Wie alles begann und wer dabei umkam (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
544 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30292-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie alles begann und wer dabei umkam -  Simon Urban
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Ein furioser Schelmenroman über einen Juristen, dem die Sicherungen durchbrennen: böse, treffsicher und extrem witzig. Wo endet ein inselbegabter Jurastudent, der an den starren Regelwerken des Gesetzes verzweifelt und beschließt, das Recht selbst in die Hand zu nehmen? In einer Gefängniszelle! Was aber zwischendurch geschieht, ist so unglaublich und derart gnadenlos und witzig erzählt, dass einem die Luft wegbleibt. Bereits als Kind findet der Held dieses Romans zur Juristerei: Er bereitet ein Verfahren gegen seine Großmutter vor, den Drachen der Familie - und verurteilt sie im Wohnzimmer in Abwesenheit zum Tode. Berufung: nicht möglich. Dass ein Jurastudium im beschaulichen Freiburg einem solchen Charakter nicht gut bekommt, ahnt man schnell. Auch hier kann er die Finger nicht von den Gesetzen lassen, und nimmt das Recht in die eigene Hand. Simon Urban gehört zu den großen, mutigen Erzähltalenten seiner Generation. In seinem neuen Roman entfesselt er eine furiose Geschichte um einen Außenseiter, der zum dunklen Rächer wird. Und der zuvor auszieht, um sich auf einer weltweiten Recherchereise am Unrecht und Recht der Welt zu schulen ... »Wie alles begann und wer dabei umkam« ist eine bitterböse Gesellschaftsanalyse und eine literarisch brillante Auseinandersetzung mit den Regelwerken, die unser aller Leben bestimmen. Wo sind Widerworte gegen das Gesetz gefragt - und wo eskaliert das eigene Ungerechtigkeitsempfinden in wahnwitzige Selbstjustiz?

Simon Urban, geboren 1975 in Hagen, Studium der Germanistik und Komparatistik in Münster, Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman »Plan D« (2011), in dem die DDR heute noch existiert, wurde in elf Sprachen übersetzt. 2014 erschien der Roman »Gondwana«. 2013 war er Writer in Residence beim International Writing Program der Universität Iowa. Für die ARD schrieb er die Erzählvorlage zum Spielfilm »Exit« (2020). Er lebt in Hamburg und Techau (Ost-Holstein).

Simon Urban, geboren 1975 in Hagen, Studium der Germanistik und Komparatistik in Münster, Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman »Plan D« (2011), in dem die DDR heute noch existiert, wurde in elf Sprachen übersetzt. 2014 erschien der Roman »Gondwana«. 2013 war er Writer in Residence beim International Writing Program der Universität Iowa. Für die ARD schrieb er die Erzählvorlage zum Spielfilm »Exit« (2020). Er lebt in Hamburg und Techau (Ost-Holstein).

2


Das Leben besteht, wenn wir ehrlich sind, aus einer quasi nahtlosen Aneinanderreihung unterschiedlichster Leidensphasen, die sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben, das Individuum in immer neuer Weise malträtieren, ihm jede Hoffnung auf ungetrübtes Glück rauben und somit – weltgeschichtlich betrachtet – vermutlich auch noch die Erfindung der Religionen begünstigt haben, was die ganze Sache nicht unbedingt besser macht.

Gravierenden Veränderungen unterworfen zu sein, stellt bedauerlicherweise eine hartnäckige Konstante der menschlichen Existenz dar, die Pubertät nimmt hier jedoch eine besonders perfide Sonderrolle ein. Ich blieb zwar länger als andere Teenager von den Auswirkungen der einsetzenden Geschlechtsreife verschont, aber als ich schon glaubte, eine rühmliche Ausnahme zu sein, erwischte es mich umso heftiger, was mir damals wie eine gerechte Strafe für meine grenzenlose Naivität vorkam.

Die Hormone machten aus mir innerhalb weniger Monate einen mit eiternden Pickeln gesprenkelten, schwammigen Freak, der umso hässlicher zu werden schien, je mehr er in exakt den Mädchen, die ihn mit geradezu bewundernswerter Vollendung ignorierten, den Sinn seines Daseins ausmachte.

