Monschau (eBook)

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2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00923-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Monschau -  Steffen Kopetzky
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Im Jahr 1962, als das nukleare Wettrüsten seinen Höhepunkt erreicht, als in Algier und Paris Bomben explodieren, bricht im Wirtschaftswunder-Deutschland der junge Mediziner Nikolaos Spyridakis in die Eifel auf. Es ist eine heikle Mission: Im Kreis Monschau sind die Pocken ausgebrochen, hochansteckend und lebensgefährlich. Mitten im Karneval droht nun Stillstand, Quarantäne. Der Rither-Chef will die Fabrik um jeden Preis offen halten, keine zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist man weltweit gut im Geschäft. Ganz andere Pläne hegt Vera Rither: Die Alleinerbin studiert in Paris, bewundert Simone de Beauvoir und trägt den Geist der Avantgarde nach Monschau. Dort begegnet sie Nikolaos, der als Betriebsarzt durch die tiefverschneite Eifel zur Patientenvisite gefahren wird, vor Ansteckung geschützt durch einen Stahlarbeiteranzug. So unterschiedlich die beiden auch sind, der kretische Arzt, der als Kind die Gräuel der deutschen Besatzung miterlebt hat, und die schwerreiche Vollwaise: Sie entdecken schnell, dass sie mehr verbindet als ihre Liebe zu Miles Davis. Doch die Krankheitsfälle häufen sich, und das Virus nimmt sich, was es kriegen kann. Steffen Kopetzky erzählt von einer Liebe im Ausnahmezustand und von der jungen, vom rasanten Wirtschaftswachstum geprägten Bundesrepublik - und verwandelt die wahren Begebenheiten eines kaum bekannten Kapitels deutscher Geschichte in packende Literatur.

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.

Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Sein Roman «Monschau» (2021) stand monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, ebenso wie «Risiko» (2015, Longlist Deutscher Buchpreis). «Propaganda» (2019) war für den Bayerischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien «Damenopfer» (2023). Von 2002 bis 2008 war Kopetzky künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.

2


Diese Geschichte spielt im Norden der Eifel. In jenem landschaftlich einzigartigen Gebirge westlich des Rheinstromes liegt nahe der belgischen Grenze eine alte Tuchmacherstadt nebst angrenzendem Fabrikdorf. Monschau und Lammerath.

Es ist gegen Ende der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer, der seine politische Laufbahn einstmals als Oberbürgermeister von Köln begonnen hatte und deshalb listig die alte kölnische Residenzstadt Bonn als provisorische Hauptstadt durchzusetzen verstand. Im Mai wird die junge westdeutsche Republik dreizehn Jahre alt. Ganz im Gegensatz zu der im Volksmund mit Unglück assoziierten Zahl dreizehn ist 1962 aber das Jahr mit der stärksten Wirtschaftsleistung ihrer bisherigen Geschichte. Es fehlen sogar Arbeitskräfte, und die Wirtschaft hat Emissionäre in den Süden Europas und der Türkei geschickt. Sie ringt um sogenannte Gastarbeiter-Vereinbarungen. Der Kanzler hat den Bau eines Regierungsbunkers in einem von den Nazis für die Produktion der V2-Raketen angelegten Stollen in Auftrag gegeben. Der Präsident von Amerika heißt John F. Kennedy. Er hat die Wahl 1960 mit dem Versprechen gewonnen, den Rückstand der USA an Atomraketen gegenüber der Sowjetunion zu schließen, also aufzurüsten. Dennoch ist er ein Idol der Weltjugend. Er hat die Sechziger zur Epoche des Aufbruchs erklärt, in allen Bereichen des Lebens und sogar über die Erde hinaus, im gerade gestarteten Apollo-Programm. Wenn Präsident Kennedy darüber spricht, dass die USA als erste Nation einen Menschen auf den Mond bringen wollen, dann gibt das schon fast so gute Fernsehbilder wie die ersehnte Mondlandung selbst. Die Sowjetunion unter Generalsekretär Chruschtschow, die in der bemannten Raumfahrt mit dem Sputnik bislang die Nase vorn hatte, soll überholt werden. Die Raketentechnologie ist wahrhaft schizophren, sie steht für Fortschritt und für Untergang gleichermaßen. Für manche freilich ist dies kein Gegensatz.

