Sörensen am Ende der Welt (eBook)

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2021 | 1. Auflage
496 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00394-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sörensen am Ende der Welt -  Sven Stricker
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Kommissar Sörensen, gerade erst endgültig von Hamburg in das nordfriesische Katenbüll umgezogen, gibt die Hoffnung auf, in der Provinz Ruhe zu finden. Im Koog wird eine Leiche gefunden - erstochen mit einem Schraubenzieher. Und der letzte Mensch, der den Toten lebend gesehen hat, ist spurlos verschwunden: der junge Ole Kellinghusen, werdender Vater und ein guter Freund von Sörensen. Der immer noch unter seiner Angststörung leidende Ermittler stellt fest: Die Angst kennt viele Gesichter. Und der Tote hat sich jahrelang auf das Ende der Welt vorbereitet - nur nicht auf sein eigenes.

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von 'Sörensen hat Angst' gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.  

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.  

Eigentlich


Jeder ist seines Glückes Schmied, dachte Ole Kellinghusen und vermisste das passende Werkzeug. Er stand hinter der Kasse der Tankstelle, in der er dreimal die Woche als Aushilfe ein bescheidenes Zubrot zu gar nichts verdiente, betrachtete abwechselnd den Bildschirm unter der Decke, auf dem stumm ein Fußballspiel lief, und die geschlossene Kassenschublade, in der sich mehr Geld befand, als er im Monat verdiente. Leider, so war es nun mal, hatte er wie immer um diese Zeit zu wenig Kundschaft und zu viel Gelegenheit nachzudenken. Über sich zum Beispiel. Den Sinn des Lebens. Oder Gelatine in fettreduzierten Milchprodukten. Die Gelben da oben schossen ein Tor und jubelten, sie hatten ihren Sinn gefunden, darüber hätte man sich freuen können, wenn man sich denn für Fußball interessiert oder zumindest Gelb als Farbe interessant gefunden hätte. Ole hingegen kniff die Augen zusammen, hielt die etwas zu langen Fingernägel gegen das Licht und forschte im dezenten Schmutz darunter nach Hinweisen auf die Zukunft. Wenn überhaupt, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, sah sie schwarz aus.

Ole war spindeldürr, schlaksig, hatte Dreadlocks und eine spitze Nase, war besonders gut im Anschlagen von Gitarrensaiten und besonders schlecht im Aushalten der Vorstellung, schon bald Vater zu werden. Ja, genau, er wurde nämlich Vater. Und das machte ihm Angst. Schüchterte ihn so sehr ein, dass er Probleme mit der Luftzufuhr bekam, dass er bisweilen zitterte vor Aufregung, vor dem alles bestimmenden Gefühl, sein Leben schon jetzt, mit einundzwanzig, komplett verwirkt und in eine Sackgasse geführt zu haben.

Der Shop der einzigen Tankstelle Katenbülls verströmte eine stumme Kälte. Es war zweiundzwanzig Uhr dreizehn, Ole hatte auf Nachtschalter umgestellt und das Headset aufgesetzt. Eigentlich war es Blödsinn, um dreiundzwanzig Uhr machten sie sowieso dicht, die einstmals angepeilte Aufrechterhaltung eines städtischen 24-Stunden-Betriebs hatte sich schlicht und ergreifend nicht gelohnt. Sie hatten es ein paar Wochen versucht, noch vor Oles Zeit; der einzige Kunde, der in den Nachtstunden zum Auftanken gekommen war, war ein schlecht gelaunter Fuchs gewesen, der durch das Besteigen der Abfalleimer an den Zapfsäulen zu einer regelmäßigen Mahlzeit zu gelangen versuchte. Na ja, hatte Töns Gregersen, der Pächter, nach kurzer Gegenüberstellung von Kosten und Ertrag beschlossen, das konnte der Fuchs zukünftig auch ohne Festbeleuchtung und unnützes Personal.

Apropos Festbeleuchtung: Das grelle Neonlicht stach in Oles Augen, verursachte Kopfschmerzen, reizte die chronisch übermüdeten Synapsen zusätzlich. Die Kühlschrankreihe brummte leise vor sich hin, der Wind fegte ums Haus, bisweilen ließ er sich zum Heulen hinreißen, es war dunkel, es war kühl, obwohl es Frühling war, ein Frühling, der sich wie der Herbst gerierte, der sich wiederum wie der Sommer angefühlt hatte, kurz bevor es rund um die Jahreswende vorübergehend eisig geworden war. Seitdem hatte der Matsch die Oberhand gewonnen und nicht mehr losgelassen. Das Wetter ließ jegliche Trennschärfe zwischen den Jahreszeiten vermissen.