An den einfühlsam gemeinten Blicken meiner Mutter konnte ich Tag für Tag ablesen, wie sehr sie mich für mein altersgemäßes Schicksal bemitleidete, was mein Wohlbefinden nicht unbedingt steigerte. Sie hatte ihren Jungen unter erheblichen Schmerzen auf die Welt gebracht und in gewisser Weise schämte ich mich regelrecht dafür, ihr als Lohn für die erlittenen Strapazen nun einen derart unerfreulichen oder vielmehr unästhetischen Anblick bieten zu müssen. Als mir schließlich sogar mein Vater eines Morgens am Frühstückstisch unvermittelt auf die Schulter klopfte und Das wird schon wieder murmelte (es war klar, dass er nicht den kürzlich ausgebrochenen Volksaufstand in Algerien meinte, sondern meine plötzliche Verwandlung in einen notgeilen Streuselkuchen), wurde mir das ganze Ausmaß der Tragödie bewusst. Ich war nicht mehr ich, und ich würde es aller Voraussicht nach auch nie wieder sein. Wenn es überhaupt eine Chance auf Heilung gab, dann bestand sie darin, innerhalb der nächsten Jahre ein anderes, mir erträgliches Ich zu werden, das nicht länger als willfähriger Sklave eines wabbeligen, von Akne geplagten Körpers und seines obszönen Gehirns herhalten musste. Ich gestehe, dass mir die Aussicht auf eine derartige Metamorphose an den meisten Tagen meiner Adoleszenz ungefähr so realistisch erschien wie die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR.

Auch wenn mein Denken in dieser Hochphase der Diktatur des Testosterons (O-Ton meiner Aufzeichnungen, die ich trotz chronischer Unkonzentriertheit fortzuführen versuchte) von allerhand schmutzigen Fantasien, idiotischen Ängsten und quälenden Zweifeln an der eigenen Zukunftsfähigkeit überschattet wurde, war mir die Ironie der Tatsache, dass mein Körper gerade biologisch auf ein Sexualleben vorbereitet wurde, das ich nicht genießen konnte, weil mich der Vorbereitungsprozess hemmungslos entstellte, durchaus bewusst. Warum bekommt der Mensch die Jugend in einem Alter, in dem er nichts davon hat? lautete eine ironische Überlegung von George Bernard Shaw, die ich mal in irgendeinem Poesiealbum gelesen hatte, und dieser Frage konnte ich mich nur anschließen.

Projektionsfläche meiner mit leichter Verspätung, aber dafür umso hartnäckiger erwachten Lust waren die brünetten Weber-Girls, die ebenfalls allesamt aufs Eberhard-Ludwigs-Gymnasium (von uns nur Ludi genannt) gingen; zu meinem Bedauern stellte sich allerdings umgehend heraus, dass fast sämtliche männliche Mitschüler meinen exzellenten Frauengeschmack teilten. (Ich schätze, die wenigen desinteressierten Ausnahmen gaben es nur nicht zu, um sich interessant zu machen, oder studierten an der anderen Fakultät, wie mein Vater Homosexualität gerne umschrieb.)

Die älteste Schwester des Terzetts, Julia Weber, war zwei Stufen über mir und galt als konkurrenzlose Oberstufenschönheit – so wie es sie in jedem prototypischen Highschool-Drama aus Hollywood geben muss –, was »JW«, wie wir sie mit teenagerhafter Ehrfurcht nannten, automatisch zur personifizierten Unerreichbarkeit erhob; die mittlere Schwester Lilian ging in meine Parallelklasse, sie war mit einem o-beinigen Fußballproleten namens Marc-René Pelzer zusammen, der in der B-Jugend der Bezirksliga Württemberg als vielversprechendes Nachwuchstalent gehandelt wurde und so glatt aussah wie die gestylten Popper auf der BRAVO (also so ziemlich das exakte Gegenteil von mir); die jüngste Schwester Charlotte war eine Stufe unter uns und stimmte in den wesentlichen äußeren Merkmalen mit Julia und Lilian überein; zu meinem Leidwesen hatte sie allerdings die überdimensionale Nase ihres Vaters geerbt, außerdem neigte sie zu Übergewicht (am Po).

Meine Versuche, Lilian in ein tiefgründiges Gespräch über ein bedeutsames Thema zu verwickeln, um ihr so zu beweisen, dass ich zumindest ein pickliger Schwamm mit Intelligenz und Haltung war, schlugen allesamt fehl, denn wie sich herausstellte, hatten wir keinerlei Gemeinsamkeiten (einzige Ausnahme: die Kunst-AG). Lilian war offenkundig ihrem Fußballfreund verfallen, der sie im Laufe der Beziehung einer strammen Bezirksliga-Gehirnwäsche unterzogen und so in ein willenloses Groupie ohne eigene Interessen verwandelt hatte, was für mich mindestens ein Halbjahr lang den Inbegriff der menschlichen Tragödie darstellte.

