Erinnerungen aus Glas

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(Autor)

Buch | Hardcover
368 Seiten
2021 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-189-5 (ISBN)
17,95 inkl. MwSt
Niederlande 1942: Eliese und Josie waren beste Freundinnen, doch das Leben hat sie getrennte Wege geführt. Nun stehen sie sich plötzlich wieder gegenüber: Eliese arbeitet inzwischen als Registrierungskraft in der Hollandschen Schouwburg, einem Amsterdamer Theater, das zur Sammelstelle für Juden umfunktioniert worden ist, Josie im gegenüberliegenden Kinderheim. Gemeinsam schmieden sie einen waghalsigen Rettungsplan ...75 Jahre später: Ava Drake reist als Direktorin der gemeinnützigen Kingston-Stiftung nach Uganda. Dort will sie den Förderantrag von Landon West prüfen. Existieren seine Kaffeeplantage und das angeschlossene Kinderheim tatsächlich? Als sich unerwartet eine Verbindung zwischen der Familiengeschichte von Landon und ihrer eigenen auftut und Ava zu recherchieren beginnt, stößt sie in ein Wespennest aus Lügen, Betrug und Habgier. Und sie begegnet Landons Großmutter, einer zierlichen alten Dame mit einer unglaublichen Geschichte ...

Melanie Dobson hat Journalismus und Kommunikation studiert und war als Werbeleiterin tätig, bevor sie sich mehr und mehr dem Schreiben widmete. Eine besondere Vorliebe hat sie für Bücher, in denen Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft werden. Mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebt sie in der Nähe von Portland, Oregon.

1. Kapitel JOSIE Giethoorn, Niederlande Juni 1933 Blütenblätter klebten wie nasse Seidenstückchen an Josies Zehen, während sie tief gebückt am Dorfkanal entlangschlich. Klaas Schoght konnte den ganzen Nachmittag suchen, wenn er wollte. Solange sie und ihr Bruder ihren Plan befolgten, würde er weder sie noch die rot-weiß-blaue Flagge, die sie um jeden Preis beschützen wollten, je finden. Klaas’ Haar, das wie goldener Frost schimmerte, bewegte sich auf der anderen Seite des Kanals über der sauber geschnittenen Hecke im Garten seiner Familie auf und nieder. Sie verfolgte die von der Sonne beschienenen Haarspitzen mit den Augen, während Klaas die Hecke durchkämmte und dann zwischen zwei Stechkähne spähte, die an einen Pfahl gebunden waren, bevor er sich zur Holzbrücke umdrehte. In Giethoorn gab es keine Straßen, nur schmale Fußwege und Kanäle, die die schachbrettartig angeordneten Grundstücke miteinander verbanden. Die meisten Dorfkinder verbrachten ihre freie Zeit mit Schwimmen, Bootfahren und im Winter mit Eislaufen auf den Wasserstraßen, aber ihr Bruder begeisterte sich mehr für dieses Widerstandsspiel an Land. »Jozefien?«, rief Klaas, während er über die Brücke auf die kleine Insel zusteuerte, auf der ihre eigene und eine Nachbarsfamilie wohnten. Sie bückte sich zwischen den wachsartigen Blättern der Hortensien ihrer Mutter, deren Blüten ihre hellrosa und magentaroten Blütenblätter in eine Slootje – eine der vielen schmalen Wasseradern, die die Inseln zusammenhielten – streuten. Ihr Bruder hatte sie gelehrt, wie man sich in den Dorfgärten und hinter Bäumen und Holzstößen gut verstecken konnte. Sogar auf Dächern. Sie hatte viele Geheimplätze und könnte, wenn nötig, für Stunden untertauchen. »Samuel?