Ole sah an sich herunter, betrachtete das Firmen-T-Shirt, das ihm trotz seiner Statur ein, zwei Nummern zu groß war und auch ansonsten zu ihm passte wie ein Schießgewehr. Schießgewehr, dachte er, so ein Quatsch. Schießgewehr! Schieß. Gewehr. Wofür sollte so ein Gewehr denn sonst gut sein? Außer zum Schießen? Zum In-der-Nase-Bohren? Im-Kamin-Rumstochern? Überflüssig war das, man sagte ja auch nicht Fahrauto oder Wärmeheizung.

Er seufzte und tat sich nicht wenig leid. Er sollte eigentlich gar nicht hier sein. Genau, dachte er, das war es nämlich, da war es, das Wort: «Eigentlich». Er war zu einem Eigentlich-Menschen geworden. Ein Eigentlich-Mensch, das war jemand, der grundsätzlich etwas anderes tat, als er tun wollte, der sich als etwas anderes empfand, als er zu leben vermochte, und dies bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zum Besten gab. Ich fahre Sie zwar mit dem Taxi zum Flughafen, aber eigentlich bin ich Biologe. Nein, Moment, Nachtclubbesitzer bin ich. Astronaut. Lebensmittelchemiker. Opernsänger. Eigentlich. Wollen Sie mal hören?

Auch Ole war ein anderer. In Wirklichkeit. Ein Musiker. Ein Tänzer, der nicht die Füße vom Boden bekam. Ein Freigeist, der bereits Windeln für sein zukünftiges Gefängnis kaufte. Es war schwer, nicht den ganzen Tag deprimiert zu sein. Nicht auszubrechen. Sich zu freuen auf seinen Sohn, der nun doch kein Mädchen war, der ein gewisses körperliches Detail erst bei der letzten Ultraschalluntersuchung offenbart hatte und den er gewiss und selbstverständlich lieben würde. Aber er war erst einundzwanzig, verdammt. Zu jung für Windeln. Zu jung für Katenbüll. Zu jung, um niemals hier herauszukommen. Er hatte in Arnheim studieren wollen, vielleicht sogar in New York. Konzertgitarre. In seiner Vorstellung war alles voller großer Bühnen, jubelnder Menschen, seine Dreadlocks hingen ihm wirr ins Gesicht, während er sich, auf einem Schemel im Scheinwerferlicht, geradezu versunken über sein Instrument beugte und ganz alleine den Klang eines Orchesters erzeugte. Er wusste, er hatte es in sich. Und er hatte Angst, es niemals zeigen zu dürfen. Niemals den ersten Schritt zu gehen, den einen Schritt, den es brauchte, um überhaupt in Gang zu kommen. Er hatte Angst, das Schicksal Jennifer Holstenbecks zu erleiden, seiner zukünftigen «Schwiegermutter», die immerzu damit haderte, nie aus Katenbüll herausgekommen zu sein, es nie weiter als bis zur Kriminaloberkommissarin gebracht zu haben, und daher ganz besonders allergisch auf eventuelle Abwanderungsgedanken ihrer Mitmenschen reagierte.

Ole betrachtete die wuseligen gelben und roten Kurzhosenträger über sich und schaltete um auf den Nachrichtensender. In der Ukraine brannten Autos, in Lissabon hatte es einen Zugzusammenstoß gegeben, unzählige Tote und Verletzte, aber das Laufband darunter freute sich über die prunkvolle Hochzeit eines Popstars. Toll, dachte Ole. Zugunfall und Hochzeit, Leben und Tod, Leid und Party. Es war alles gleich. Gleich egal.

Sie hatten sich immer noch nicht endgültig geeinigt, wie sie ihr Baby nennen würden. Lucy, die kurz nach Weihnachten achtzehn geworden war, sagte, das könne man nicht wissen, bevor man es gesehen habe. Ole hingegen hatte einen klaren Favoriten und gesagt, das Kind passe sich dem Namen an, nicht umgekehrt. Wenn sie selbst in solchen Fragen nicht zueinanderfanden, wie sollte dann bloß der Rest des Lebens verlaufen? Der Rest des Lebens, oh Gott.