Die umwerfend hübsche 16-Jährige mit dem eleganten blassen Gesicht, den eichhörnchenbraunen Augen, dem immer ganz leicht geöffneten Kussmund, den hüftlangen Haaren und den schönsten Händen (und Fingernägeln), die ich kannte, lungerte in jeder freien Minute auf schlammigen Provinzsportplätzen in Ditzingen, Gerlingen oder Möhringen herum, konnte aktuelle Tabellenstände aus der Region runterbeten und über strittige Abseitspositionen palavern, war aber nicht in der Lage, etwas Sinnvolles auf die Frage zu antworten, ob sie sich manchmal ebenfalls wünsche, ein unschuldiges, geliebtes Tier zu sein, das reines Glück empfinden könne, ohne im Umkehrschluss den gräulichen Jammer der Welt gewahr werden zu müssen. Vielleicht war sie auch an meiner Sprache gescheitert, die ich mir, wie ich glaubte, bei Schiller geliehen hatte.

Ihre Beziehung machte auf mich jedenfalls den Eindruck einer geradezu pathologischen Abhängigkeit, wobei ich mir bisweilen einredete, dass die bemitleidenswerte Jungfrau Lilian notfalls mit Gewalt aus den Klauen des o-beinigen Popperteufels Marc-René befreit werden müsse, der offenkundig ihr Seelenheil gefährdete, wobei ich zugegebenermaßen keinen blassen Schimmer hatte, wie genau eine solche Befreiungsaktion vonstattengehen sollte (und das mit der Jungfrau stimmte vermutlich auch nicht).

Als wir gegen Ende des Schuljahres eine Utopie in Aquarell anfertigen sollten, war auf Lilians Bild natürlich Marc-René Pelzer mit dem WM-Pokal zu sehen, woraufhin irgendjemand das gehässige Kompliment fallen ließ, Utopien seien zwar wünschenswert, aber leider nicht realisierbar, insofern könne man dieses Werk durchaus als gelungen bezeichnen. Ich hatte Nicolae Ceauşescu am Galgen gemalt (die Zunge hing ihm lang und rot aus dem Hals wie einer k.o. geschlagenen Comicfigur), was mir aufgrund der expliziten Gewaltdarstellung eine Fünf minus einbrachte und kurz vor dem Ende des Schuljahrs noch die Kunstnote versaute.

 

»Schöne Mädchen stinken nicht«, behauptete Martin Herminghaus, der in Religion und Erdkunde neben mir saß, in einer unserer großen Pausen, und weil Martin meines Wissens noch nie zuvor von Mädchen gesprochen hatte, geschweige denn von ihrem Geruch, war ich überzeugt, dass er ziemlich lange über diese Angelegenheit nachgedacht haben musste.

»Könnte sein«, sagte ich, weil ich dazu keine Meinung hatte.

»Überleg doch mal«, sagte Martin, »wirklich schöne Mädchen sind perfekt, sonst wären sie ja nicht wirklich schön. Das würde überhaupt nicht passen, wenn die stinken würden. Denn das wäre ja nicht perfekt.«

Wir grübelten eine Weile über diese These und schlürften unsere Tuffi-Vanillemilch, die man montags und mittwochs für 50 Pfennig beim Hausmeister kaufen konnte, wenn er gute Laune hatte.

»Schätze, du hast recht«, sagte ich, weil mir der Gedanke, je länger ich ihn drehte und wendete, absolut logisch vorkam.

»Wer ist die Schönste für dich?«, fragte Martin. »JW

»Klar, wer sonst.«

»Kann JW stinken?«

»Ich glaub nicht.«

»Stell dir vor, Klassenfahrt in der 12. Wie immer mit Reisen Reymann, gut gereist ist halb am Ziel, ohne Klimaanlage. JW ist viel zu warm angezogen und schwitzt jetzt den ganzen Tag. Sie hat ihre Adidas Monte Carlos an, dicke Tennissocken …«

»O.k.«, sagte ich und wunderte mich darüber, dass ich Martin bislang dermaßen unterschätzt hatte. Offenbar war er neuerdings auch ein Opfer der Pubertät.

»Stellst du es dir vor?«

»Ja.«

»Mach die Augen zu. Bis ich dir sage, du sollst sie wieder aufmachen.«

Ich schloss die Augen. Martins Stimme war jetzt so eindringlich und geheimnisvoll wie die eines französischen Hypnotiseurs, den ich mal bei Wetten, dass..? gesehen hatte. »Die Sonne knallt auf die Scheiben. Es riecht nach diesen ollen Stoffsitzen. Nach Käsestullen. Fleischwurst. Ahoi-Brause. Spürst...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asien • Bestseller-Autor • Freiburg • Gerechtigkeitssinn • Gesetze • Houllebecq • Humor • Juli Zeh • Jura-Roman • Plan D • Schelmenroman • Schwarzer Humor • Selbstjustiz • Simon Urban Bestseller • Superhelden • Thai-Boxen • Urban Bestseller • Urban neues Buch • Urban Zeh Buch • Weltreise • zwischen welten
ISBN-10 3-462-30292-2 / 3462302922
ISBN-13 978-3-462-30292-9 / 9783462302929
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