«, rief Klaas jetzt, aber Josies Bruder gab ihm ebenfalls keine Antwort. Alle Kinder hörten in der Schule von den Geuzen – den holländischen Widerstandskämpfern, die im Achtzigjährigen Krieg ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatten. Ihr Bruder war ein Meister des Versteckens, als wäre er eines der heimlichen Geuzenmitglieder, die vor Jahrhunderten für die Freiheit ihres Landes gekämpft hatten. In ihrem Spiel mit Klaas durfte weder Samuel noch sie selbst gefangen werden, bevor ihr Bruder die holländische Flagge an die Haustür der Schoghts gehängt hatte. Klaas war es egal, in welchem Team er spielte, Hauptsache, er gewann. Zwischen den Blumen und Blättern hindurch sah Josie Samuels Hosenbeine oben im Kastanienbaum verschwinden. Ihre gemeinsam ausgeklügelte Taktik war gut. Jetzt musste sie sich nur noch verstecken, bis ihr Bruder ihr signalisierte, dass sie lossprinten konnte. Das Entscheidende im Widerstand gegen den Feind war nicht der Kampf, bläute ihr Samuel immer wieder ein, sondern das Warten. Klaas hasste es zu warten. Der Junge trug einen schwarzen Umhang über seiner Pfadfinderuniform, aber sie konnte die weißen Ringe oben an seinen Kniestrümpfen sehen, als er eines der Boote ihrer Familie absuchte. An diesem Nachmittag war er nicht Klaas Schoght, stolzer Pfadfinder und Sohn ihres Dorfarztes. An diesem Nachmittag war er Fernando Álvarez de Toledo, der spanische Statthalter über die Niederlande, der versuchte, die holländischen Widerstandskämpfer zu besiegen und ihre Flagge aus dem Stoff eines alten Kleides ihrer Mutter zu erobern, das zum Glück zu fadenscheinig gewesen war, als dass sie es für ihre einzige Tochter hätte umnähen können. Josie lief viel lieber in den langen Shorts und Blusen herum, die ihr ihre Mutter im Sommer widerstrebend zugestand, damit ihre Kleider geschont wurden. Noch lieber trug sie die braune Pfadfinderinnenuniform, die sie heute anhatte – ein hellbraunes Kleid, das bis über ihre Knie reichte. Die gestrickte Mütze und ihre braunen Schuhe und langen Strümpfe hatte sie zu Hause gelassen. Sie hatten die Regeln für dieses Spiel zu dritt aufgestellt. Sie und ihr Bruder waren darin sie selbst – Josie und Samuel van Rees, die Kinder eines Lehrers und einer Hausfrau, die manchmal in der Schule aushalf. Klaas ahnte nicht, dass die holländische Flagge sich an diesem Nachmittag hoch im Baum bei Samuel befand. Wenn ihr Bruder das Zeichen gab, würde Josie ihn ablenken, damit Samuel die roten, weißen und blauen Stoffstreifen zum Ziel bringen konnte. Wasser klatschte gegen das Ufer. Sie warf noch einmal einen Blick durch das Netz aus weißen Blüten und wachsartigen Blättern, um zu sehen, ob Klaas in den Kanal gesprungen war. An- stelle von ihm sah sie jedoch nur einen Nachbarn, der seinen Kahn mit einem langen Stab durchs Wasser steuerte. Sie kratzte sich das Knie an einem Zweig auf und zog es schnell zurück. Schnell wischte sie das Blut an einem Blatt ab, damit der Saum ihres Kleides nicht beschmutzt wurde. Sie trug aus ihren Kämpfen häufig Verletzungen davon, aber jetzt, da sie neun war, kümmerte sie sich selbst darum. Vor ungefähr einem Jahr war sie einmal mit einer größeren Wunde ins Haus gelaufen. Mama hatte nur einen Blick darauf geworfen und war in der Küche ohnmächtig geworden. Seitdem ging Josie bei ernsteren Fällen zu Klaas’ Vater. Als der Kahn fort war, strengte sie ihre Ohren an, um Klaas’ Schritte am Ufer zu hören, aber sie konnte nichts weiter ausmachen als das Schnattern der Graugans ein paar Meter weiter, die empört war, weil Josie den sieben Gänseküken zu nah gekommen war, die in einer schnurgeraden Reihe hinter ihr herwatschelten. Sie sahen aus wie holländische Soldaten, die ihrem Oberst mit seinem orangefarbenen Schnabel folgten. Jedes trug eine flauschige gelbe Uniform und war mit braunen Streifen geschmückt; vielleicht hatten sie sich die erworben, indem sie den Kanälen auf dem ganzen Weg bis zum nahe gelegenen See Belterwijde getrotzt hatten. Josie hätte sich gern eines der Küken geschnappt, um es zu streicheln, während sie in ihrem Versteck wartete. Aber dann würde die Oberstmutter ein noch lauteres Gezeter veranstalten und damit dem Statthalter von Spanien Josies Aufenthaltsort verraten. Und Fernando Álvarez de Toldeo würde tagelang mit seinem Triumph prahlen. Wieder einmal. Dieses Mal waren Samuel und sie fest entschlossen, als Sieger aus dem Spiel hervorzugehen. Lang lebe der Widerstand! Das Gänsebataillon schwamm um den Kahn unter ihr herum und verschwand. »Jozefien!« Klaas war jetzt viel näher, obwohl sie es nicht wagte nachzusehen, wo genau. Wusste er schon, dass Samuel auf dem Baum hinter ihr war? Klaas kletterte nicht gern, aber sein Ehrgeiz zu gewinnen war noch stärker als seine Höhenangst. Ein Stein flog in den Kanal und brachte den Kahn leicht zum Schaukeln. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Operation van Rees konnte beginnen. Während Klaas denjenigen suchte, der den Stein geworfen hatte, versteckte sie sich auf der anderen Seite der Brücke. Sie schlüpfte aus ihrem Kleid und glitt im Unterhemd in das kühle Wasser, wie ihr Bruder sie angewiesen hatte. Sie hielt die Luft an und bewegte die Beine unter Wasser wie ein Seefrosch, der vor einem Fischreiher flieht. Sechs kräftige Stöße, dann tauchte sie unter der Holzbrücke auf. Im Wasser, das hier im Schatten eiskalt war, klebten ihre lange Unterhose und ihr Hemd an ihrer Haut. Vom Kanal aus konnte sie sehen, wie Klaas Mamas Blumen durchsuchte und Samuel über ihm vom Baum kletterte, um dann flink über die Brücke zu laufen. Neben ihr waren drei Initialen ins Holz geschnitzt: S.v.R. J.v.R. K.S. Die Jungen wussten nicht, dass sie ihre Initialen hier eingeritzt hatte. Ihre Namen hier festgehalten zu wissen, gab ihr das Gefühl, dass es immer so bleiben würde. Dass sich zwischen ihnen nie etwas ändern könnte. Samuel, Klaas und sie waren im Spiel oft die erbittertsten Feinde, aber in Wirklichkeit konnte es keine besseren Freunde geben. Josie schwamm vorsichtig von der Brücke weg hin zu den schmalen Pfählen hinter ihr, die verhinderten, dass das Ufer in den Kanal abrutschte. Links von ihr bewegte sich etwas. Sie drehte sich zum Haus von Herrn und Frau Pon. Die Pons hatten keine Kinder, doch dort auf ihrer Veranda stand ein Mädchen und beobachtete Klaas. Ein deutscher Jude und seine Tochter – Flüchtlinge, hatte Mama gesagt – waren bei der Familie Pon eingezogen. Josie lernte in der Schule neben Englisch auch Deutsch. Morgen würde sie das Mädchen vielleicht fragen, ob es mitspielen wollte. Sie könnten gemeinsam gegen Spanien kämpfen. Sie hörte Samuel mit nackten Füßen über die Brücke rennen; Klaas war ihm bestimmt dicht auf den Fersen. Sie tauchte erneut unter und kurz