Kein Feuer kann brennen so heiß (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
304 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61172-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kein Feuer kann brennen so heiß -  Ingrid Noll
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Schön ist sie nicht, aber sie kann kochen und anpacken. Deshalb ist Lorina Altenpflegerin geworden und hat mit der Anstellung in der Villa von Frau Alsfelder das große Los gezogen. Hier geben sich attraktive Masseure die Klinke in die Hand, und Techtelmechtel entstehen, die besser geheim bleiben sollen. Für Aufregung sorgen ein aufgeschwatzter Pudel und ein zurückgelassenes Baby, die die alte Dame sichtlich neu beleben. Sehr zum Missfallen ihres Großneffen, der aufs Erbe lauert.

Ingrid Noll, geboren 1935 in Shanghai, studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und vierfache Großmutter. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. 2005 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis der Autor:innen für ihr Gesamtwerk.


Eigentlich hatten meine enttäuschten Eltern fest mit einem Lorenz gerechnet, aus Mangel an Phantasie nannten sie mich einfach Lorina, kurz Lori.

Schon bald nachdem ich geboren wurde und mein Vater zum ersten Mal in meine kreisrunden Augen schaute, machte er aus Lori einen Plumplori. Es soll Menschen geben, die unentwegt über die eigenen Füße stolpern; diese Eigenschaft wird im Allgemeinen Männern zugeschrieben, bei mir fand man es nicht besonders lustig. Und als ich viel zu spät laufen lernte, sagte meine Schwester Carola nur noch Trampeltier zu mir. Angeblich walzte ich mit großem Getöse alles nieder, was mir in die Quere kam. Meine hessische Großmutter, die mit dem Vornamen Lorina wenig anfangen konnte, nannte mich Dabbes, was Tollpatsch bedeutet. Es war nicht direkt abwertend gemeint, eher scherzhaft, doch ich litt darunter. Ein Trampeltier ist sächlich, Plumplori und Dabbes sind männlich – für ein kleines Mädchen kein gutes Omen. Schon früh musste ich mir die Rolle einer Prinzessin abschminken. Man wäre sowieso nie auf die Idee gekommen, mich in rosa Tüllröckchen zu stecken, denn man hätte mich am Ende für einen kleinen Transvestiten halten können.

Kürzlich las ich von den geschmeidigen Bewegungen einer Katze – ja, das war es, was mir fehlte. Biegsam, gelenkig, weich, anmutig, trotzdem aber kraftvoll, das war mein Ideal. Lange überlegte ich, ob mir Ballettunterricht vielleicht auf die Sprünge helfen würde, aber die Scham, zum Gespött einer Elfenschar zu werden, überwog. Aus ähnlichen Gründen habe ich mich später auch vor der Tanzstunde gedrückt.

Das Märchen vom hässlichen kleinen Entlein, das sich beim Happyend in einen stolzen Schwan verwandelt, trifft in meinem Fall nicht zu. Ich wäre ja zufrieden, wenn ich nur als Kind ein hässliches Entchen gewesen wäre, um mich als ausgewachsener Teenager in eine Schönheit zu verwandeln. Doch ich bin auch als gestandene Frau ein Trampel geblieben.

Die beste Zeit hatte ich mit drei Jahren, weil mich die gleichaltrigen Jungen noch für ihresgleichen hielten. Aber schon bald wurde ich beim Pipimachen geoutet, woraufhin alle im Kindergarten wussten, dass ich eigentlich nur ein linkisches Mädchen war. Im Gymnasium riet mir eine Mitschülerin, lesbisch zu werden, weil ich bei Männern sowieso keine Chance hätte. Ich habe zwar versucht, in diese Kreise vorzudringen, aber auch dort bevorzugte man Attraktivität und Charisma. Selbst mein eigener Vater lehnte mich mehr oder weniger ab, bloß meine Mutter versuchte, mich zu trösten. »Schönheit liegt doch nur im Auge des Betrachters«, meinte sie, ein absolut dummer Spruch, denn beim Anblick eines Plumploris gerät wahrscheinlich nur ein Zoologe in Entzücken.

