. Er lächelte und erzählte mir stattdessen ihre Geschichte. Wie ein junger Mühlenarbeiter und Zimmermann namens Erick Albertson sie Mitte des 19. Jahrhunderts nachts in seiner Hütte am Strand aus einem einzigen Stück Mammutbaum geschnitzt hatte. Während dieser Zeit wurde er zum ersten Meister von Mendocinos Freimaurerorden ernannt, aber er hörte nie auf, an seinem Meisterstück zu arbeiten. Insgesamt benötigte er sieben Jahre dafür, und dann, kurz nachdem die Schnitzerei 1866 aufgestellt wurde, starb er bei einem seltsamen Unfall, den die Geschichtsbücher nicht ausreichend erklären konnten.

Hap war bereits seit Jahrzehnten Mitglied des Freimaurerordens, sogar noch länger, als er Förster war. Ich nahm an, er würde alles wissen, alles, was es zu wissen gab. Aber als ich ihn fragte, wie Albertsons Tod mit den Figuren und deren Bedeutung verknüpft war, sah er mich von der Seite an.

»Albertsons Tod hat nichts mit dir zu tun. Außerdem ist das vor so langer Zeit geschehen. Die Symbole ergäben keinen Sinn, selbst wenn ich sie dir erklären würde. Sie erzählen eine Geschichte, die nur die Freimaurer kennen, die sie jedoch niemals niedergeschrieben haben, sondern nur mündlich weitergeben, wenn sie ihren dritten Grad erreichen.«

Ich wurde noch neugieriger: »Was ist der dritte Grad?«

»Bis dorthin gehst du mir gerade auf die Nerven«, sagte er scherzhaft und ließ mich stehen.

***

Ich parke und setze eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille auf, ehe ich hinaus auf die kühle, nebelfeuchte Straße trete. Es ist zwar schwer vorstellbar, dass mich irgendjemand im Dorf als erwachsene Frau wiedererkennen sollte, allerdings werden die Zeitungen aus San Francisco hier oben viel gelesen, und meine Fälle haben mich ab und an in den Chronicle gebracht. Der Unfall im Übrigen auch.

In Mendosa’s Market versuche ich mit gesenktem Kopf, nur das Nötigste einzukaufen, Dosengemüse und Trockenwaren, Sachen, die sich leicht zubereiten lassen. Ein Teil von mir fühlt sich jedoch gefangen in der sich drehenden Rolle eines alten Films. Ich bin gerade erst hier gewesen, so scheint es, genau hier neben dem beleuchteten Kühlregal voller Milch, als Hap nach einer kalten Flasche griff und sie aufmachte, direkt daraus trank und mir zuzwinkerte, ehe er sie mir reichte. Dann schob er den Wagen weiter, lenkte ihn mit den Ellbogen und beugte sich dabei über den Korb. Trödelte, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Aber die hat niemand.

Als ich meinen Einkauf beendet habe, zahle ich bar und lade die Taschen in den Kofferraum meines Broncos, dann mache ich mich die Straße hinunter auf den Weg zum Good Life Café. Als ich noch hier lebte, trug es irgendeinen anderen Namen, ich kann mich jedoch nicht mehr an ihn erinnern, und er tut auch nichts zur Sache. Der Klang, die Form und der Geruch des Cafés stimmen exakt mit meiner Erinnerung überein. Ich bestelle Kaffee und eine Schüssel Suppe und setze mich ans Fenster mit Blick auf die Straße, beruhigt durch die Geräusche um mich herum, das Klappern der Teller im Spülbecken, die frischen Bohnen in der Kaffeemühle, das freundliche Geplauder. Dann höre ich hinter mir zwei Männer streiten.

»Du glaubst diesen ganzen Scheiß doch nicht etwa, oder?«, blafft der eine den anderen an. »Hellseherin und was noch alles? Du weißt doch, wie viel Geld die Familie hat. Sie will einfach was davon abbekommen. Verdammt, ich kann’s ihr nicht mal verübeln.«

»Aber wenn sie nun wirklich etwas weiß, und niemand geht dem nach?«, erwidert der andere scharf. »Das Mädchen könnte gerade irgendwo verbluten.«

»Wahrscheinlich ist sie längst tot.«

»Was hast du für ein Problem? Sie ist ein Mensch. Ein Kind.«

»Das Kind von jemand Berühmtem.«

»Das hat doch nichts damit zu tun. Was ist, wenn die Hellseherin die Wahrheit sagt? Hast du noch nie etwas gesehen oder gehört, für das du keine Erklärung hattest?«

»Nee. Kann ich nicht behaupten.«

»Dann passt du nicht richtig auf.«

***

Die beiden Männer zu belauschen löst bei mir ein schwereloses, haltloses Gefühl aus. Ich bezahle für meinen Kaffee und meine Suppe, gebe acht, nicht in ihre Richtung zu blicken, und gehe hinüber zum Schwarzen Brett an der entgegengesetzten Wand. Es war immer ein fester Bestandteil von Haps und meiner Morgenroutine. Er lehnte sich nach hinten statt nach vorn, um die Pinnwand zu überfliegen, in der Hand einen schweren weißen Becher, der Blick umherschweifend auf der Suche nach etwas, das ihm noch nicht entgegengesprungen war.

»Was denkst du, wie viel du über einen Ort dieser Größe wissen kannst?«, fragte er mich einmal, ziemlich zu Beginn. Ich hatte bislang immer in größeren, schmuddeligeren Städten in ganz Mendocino County gelebt. Im Vergleich zu ihnen wirkte das Dorf mit seinen nur fünfzehn Straßen, die sogar Namen trugen, wie aus dem Ei gepellt. In meiner Vorstellung war es ein Puppenhaus, das man wie einen Koffer aufklappen und hineinsehen konnte, Zimmer für Zimmer. »Alles.«

...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2021
Übersetzer Yasemin Dinçer
Sprache deutsch
Original-Titel When The Stars Go Dark
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Entführung • Erinnerung • Ermittlerin • Jugendfreundin • Kalifornien • Mandocino • Thriller • Vergangenheit • Verschwundene Kinder
ISBN-10 3-8412-2686-8 / 3841226868
ISBN-13 978-3-8412-2686-0 / 9783841226860
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