darauf wieder auf. Jetzt war sie in ihrem Geheimversteck zwischen den moosbedeckten Pfählen, die so weit unter dem Steg zurückgesetzt waren, dass Klaas ihr kastanienbraunes Haar dort nicht erspähen konnte. In der Mitte des Kanals kam sie nicht mit den Füßen bis zum Boden, aber unter dem Holzsteg war das Wasser seicht. Ihre Zehen versanken im Schlamm, während ihr Kinn nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche blieb. Wie abgesprochen wartete sie geduldig zwischen den Pfählen. Eines der Gänseküken, das genauso abtrünnig war wie Josie, schwamm ohne seine Flotte an ihr vorbei. Dann drehte es sich um und betrachtete das Mädchen neugierig. »Ga weg«, flüsterte Josie und bewegte das Wasser mit den Händen. Das Gänschen schaukelte auf den winzigen Wellen, schwamm aber nicht weiter. Sie versuchte erneut, es zu verscheuchen. Dieses Mal waren die Wellen stärker, aber das Gänseküken schwamm trotzdem nur noch näher auf sie zu, als wäre sie seine Mutter. Als könnte sie es retten. Sie streckte ihm die Hand ein Stückchen entgegen, nur so weit, dass sie das Tier streicheln konnte, ohne dabei gesehen zu werden. Doch in dem Moment, in dem ihre Finger unter dem Steg hervorkamen, beugte sich ein Gesicht über die Holzkante. Mit einem breiten Grinsen zog Klaas seine Hand in einer scharfen Bewegung über seinen Hals. »Klaas!«, schrie sie erschrocken und ihr Puls überschlug sich fast. Er lachte. »Du musst dir in Zukunft wohl ein neues Versteck suchen.« Sie schnaubte. »Samuel hat gesagt, dass ich mich hier verstecken soll.« Klaas sprang schwungvoll vom Steg ins Wasser, die Knie an die Brust gezogen. Als er im Wasser landete, überrollte sie eine Welle und Wasser drang in ihre Nase und ihren Mund. Sie schwamm in die Mitte des Kanals hinaus und bespritzte ihn ebenfalls, während er im Kreis um sie herumschwamm. Er mochte zwar vier Jahre älter sein als sie, aber sie ließ sich weder von ihm noch von seiner Rolle als Fernando einschüchtern. »Du musst nicht immer auf Samuel hören«, sagte er. »Doch, das muss ich.« Klaas hatte keine Ahnung, wie es war, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Er hörte kaum auf das, was ihm jemand sagte, nicht einmal bei seinem Vater. Manchmal könnte man meinen, er hielte sich in Wirklichkeit für den Statthalter von Giethoorn statt für den spanischen General. »Die Holländer haben gewonnen!«, verkündete Samuel triumphierend von der anderen Uferseite. Klaas schüttelte den Kopf. »Ich habe Jozefien gefunden, bevor du die Flagge angebracht hast.« »Ich habe sie schon vor fünf Minuten aufgehängt.« Klaas zog sich aufs Ufer hinauf und schaute Samuel herausfordernd an. Sie waren gleich alt, aber ihr Bruder war zwei Zentimeter größer. »Ich habe sie vor mindestens sechs Minuten gefunden«, erklärte Klaas und stemmte die Hände in die Hüften. Das Wasser tropfte von seinem schwarzen Umhang und unter ihm bildete sich eine Wasserpfütze. »Hast du nicht!« Sie wirbelte die Arme durchs Kanalwasser, um ihn noch einmal zu bespritzen, aber es ergoss sich stattdessen auf sie selbst. »Habe ich doch!« Die zwei Jungen schauten sich kampfeslustig an und einen Moment lang dachte sie, Klaas würde Samuel angreifen. Vielleicht würde Samuel ihren Sieg dann verteidigen, statt Klaas schon wieder gewinnen zu lassen. »Dann hast du anscheinend gewonnen«, gab Samuel nach. Sie stöhnte. So lief es immer, wenn Klaas zu Unrecht darauf beharrte, schneller gewesen zu sein. Warum widersetzte ihr Bruder sich ihm nicht? Warum trat er nicht für sich und für Josie ein? Für Holland? Klaas streckte beide Fäuste in die Luft. »Auf Spanien!