Schlief ein goldnes Wölkchen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2689-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlief ein goldnes Wölkchen -  Anatoli Pristawkin
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Ein wiederentdecktes Meisterwerk: berührend und bristant. Fünfhundert Kinder aus einem Moskauer Waisenhaus werden im Sommer 1944 in den Kaukasus verschickt, unter ihnen Saschka und Kolka. Die elfjährigen Zwillinge hoffen, endlich ihren quälenden Hunger hinter sich zu lassen. Doch bereits ihre Ankunft wird von bedrohlichen Detonationen in den nahe gelegenen Bergen begleitet. Bewaffnete Tschetschenen, die der Zwangsaussiedlung entfliehen konnten, setzen sich erbittert gegen die russischen Eindringlinge zur Wehr - und die Brüder geraten nach Momenten überwältigenden Glücks in größte Gefahr. Anatoli Pristawkin bringt die politischen Realitäten so ungeschönt zur Sprache, dass sein Werk in Russland erst mit Beginn der Perestroika erscheinen durfte. »Obwohl Pristawkin keine Empathie vorgibt, die kein Opfer für seinen Täter zu empfinden braucht, vermag er dennoch, Verständnis für die Tschetschenen zu wecken, die in Rußland bis heute die Schwarzen geblieben sind. Das ist dann schon die hohe Kunst der Literatur und womöglich noch wichtiger, als den Feind zu lieben: ihn zu verstehen.« Navid Kermani. Jetzt in aktualisierter und überarbeiteter Übersetzung der unzensiert.

Anatoli Pristawkin (1931-2008) studierte am Moskauer Literaturinstitut, war in Sibirien Korrespondent der Literarischen Zeitung (Literaturnaja Gaseta) und Mitbegründer der Schriftstellervereinigung »April«. Von 1992 bis 2001 Vorsitzender der von Präsident Jelzin ins Leben gerufenen Begnadigungskommission, wurde er 2002 mit dem angesehenen deutsch-russischen Aleksandr-Men-Preis ausgezeichnet. Zweimal berichtete er aus Tschetschenien über die russischen Verbrechen. Europaweit hielt er Vorträge gegen die Todesstrafe, gegen Gewalt, Korruption, Machtmissbrauch und Unterdrückung. Thomas Reschke übertrug etwa 150 Werke aus dem Russischen ins Deutsche, darunter Michail Bulgakow, Boris Pasternak und Jewgeni Jewtuschenko. Ganna-Maria Braungardt übersetzte u. a. Ljudmila Ulitzkaja und Leonid Zypkin ins Deutsche. Christina Links ist als Übersetzerin, Lektorin und Literaturagentin tätig.

1


Das Wort kam ganz von selbst auf, so wie auf dem Feld der Wind entsteht.

Es kam auf, raschelte, huschte durch die nahen und fernen Winkel des Waisenhauses: »Kaukasus! Kaukasus!« Wieso Kaukasus? Wo kam der plötzlich her? Tja, das konnte keiner vernünftig erklären.

Komische Idee, in dem schmuddeligen Moskauer Vorort vom Kaukasus zu reden. Den kannte das Waisenhausvölkchen doch nur vom Vorlesen in der Schule (Lehrbücher hatten sie ja keine!), jedenfalls gab es den früher mal, in einer weit zurückliegenden unbegreiflichen Zeit, als der tollkühne, schwarzbärtige Bergbewohner Hadshi Murat auf seine Feinde ballerte, als der Anführer der Muriden, Imam Schamil, sich in der belagerten Festung verteidigte und die russischen Soldaten Shilin und Kostylin in einer tiefen Grube hockten.

Und Petschorin, einer von diesen »überflüssigen Menschen«, der ist auch im Kaukasus rumgereist.

Na, und die Papirossy! Einer der Kusmin-Zwillinge hatte sie bei einem Oberstleutnant aus dem Lazarettzug gesehen, der auf der Station Tomilino steckengeblieben war.

Ein paar gezackte Schneeberge, davor ein Reiter im schwarzen Filzumhang auf einem wilden Pferd. Er reitet nicht, er fliegt fast durch die Luft. Darunter in ungleichmäßiger, eckiger Schrift das Wort: KASBEK.

Der schnauzbärtige Oberstleutnant, ein schöner junger Mann mit Kopfverband, betrachtete eine bildhübsche Krankenschwester, die ausgestiegen war, um sich die Bahnstation anzusehen, und klopfte vielsagend mit dem Fingernagel auf die Pappschachtel mit den Papirossy, ohne zu bemerken, dass neben ihm der zerlumpte kleine Kolka mit verblüfft aufgesperrtem Mund und angehaltenem Atem auf die kostbare Schachtel starrte.