Doch all dies beschäftigte die Menschen in West-(und Ost-)Deutschland derzeit nicht wirklich. Etwas ganz anderes wühlte sie auf, nämlich die Frage: Wer ist der Mörder? In diesem Fall der an einer umwerfend schönen, natürlich in London – weit über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse – lebenden jungen Frau, die sich unter der Berufsbezeichnung «Mannequin und Künstlerin» verdingt. Sie wurde mit einem englischen Halstuch erdrosselt. Niemals zuvor hatte ein deutscher Sender mehr Marktanteil gehabt als der WDR in Köln mit «Das Halstuch»: neunundachtzig Prozent. Es fegte die Straßen leer.

 

Dennoch gab es noch Menschen, die der erfolgreichsten deutschen TV-Serie aller Zeiten an diesem Tag nicht die geringste Beachtung schenkten. Zwei davon saßen in einem alten Volkswagen, fuhren durch die Düsseldorfer Innenstadt und führten eine intensive Besprechung.

«Bei den Pocken gibt es ein Zeitfenster», sagte Professor Stüttgen, während er in den dritten Gang hochschaltete und dem Motor einen ordentlichen Stoß gab. Der Berufsverkehr auf der Königsallee war schon recht belebt – alle wollten pünktlich nach Hause kommen, um den letzten Teil von «Das Halstuch» zu sehen. Dreispurig auf jeder Seite fuhren die Autos dahin. Dann, an der Ampel, stand direkt neben ihnen ein nagelneuer Opel Kadett. Als es grün wurde, zog er in seiner unwiderstehlichen Eleganz vor ihnen ab. Stüttgen und sein Beifahrer nickten sich beeindruckt zu.

«In diesem Zeitfenster kann jemand bereits hochinfektiös sein, ohne irgendwelche Symptome zu zeigen.»

Der Professor setzte den Blinker und nahm die große Kreuzung, die sie noch zu passieren hatten, recht sportlich. Er hatte es richtig eingeschätzt, sie kamen gerade noch bei Gelb drüber. Nikos sah die Lichter der hinter ihnen fahrenden Wagen im Rückspiegel. Sie ließen die Pfützen in der für Autos gemachten Stadt aufblitzen.

 

Auf der Autobahn Richtung Köln schaltete der Professor in den Vierten. Von der linken Spur würde er während der ganzen Fahrt in die Eifel nicht mehr weichen.

«So eine Person kann Dutzende weitere Menschen anstecken. In einer städtischen Untergrundbahn zur Stoßzeit könnten es unter Umständen Tausende sein. Verstehen Sie, was das heißt, Nikos?»

Nikos Spyridakis, der in Mathematik eigentlich nie besonders gut gewesen war, hatte durch seine Leidenschaft für die Mikroskopie durchaus mit Zahlenverhältnissen und exponentieller Logik umzugehen gelernt. Wenn er sich kühl rechnend den Plan der ihm von Besuchen bei einem Cousin gut bekannten Londoner U-Bahn vor Augen führte und sich ausmalte, wie sich die Sache dort voranarbeiten würde, fiel ihm nur ein Bild ein: Ein mit diesem Virus Infizierter war wie ein wandelnder Todesengel.

«Eine biologische Bombe, meinen Sie so etwas, in der Art?»

«Ganz genau. Aber immerhin: Die Landesregierung hat mir versichert, dass wir alle Unterstützung kriegen werden. Die haben offenbar eingesehen, welche Fehler gemacht worden sind. Wir können die Sache noch entschärfen. Da bin ich sicher. Aber wir müssen allem nachgehen. Es wird strenge Isolation und Quarantäne geben. Wir müssen jetzt am Anfang ganz genau arbeiten, Nikos. Die ersten Tage sind im Umgang mit einer Epidemie die wichtigsten. Die entscheidenden.»

 

Als Nikos Professor Ruska mitgeteilt hatte, dass er am Wochenende leider nicht für den großen Schnittkurs zur Verfügung stünde, wo eine lange Reihe von Präparatgläsern darauf wartete, bestückt zu werden, hatte er bei Ruska eine beinahe verbitterte Reaktion geerntet.

«Ich kann nicht verstehen, dass Stüttgen Sie einer solchen Gefahr aussetzt. So unvorbereitet, das ist doch eine Kamikaze-Aktion. Aber gut, das Ministerium hat angerufen.»

Resignierend hatte er Nikos die Hand geschüttelt und zugesehen, wie der aufstrebende Dermatologe Stüttgen ihm seinen besten Laboranten entzog. Noch hatte sich der junge Assistenzarzt in seiner Fachrichtung nicht festgelegt – und Ruska hoffte, ihn fest an sein Virologisches Institut zu binden. Viele wollten unbedingt Elektronenmikroskopie machen, es war ein sogenanntes Modefach. Aber den meisten fehlte das gewisse Etwas – die Fähigkeit zum Schnitt.