« »Auf den Widerstand!«, brüllte sie, während die Jungen sich Klaas’ Haus zuwandten. Wütend schwamm sie zur Brücke zurück, zu den Stufen im Wasser, die für diejenigen gebaut worden waren, die nicht auf den Steg hüpfen wollten, wie Klaas es soeben gemacht hatte. Als sie an den eingeschnitzten Initialen vorbeischwamm, klopfte sie mit den Knöcheln dagegen. Sie mochten die besten Freunde sein, aber manchmal machte Klaas sie richtig wütend. Und Samuel auch, weil er sich nicht wehrte, wenn Klaas ihn anlog. Beim nächsten Mal würde der Widerstand gewinnen! Als Josie über die bemoosten Stufen aus dem Wasser stieg, näherte sich das deutsche Mädchen vorsichtig dem Kanal. Sie hatte dunkles, ziemlich kurzes Haar und ihre braunen Augen schienen das Licht auf dem Kanal einzufangen. »Ich bin Anneliese«, sagte sie auf Deutsch. »Aber meine Freunde sagen Eliese zu mir. Ich bin zehn.« Josie stellte sich ihr auch vor. Eliese setzte sich aufs Gras und zog den Rock ihres Trägerkleids über ihre Knie. »Wollen wir Freundinnen sein?« Josie lächelte. Ein Mädchen, eine Freundin, die direkt nebenan wohnte. Das würde eine Freundschaft fürs Leben werden! »Ich bin Klaas.« Josie drehte sich zum anderen Ufer um. Beide Jungen standen dort, Samuel mit weit offenem Mund, als wollte er das Licht schlucken. Josie wartete darauf, dass Samuel sich ebenfalls vorstellte. Als er stumm blieb, deutete Josie auf ihn. »Das neben Klaas ist mein Bruder. Er wacht bestimmt bald aus seiner Schockstarre auf.« Samuel warf ihr einen finsteren Blick zu, bevor er seinen Namen sagte. Eliese lächelte ihn an. Er schwieg wieder, die Augen fest auf das Mädchen gerichtet. Und in der Stille dieses sonderbaren Moments, in dem ihr Bruder wie in Trance war, erkannte Josie, dass ihre Welt sich unaufhaltsam verändern würde.

1. KapitelJOSIEGiethoorn, NiederlandeJuni 1933Blütenblätter klebten wie nasse Seidenstückchen an Josies Zehen, während sie tief gebückt am Dorfkanal entlangschlich. Klaas Schoght konnte den ganzen Nachmittag suchen, wenn er wollte. Solange sie und ihr Bruder ihren Plan befolgten, würde er weder sie noch die rot-weiß-blaue Flagge, die sie um jeden Preis beschützen wollten, je finden.Klaas' Haar, das wie goldener Frost schimmerte, bewegte sich auf der anderen Seite des Kanals über der sauber geschnittenen Hecke im Garten seiner Familie auf und nieder. Sie verfolgte die von der Sonne beschienenen Haarspitzen mit den Augen, während Klaas die Hecke durchkämmte und dann zwischen zwei Stechkähne spähte, die an einen Pfahl gebunden waren, bevor er sich zur Holzbrücke umdrehte.In Giethoorn gab es keine Straßen, nur schmale Fußwege und Kanäle, die die schachbrettartig angeordneten Grundstücke miteinander verbanden. Die meisten Dorfkinder verbrachten ihre freie Zeit mit Schwimmen, Bootfahren und im Winter mit Eislaufen auf den Wasserstraßen, aber ihr Bruder begeisterte sich mehr für dieses Widerstandsspiel an Land.»Jozefien?