Eigentlich wollte Kolka ein Stückchen Brot von einem Verwundeten abstauben, stattdessen entdeckte er die Schachtel KASBEK!

Aber was hatte der Kaukasus damit zu tun? Das Gerücht?

Rein gar nichts.

Und es blieb unbegreiflich, wie dieses Wort, das funkelte wie eine gezackte glitzernde Eiskante, hier geboren worden war, wo es eigentlich nicht geboren werden konnte, nämlich im Waisenhausalltag, der bestimmt war von Kälte und ewigem Hunger. Das ganze mühselige Dasein der Kinder drehte sich um nichts anderes als um eine winzige gefrorene Kartoffel oder um Kartoffelschalen oder – als Gipfel aller Wünsche und Träume – um ein Stückchen Brot, mit dem sie weiterexistieren, den nächsten Kriegstag überleben konnten.

Der sehnlichste und zugleich unerfüllbarste Traum jedes der Kinder war es, wenigstens einmal ins Allerheiligste des Waisenhauses vorzudringen: in den BROTSCHNEIDERAUM – großgeschrieben, denn dieser Raum war in den Augen der Kinder höher und unerreichbarer als irgendein KASBEK!

Dort arbeiten zu dürfen, das war, wie vom Herrgott ins Paradies geschickt zu werden, das traf nur die Auserwählten, die Erfolgreichsten, man kann auch sagen: die Glücklichsten auf der Welt!

Zu denen gehörten die Kusmin-Zwillinge nicht.

Und es war nicht daran zu denken, dass sie je dort hineinkommen würden. Dies war das Vorrecht der Kriminellen unter den Zöglingen, die der Miliz entwischt waren und in dieser Zeit das Waisenhaus und sogar die ganze Siedlung beherrschten.

In den Brotschneideraum hineinzugelangen, aber nicht wie die Auserwählten als Herren, sondern als Mäuschen, nur für eine Sekunde, für einen winzigen Augenblick, das war es, wovon sie träumten! Nur um ein einziges Mal den ganzen gewaltigen Reichtum der Welt zu sehen, nämlich die sich auf dem Tisch türmenden buckligen Brotlaibe.

Um dann einzuatmen, nicht mit der Brust, sondern mit dem Bauch. Den berauschenden, benebelnden Brotgeruch einzuatmen.

Nur das. Mehr nicht.

Sie träumten nicht einmal von den Krümeln, die ja zurückbleiben mussten von den gestapelten, sich mit ihren Krusten aneinander reibenden Brotlaiben. Die sollten ruhig die Auserwählten einsammeln und genießen. Das stand ihnen rechtmäßig zu.

Aber wie sehr sie sich auch an die eisenbeschlagene Tür des Brotschneideraums schmiegten, das war kein Ersatz für die phantastische Vorstellung in den Köpfen der Kusmin-Brüder, denn der Geruch drang nicht durch das Eisen.

Legal durch diese Tür zu schlüpfen war aussichtslos. Das war abstrakte Phantastik, die beiden Brüder aber waren Realisten. Dennoch träumten sie auch ganz konkret.

Und dieser Traum führte Kolka und Saschka im Winter des Jahres vierundvierzig zu einem Entschluss: Sie mussten in den Brotschneideraum eindringen, in das Reich des Brotes. Unbedingt, egal wie.

In diesen besonders trostlosen Monaten, in denen es unmöglich war, eine gefrorene Kartoffel zu erbeuten, geschweige denn einen Krümel Brot, ging es über ihre Kräfte, an dem Häuschen mit der eisernen Tür vorbeizugehen. Daran vorbeizugehen und zu wissen, sich beinahe bildlich vorzustellen, wie hinter diesen grauen Mauern, hinter dem verdreckten und vergitterten Fenster die Auserwählten mit Messer und Waage hantierten. Und wie sie das etwas feuchte, lockere Brot säbelten und schnitten und kneteten und sich die warmen, leicht salzigen Krümel in den Mund schütteten, die dicken Bruchstücke aber für den Pachan, den Oberganoven, aufhoben.

Der Mund füllte sich mit Speichel. Ein Krampf zog den Bauch zusammen. Der Kopf trübte sich. Sie hätten heulen, brüllen und schlagen mögen, schlagen gegen die eiserne Tür, damit sie aufschlossen, öffneten und endlich begriffen: Wir wollen auch! Sollen sie uns hinterher in den Karzer stecken oder sonst wohin … Sollen sie uns bestrafen, verprügeln, totschlagen … Aber erst einmal wollen wir es sehen, das Brot, und sei es von der Tür aus, wollen sehen, wie es aufragt, ein großer Haufen auf der von Messern zerkerbten Tischplatte, wie ein Berg, wie der Kasbek … Und wie es riecht!