Er ging um den Tresen herum zu den Zeitschriften, die ganz hinten neben der Tür aufgefächert waren. Brauchte irgendeine Ablenkung, etwas, das ihn aus der ewigen Grübelei riss, die selten zu etwas Gutem führte. Er griff nach einem Musikmagazin und blätterte darin, fahrig, unkonzentriert, hörte über das Headset, wie draußen auf der Straße ein Lkw vorbeifuhr, es war nicht deckungsgleich, erst hörte er ihn, dann sah er die Lichter, die schlierigen, verwischenden, die Scheiben mussten mal wieder geputzt werden. Es folgte ein dumpfes Dröhnen in größerer Entfernung, was auch immer das war, dann ein lautstark blökendes Schaf. Warum schlief es nicht, und was gab es denn überhaupt zu blöken? Alles war überdeutlich. Das außen an die Klappe angebrachte Mikrophon machte keine Unterschiede, nahm alles gleichwertig auf und filterte nicht das Unwichtige vom Wichtigen. Die Gnade des Menschseins, dachte Ole, bestand darin, kein Mikrophon zu sein. Aussieben zu können. Klänge und Gedanken. Er betrachtete bunte, glänzende Bilder von Musikern in zumeist abweisenden Posen, legte das Heft wieder zurück und verhalf unmotiviert ein paar verrutschten Chipstüten in ihrem Regal zu neuer Stabilität.

Plötzlich gab es einen derart lauten Knall, dass ihm fast das Trommelfell geplatzt wäre. Ole schrie und richtete sich auf, jemand anderes schrie auch, es knallte noch einmal, jemand schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe am Nachtschalter, einmal, zweimal, dreimal, zack, zack, zack ging das. Ole spürte, dass ihm der Schreck wie Eisspitzen durch den Körper fuhr, er war unfähig, sich zu bewegen.

«Hilfe», schrie eine weibliche Stimme, sie war hoch, schrill, kreischend, zerrte in seinem Ohr. Ole versuchte, sich das Headset herunterzureißen, doch es hing fest, hinter dem linken Ohr. Es dauerte eine sehr lange Sekunde, dann hatte er sich sortiert. «Hilfe» hieß ja gewissermaßen, dass da jemand Hilfe benötigte, also im Sinne von schnell, schnell, nicht zögern, Beeilung, es hieß, entschlussfreudig zu sein, da kam es auf jede Sekunde an, also sollte er wohl mal etwas tun, dazu musste er sich bewegen. Jetzt! Er stürzte durch den Laden zurück zum Tresen, den direkten Weg zum Schalterfenster konnte er nicht nehmen, er musste außen herum, vorbei an den ungenießbaren Backwaren aus Teufels Küche, dann war er endlich angekommen, am Fenster, am Schalter mit der Schiebeklappe, und blickte hinaus. Ganz leicht unter ihm stand eine Frau, sie hatte lange braune, lockige Haare – wie alt mochte sie sein, vielleicht fünfunddreißig, vierzig? –, sie hämmerte erneut gegen die Scheibe.

«Lassen Sie mich rein!», brüllte sie. «Bitte, schnell!»

«Das geht nicht», rief Ole, «das darf ich nicht!»

Er fummelte das Headset wieder über das Ohr, mit zittrigen Fingern, und ärgerte sich. Warum war auch bei ihm Abwehr der erste Reflex? Sollte er nicht hilfreich sein? Edel und gut? Was war mit seinen Ansprüchen? Seinen Idealen? Der Idee von Solidarität und Menschlichkeit? Ja, reden, das konnte er. Aber jetzt, wo es einmal darauf ankam?

«Bitte!», schrie sie. Ihre Stimme schaffte es, sich innerhalb eines einzigen Wortes zu überschlagen. Ole sah in...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2021
Reihe/Serie Sörensen ermittelt
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bjarne Mädel • Büsum • Humor • Husum • Katenbüll • Kleinstadt • Kommissar • Koog • Krimi Neuerscheinungen 2021 • Küstenkrimi • Mord • Norddeutscher Kriminalroman • Norddeutschland • Nordfriesland • Nordsee • Nordseekrimi • Ostfriesenkrimi • Prepper • Sörensen • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Weltuntergang • ZDF
ISBN-10 3-644-00394-7 / 3644003947
ISBN-13 978-3-644-00394-1 / 9783644003941
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