«, rief Klaas, während er über die Brücke auf die kleine Insel zusteuerte, auf der ihre eigene und eine Nachbarsfamilie wohnten.Sie bückte sich zwischen den wachsartigen Blättern der Hortensien ihrer Mutter, deren Blüten ihre hellrosa und magentaroten Blütenblätter in eine Slootje - eine der vielen schmalen Wasseradern, die die Inseln zusammenhielten - streuten. Ihr Bruder hatte sie gelehrt, wie man sich in den Dorfgärten und hinter Bäumen und Holzstößen gut verstecken konnte. Sogar auf Dächern. Sie hatte viele Geheimplätze und könnte, wenn nötig, für Stunden untertauchen.»Samuel?«, rief Klaas jetzt, aber Josies Bruder gab ihm ebenfalls keine Antwort.Alle Kinder hörten in der Schule von den Geuzen - den holländischen Widerstandskämpfern, die im Achtzigjährigen Krieg ihre Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatten. Ihr Bruder war ein Meister des Versteckens, als wäre er eines der heimlichen Geuzenmitglieder, die vor Jahrhunderten für die Freiheit ihres Landes gekämpft hatten.In ihrem Spiel mit Klaas durfte weder Samuel noch sie selbst gefangen werden, bevor ihr Bruder die holländische Flagge an die Haustür der Schoghts gehängt hatte. Klaas war es egal, in welchem Team er spielte, Hauptsache, er gewann.Zwischen den Blumen und Blättern hindurch sah Josie Samuels Hosenbeine oben im Kastanienbaum verschwinden. Ihre gemeinsam ausgeklügelte Taktik war gut. Jetzt musste sie sich nur noch verstecken, bis ihr Bruder ihr signalisierte, dass sie lossprinten konnte.Das Entscheidende im Widerstand gegen den Feind war nicht der Kampf, bläute ihr Samuel immer wieder ein, sondern das Warten.Klaas hasste es zu warten.Der Junge trug einen schwarzen Umhang über seiner Pfadfinderuniform, aber sie konnte die weißen Ringe oben an seinen Kniestrümpfen sehen, als er eines der Boote ihrer Familie absuchte.An diesem Nachmittag war er nicht Klaas Schoght, stolzer Pfadfinder und Sohn ihres Dorfarztes. An diesem Nachmittag war er Fernando Álvarez de Toledo, der spanische Statthalter über die Niederlande, der versuchte, die holländischen Widerstandskämpfer zu besiegen und ihre Flagge aus dem Stoff eines alten Kleides ihrer Mutter zu erobern, das zum Glück zu fadenscheinig gewesen war, als dass sie es für ihre einzige Tochter hätte umnähen können. Josie lief viel lieber in den langen Shorts und Blusen herum, die ihr ihre Mutter im Sommer widerstrebend zugestand, damit ihre Kleider geschont wurden. Noch lieber trug sie die braune Pfadfinderinnenuniform, die sie heute anhatte - ein hellbraunes Kleid, das bis über ihre Knie reichte. Die gestrickte Mütze und ihre braunen Schuhe und langen Strümpfe hatte sie zu Hause gelassen.Sie hatten die Regeln für dieses Spiel zu dritt aufgestellt. Sie und ihr Bruder waren darin sie selbst - Josie und Samuel van Rees, die Kinder eines Lehrers und einer Hausfrau, die manchmal in der Schule aushalf.

Erscheinungsdatum
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel Memories of glass
Maße 135 x 215 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Amsterdam • deutsche Besetzung der Niederlande • Durchgangslager Westerbork • Familiengeheimnisse • Hilfsprojekt • Hollandsche Schouwburg • Judenverfolgung • Kaffeeplantage • Kinderheim • Nationalsozialismus • Soziale Ungerechtigkeit • Widerstand • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-96362-189-3 / 3963621893
ISBN-13 978-3-96362-189-5 / 9783963621895
Zustand Neuware
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