Schon früh waren sich alle einig: Bei diesem Kind muss man andere Prioritäten setzen, vielleicht ist es ja besonders musikalisch, denn ich brummte schon als Baby mit seltsam schnarrenden Tönen vor mich hin. Und meine großen Hände schienen bestens dafür geeignet, mehr als nur eine Oktave greifen zu können. Leider erwies sich diese Hoffnung als Irrtum. Auch in anderen kreativen Bereichen war ich eine Niete, einem Dabbes zerbrechen die Malstifte in der zornig geballten Faust, vom Pinsel wird eher das T-Shirt als das Papier eingefärbt. Sport kam nicht in Frage, denn Boxen oder Gewichte-Heben fand meine Mutter selbst bei Männern ziemlich abartig. Doch es gab immerhin eine Überraschung: Ich lernte zwar erst spät, irgendetwas Verständliches zu artikulieren, dann aber gleich in kurzen Sätzen. »Papa raus! Mama raus!«, waren meine ersten Worte, als meine Eltern ins Wohnzimmer kamen und den Fernseher ausschalten wollten. Sie erschraken so sehr, dass sie mir widerspruchslos gehorchten. Am meisten staunten sie allerdings über mein rollendes R, das jedem Spanier zur Ehre gereicht hätte.

Diesen kleinen Sprachfehler konnte oder wollte ich auch später nicht ablegen, zumal man mich auch aufgrund meines Namens für eine halbe Südländerin hielt. Als in meiner Schule Spanisch als zweite Fremdsprache angeboten wurde, war das für mich ein gefundenes Fressen. Ich erlernte mühelos einen spanischen Zungenbrecher: El perro de San Roque no tiene rabo, porque Ramón Ramírez se lo ha cortado. Wenigstens damit konnte ich Eindruck schinden.

 

Meine Schwester hasste es, wenn ich ihren Namen Carola, kurz Caro, wie einen spanischen perro zu rollen pflegte. Übrigens erfuhren wir beide erst als Erwachsene, dass auch sie eigentlich ein Junge, ein Carl Theodor, werden sollte. Die Ehe meiner Eltern war desaströs, und daran war ich schuld. Als man endlich per Ultraschall das Geschlecht der Ungeborenen feststellen konnte, wurde meine Mutter noch mehrmals schwanger. Da es wieder keine Jungen waren, fuhr sie ins Ausland und entledigte sich der unerwünschten Embryonen. Mein Vater bestand auf weiteren Versuchen, die sie jedoch ablehnte. Anscheinend haben sich meine Eltern nur deswegen nicht wieder versöhnen können. Wäre ich ein Lorenz geworden, dann wären wir vielleicht eine glückliche Familie gewesen.

 

Ebenso wie ich hatte Boris seinen Namen nie gemocht. Aber als er mich kennenlernte und ich das R in seinem Namen so fremdartig rollte, war er anscheinend beeindruckt. Mein Rufname Lori reimte sich auf den seinen, wenn man das S wegließ. Bori und Lori passten zusammen wie Hanni & Nanni, Pech & Schwefel, wie Bonnie & Clyde, fand er. Wie Pat und Patachon, dachte ich insgeheim. Vielleicht war mein Zungenspitzen-R auch das Einzige an mir, das Boris faszinierte.

Nach dem Abitur hatte ich keine Ahnung, was ich werden sollte – ohne spezielle Begabung, nur in Deutsch und Spanisch eine sehr gute Note und ohne Lust auf ein Studium. Am liebsten wollte ich etwas mit Menschen zu tun haben, denen mein Aussehen egal war, zum Beispiel Blinde, Kleinkinder oder demente Greise. Mich faszinierten auch soziale Ehrenämter wie etwa Flüchtlingsbetreuer oder Hospizdienstbegleiter, aber schließlich wollte ich meinen ewig unzufriedenen Eltern nicht auf der Tasche liegen und meinen Unterhalt bald selbst verdienen. Ich besuchte also drei Jahre lang eine staatlich anerkannte Altenpflegeschule, um dann später eine Anstellung im Pflegemanagement zu finden. Aus Mangel an Initiative war ich aber lange Zeit nur als Fachkraft bei einem ambulanten Pflegedienst tätig, wo ich gelegentlich auch mit Boris zusammentraf. Doch erst als ich bei Viktoria Alsfelder angestellt wurde, lernten wir uns näher kennen. Boris war selbständiger Physiotherapeut und Masseur. Dreimal in der Woche knetete er unsere gemeinsame Patientin von Kopf bis Fuß kräftig durch und zwang sie sogar, ein paar Schritte mit dem Rollator zu gehen.