Dann könnte man wieder leben. An etwas glauben. Wenn ein Berg Brot daliegt, dann existiert die Welt … Dann kann man dulden und schweigen und weiterleben.

Ihre winzige Ration, die minderte den Hunger nicht, selbst wenn sie noch ein Stückchen Brot mehr bekamen. Der Hunger wurde nur noch stärker.

Einmal hatte ihnen die dumme Lehrerin was von Tolstoi vorgelesen, da verspeiste der alternde Kutusow während des Krieges ein Hähnchen und knabberte lustlos, fast mit Abscheu am zähen Flügel …

Den Kindern kam diese Szene reichlich phantastisch vor. Was der Mann sich ausdachte! Der Flügel schmeckte ihm nicht! Sie selber wären auf der Stelle selbst für den abgenagten Knochen sonst wohin gelaufen. Nachdem die Lehrerin das vorgelesen hatte, zog es ihnen noch mehr den Bauch zusammen, und sie verloren für immer den Glauben an die Schriftsteller: Wenn die darüber schreiben, dass einer ein Hähnchen nicht essen will, dann haben die sich wohl selber überfressen!

Seit der Geier, der schlimmste Verbrecher des Waisenhauses, davongejagt worden war, waren viele große und kleine Ganoven durch das Waisenhaus Tomilino gegangen, hatten hier, fern der Miliz ihrer Heimatorte, für den Winter ihr Diebsquartier eingerichtet.

Unverändert blieb nur eines: Die Starken fraßen alles weg und überließen den Schwachen die Krümel, oder nur den Traum von Krümeln, und trieben die Kleinen in die sicheren Netze der Sklaverei.

Für eine Brotrinde kam man für einen Monat oder für zwei in die Sklaverei.

Die vordere Kruste der Ration – die knusprigste, schwärzeste, dickste und begehrteste, also die obere vom Brotlaib – kostete zwei Monate; die hintere Rinde, also die untere vom Brotlaib, blasser, dünner und weniger knusprig, kostete einen Monat Sklaverei.

Und wer erinnerte sich nicht daran, wie Waska Morchel, der auch elf Jahre alt war wie die Kusmin-Zwillinge, für eine hintere Rinde ein halbes Jahr als Sklave gedient hatte, bis sein Onkel, ein Soldat, ihn mitnahm. Er hatte alles Essbare abgeben müssen und sich von Baumknospen ernährt, um nicht zu krepieren.

Die Kusmin-Zwillinge verkauften sich in den schweren Zeiten manchmal auch. Aber sie verkauften sich stets zu zweit.

Klar, man hätte aus den beiden Brüdern einen Menschen machen können, so wäre ihnen im ganzen Waisenhaus niemand an Alter und möglicherweise an Kraft gleichgekommen.

Aber die Kusmin-Zwillinge wussten auch so um ihre Überlegenheit.

Mit vier Händen klaut sich’s leichter als mit zweien; vier Beine entwischen schneller. Und vier Augen erst, die sehen viel schärfer, wann es zuzugreifen gilt, wenn irgendwo was schlecht verwahrt liegt.

Während zwei Augen mit der Arbeit beschäftigt sind, halten die anderen zwei Wache. Und sie passen obendrein auf, dass ihnen beiden nichts weggeschnappt wird, ein Kleidungsstück, die Matratze, auf der sie schlafen und im Traum Bilder aus dem Brotschneideraum sehen. Denn: Was starrst du auf den Brotschneideraum, wenn sie dich selber beklaun!

Die Möglichkeiten der Kusmin-Zwillinge waren nicht zu zählen. Wollen mal sagen, einer von ihnen wird auf dem Markt geschnappt und soll zum Kittchen geschleppt werden. Er wimmert, heult, sucht Mitleid zu wecken, der andere aber lenkt ab. Und drehen sich die Greifer nach diesem zweiten um, so macht der erste flitz und ist weg. Und der zweite hinterher. Beide Brüder waren flink, wendig und geschmeidig, und waren sie einmal losgelassen, so fasste man sie nicht wieder.

Die Augen guckten, die Hände schnappten, die Beine trugen davon.

Aber das Ganze musste vorher in einem Köpfchen ausgebrütet werden. Ohne einen zuverlässigen Plan, wie, wo und was gemaust werden sollte,...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2021
Mitarbeit Anpassung von: Ganna-Maria Braungardt, Christina Links
Nachwort Navid Kermani
Übersetzer Thomas Reschke
Sprache deutsch
Original-Titel Nočevala tučka zolotaja
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Autobiographisches Werk • Hunger • Kaukasus • Kermani • Klassiker • Meisterwerk • Navid Kermani • Russland • Schicksal • Stalin • Tschetschenien • Waisenkinder
ISBN-10 3-8412-2689-2 / 3841226892
ISBN-13 978-3-8412-2689-1 / 9783841226891
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