Elektronenmikroskopie war Hochtechnologie, die auf der langen Erfahrung der deutschen Glasverarbeitung beruhte, die Kunst des Glasschliffs stieß hier in den molekularen Bereich vor – aber man brauchte auch die richtigen Präparate. Spyridakis, der einer Dynastie kretischer Fischer entstammte, wusste, wie man mit scharfen Klingen umging, wie man filetierte. Und er hatte ein hervorragendes Auge – das war die andere Qualität, wichtig bei der Deutung mancher Präparate. Und nun würde er ausfallen. Seuchendienst in der Eifel. Sein bester Mann an die Pockenfront geholt.

 

Nikos war sich bewusst, wie kritisch Ruska diesen Auftrag einschätzte. Er selbst sah das Ganze weniger dramatisch. Erstens war er vierundzwanzig und fühlte sich in diesem Alter naturgemäß unsterblich. Zweitens gab es da etwas, das sich Tagessatz nannte und das für einen jungen Mann, in dessen Leben das einzig Stetige war, einfach nie genug Geld zu haben, ein sehr überzeugendes Argument darstellte. Nikos hatte zuletzt Laborgläser für Professor Stüttgen gespült, Reagenzgläser, Schalen. Drei Mark die Stunde, was nicht schlecht war. Jetzt dagegen vierzig Mark am Tag – das war enorm.

Stüttgen hatte ihm nicht verheimlicht, dass alle anderen, erfahreneren Ärzte am Dermatologischen Institut abgewinkt hatten, ihn zu begleiten. Zwar waren sie als Mediziner geimpft, dennoch blieb ein letztes Risiko, sich selber anzustecken. Und praktische Erfahrung im Umgang mit so einer gefährlichen Erkrankung außerhalb eines Labors hatte keiner der Kollegen. Also hatten sie bedauernd abgesagt, auf ihre zeitliche Belastung, andere Verpflichtungen oder ihre Familien hingewiesen – schwach. Wobei Stüttgen doch selbst eine Frau und zwei Söhne hatte. Nikos Spyridakis wusste sehr gut, dass er der jüngste denkbare Kandidat an der Akademie war. Dazu war er ungebunden und körperlich belastbar, ein langjähriger Sportschwimmer. Aber er war keineswegs ein Draufgänger, auch wenn seine Großmutter ihm das immer wieder mit Verweis auf seinen Großvater einzureden versucht hatte: «Mit deinem Großvater zusammen zu sein, bedeutete, jeden Abend aufs Neue die unglaublichsten Geschichten über die Hintergründe seiner mal mehr, mal weniger schlimmen Verwundungen und Kratzer zu erfahren. Ich war noch nicht eine Woche mit ihm verheiratet, da musste ich ihm zum ersten Mal das Knie verbinden. Ich glaube, es gab keine zehn, höchstens mal vierzehn Tage hintereinander, an denen er sich nicht irgendeine Schramme holte.»

Sein Großvater hatte ihm das Tauchen, das Fischen, den Umgang mit scharfen Messern und das Schießen beigebracht. Alles Tätigkeiten, bei denen man ein gewisses Risiko einging. Aber die Erfahrung sagt, dass man nirgendwo vorsichtiger und deshalb sicherer geht als in der tiefsten Nacht. Nie ist der Mensch aufmerksamer als auf gefährlichem Terrain.

 

«Bitte überlegen Sie es sich, Nikos», hatte Stüttgen zu ihm gesagt, «für mich selbst ist die Entscheidung selbstverständlich. Ich bin Arzt. Ich sehe mich in der Pflicht. Aber Sie – ich will Sie zu nichts überreden.»

«War Hippokrates nicht ein Grieche? Wie sollte ich zurückstehen?», war Nikos’ Antwort gewesen, in der ein nicht geringer Stolz darüber mitschwang, dass ihm Stüttgen diese Aufgabe überhaupt zutraute. Und an der Seite des Professors hatte man ohnehin mehr den Eindruck, als würde man ein Wochenende in die Berge fahren, um vielleicht Wintersport zu...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1962 • Arzt • Ausnahmezustand • Bundesrepublik Deutschland • Gastarbeiter • Historischer Roman • Ingenieur • Liebe • Liebesgeschichte • Medizin • Monschau • Muttertagsgeschenk • Pocken • Quarantäne • Roman • Seuche • spiegel bestseller • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Virus • Wirtschaftswunderzeit
ISBN-10 3-644-00923-6 / 3644009236
ISBN-13 978-3-644-00923-3 / 9783644009233
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