Bei der Sozialstation hatte ich gekündigt, weil ich den ständigen Zeitdruck nicht mehr aushielt. In der Alten- und Krankenpflege sind bundesweit etwa 35000 Stellen unbesetzt. Allein für eine Waschung braucht man eigentlich eine halbe Stunde, die man sich aber nicht nehmen kann. Ich musste von einem Patienten zum anderen hetzen und konnte mich weder auf ein kleines Gespräch noch auf andere liebevolle Zuwendungen einlassen, denn ich tat mich schwer mit der langwierigen bürokratischen Dokumentation. Es war wie ein Fingerzeig des Himmels, als mich nach Tagen der Verzweif‌lung und Depression der Anruf einer ehemaligen Kollegin erreichte. Ob ich schon eine neue Stelle hätte? Eine schwerbehinderte ältere Dame suche eine Pflegerin mit deutscher Muttersprache, die allerdings dort wohnen müsse, dafür aber auch ein gutes Gehalt bekomme. Der Hinweis erwies sich als Glücksfall. Ich sprach bei Frau Alsfelder vor, wir unterhielten uns ausführlich, und ich zog schon eine Woche später bei ihr ein. Die alte Dame trug die schlohweißen Haare wie ein junges Mädchen als Pferdeschwanz. Wenn sie mich mit ihren wachen Augen ansah, fand ich sie sehr schön. Ob ich spanische Wurzeln hätte, fragte sie, denn meine sprachliche Besonderheit schien sie zu interessieren. Das Einstellungsgespräch dauerte wie gesagt ziemlich lange, denn meine neue Arbeitgeberin redete betulich und ein wenig abgehackt. Zum Glück schien sich aber ihre Lähmung kaum auf das Sprachzentrum ausgewirkt zu haben. Wichtiger als meine Zeugnisse war ihr wohl die Einschätzung meiner körperlichen Kräfte. Als Test ließ sie mich verschiedene schwere Gegenstände hochheben, und am Ende musste ich sie selbst von einem Raum zum anderen schleppen, obwohl ein Rollstuhl zur Verfügung stand. Mein Äußeres schien sie keineswegs zu stören, wahrscheinlich dachte sie sogar, dass eine Walküre bestimmt keine Liebschaften hätte und einzig und allein im Beruf Erfüllung fände.

In meinem neuen Zuhause hatte ich es besser getroffen als je zuvor, denn mein großes Zimmer hatte einen Balkon mit Blick über einen kleinen Vorgarten bis hin zu den fernen Bergen des Pfälzer Waldes. Außer mir gab es noch die Haushaltshilfe Nadine, die allerdings nur am Vormittag kam, putzte, Spül-, Waschmaschine und Trockner bediente und bügelte. Einmal im Monat erschien auch ein Gärtner, mähte den Rasen, schnitt die Hecke und pflanzte auf Geheiß ein paar gelbe Blumen. Alle zwei Wochen fuhr eine drahtige medizinische Fußpflegerin schwungvoll vor und kümmerte sich mit Hingabe um die Krallenzehen meiner Arbeitgeberin. Von Nadine erfuhr ich nach und nach so manches, was ich über Frau Alsfelder wissen wollte. Sie stamme eigentlich aus einer verarmten Adelsfamilie und war erst durch die Hochzeit zu Wohlstand gekommen. Ihr Exmann saß im Aufsichtsrat eines Chemiekonzerns und war anscheinend richtig reich. Als seine Frau nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war, ließ er sich scheiden. Sein schlechtes Gewissen führte angeblich dazu, dass er ihr die schöne Villa...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Altenpflege • Altenpfleger • Altenpflegerin • Asiatisch • Baby • Ballade • Behinderung • Erbe • Erbschleicher • Erbschleierei • Gedicht • gelähmt • Geld • Harlekinpudel • Haushälterin • Heimatroman • Heimliche Liebe • keine Kohle • Kein Feuer • Kein Feuer, keine Kohle • Kochen • Krankengymnastik • Lähmung • Liebe • Mass • Masseur • Mehrgenerationen-WG • Minderwertigkeitsgefühl • Minne • Mord • Pflegekraft • Pudel • Rollstuhl • Schlaftabletten • Schwester • Sex • unattraktiv • Uneheliches Kind • Unfall • Villa • Volkslied • Wohngemeinschaft
ISBN-10 3-257-61172-2 / 3257611722
ISBN-13 978-3-257-61172-4 / 9783257611724
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 941 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychothriller

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2022)
Droemer eBook (Verlag)
9,99
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
9,99
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | Der musikalische Psychothriller …

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2021)
Droemer eBook (Verlag)
9,99