Cixin Liu ist der erfolgreichste chinesische Science-Fiction-Autor. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman »Die drei Sonnen« wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert. Zusammen mit den beiden Folgebänden »Der dunkle Wald« und »Jenseits der Zeit« wurde die Trisolaris-Trilogie als TV-Serie 3 Body Problem für Netflix verfilmt.
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Der tote Stern
Ende
Innerhalb eines Radius von zehn Lichtjahren von der Erde hatte die Astronomie im Weltraum elf Sterne entdeckt, nämlich Proxima Centauri, Alpha Centauri A und Alpha Centauri B, die zusammen ein Dreigestirn bildeten, das durch die gegenseitige Anziehungskraft umeinander kreiste; die beiden Doppelsterne Sirius A und Sirius B und Luyten 726-8 A und Luyten 726-8 B, und vier Einzelsterne, nämlich Barnards Pfeilstern, Wolf 359, Lalande 21185 und Ross 154. Die Astrophysik schloss nicht aus, dass weitere Sterne, entweder extrem schwach leuchtende oder von interstellarem Staub verborgene, noch auf ihre Entdeckung warteten.
In dieser Gegend des Weltraums hatten Astronomen eine starke Ansammlung von kosmischem Staub bemerkt, wie eine schwarze Wolke, die über das nächtliche Meer des Universums zog. Als sie die auf einem Satelliten installierten UV-Teleskope auf die weit entfernte Wolke richteten, stellten sie ein Absorptionsmaximum von 216 Nanometern fest, was die Vermutung nahelegte, dass die kosmische Staubwolke aus Kohlenstoff-Mikropartikeln bestand. Ihr Reflexionsgrad legte nahe, dass die Kohlenstoffpartikel mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren. Die Partikel waren zwischen zwei und zweihundert Nanometer groß, was ungefähr der Wellenlänge des sichtbaren Lichts entsprach und den Staub undurchsichtig machte.
Diese Wolke verbarg einen acht Lichtjahre von der Erde entfernten Stern, dreiundzwanzigmal so groß wie die Sonne und mit dem Siebenundsechzigfachen ihrer Masse. Er hatte bereits die Hauptreihe verlassen und war soeben in die Endphase seiner langen Evolution eingetreten. Wir nennen ihn den Sterbenden Stern.
Selbst wenn der Sterbende Stern ein Erinnerungsvermögen besessen hätte – an seine Kindheit hätte er sich nicht mehr erinnert, denn seine Geburt lag fünfhundert Millionen Jahre zurück. Seine Mutter war ein anderer Sternennebel. Teilchenstrahlung aus dem Zentrum der Galaxis störte die Ruhe des Nebels, und sämtliche Teilchen ballten sich aufgrund der Schwerkraft in einem Zentrum. Dieser stattliche Sandsturm dauerte zwei Millionen Jahre. Irgendwann fusionierten in seinem Zentrum Wasserstoffatome zu Helium. Der Sterbende Stern wurde als atomarer Hochofen geboren.
Nach einer dramatischen Kindheit und einer turbulenten Jugend hielt der durch die permanente Kernfusion in seinem Inneren entstehende Strahlungsdruck seine äußeren Schichten stabil. Damit trat der Sterbende Stern in seine lange mittlere Lebensphase ein, eine Entwicklungsphase, die im Vergleich zu den Stunden, Minuten und Sekunden seiner Kindheit in hundert Millionen Jahren berechnet werden muss und dem endlosen Sternenmeer der Galaxis einen weiteren ruhigen Leuchtpunkt bescherte. Eine Ruhe, die sich bei einer Annäherung an seine Oberfläche im Flug schnell als trügerisch erweisen würde. Der Stern war ein atomares Flammenmeer, auf dem donnernd gigantische, rot glühende Wellen tobten, deren Gischt hochenergetische Partikel wie einen Platzregen in den Weltraum schleuderten. Aus den Tiefen des Sterns wurde immense Energie freigesetzt, die sich in gleißenden Wellen entlud, über denen andauernde nukleare Wirbelstürme wüteten. Tiefrotes Plasma, verzerrt von einem starken Magnetfeld, schoss in Millionen Kilometern langen Protuberanzen in den Weltraum hinaus wie eine wogende rote Algenkolonie … die Größe des Sterbenden Sterns war für das menschliche Gehirn unermesslich. Im Verhältnis zur Größe dieses Feuermeers im Weltraum war die Erde wie ein Basketball im Pazifik.
Im Grunde hätte der Sterbende Stern mit seiner scheinbaren Helligkeit von –7,5 deutlich am von der Erde sichtbaren Nachthimmel leuchten müssen, wäre da nicht der kosmische Staub gewesen, der drei Lichtjahre entfernt vor ihm einen anderen Stern ausbrütete und das Licht des Sterbenden Sterns auf seinem Weg zur Erde blockierte. Sonst hätte er die Geschichte der Menschheit mit der fünffachen Leuchtkraft von Sirius, dem hellsten Stern an unserem Himmel, erleuchtet – hell genug, um in einer mondlosen Nacht Schatten zu werfen, und sein träumerisch blaues Sternenlicht hätte die Welt ein wenig romantischer gemacht.
Der Sterbende Stern brannte vierhundertachtzig Millionen Jahre lang, aber trotz seines glorreichen Lebens zwang ihn der kalte und grausame Energieerhaltungssatz zu einigen unvermeidlichen Veränderungen in seinem Inneren: Das Fusionsfeuer verbrauchte Wasserstoff, und mehr und mehr des dabei entstehenden Heliums sedierte im Zentrum des Sterns. Dieser Prozess ging für einen Sterbenden Stern dieser Größenordnung außerordentlich langsam vonstatten. Die gesamte Geschichte der Menschheit war für ihn nur ein Fingerschnippen. Doch vierhundertachtzig Millionen Jahre später zeitigte der Wasserstoffverbrauch ein spürbares Ergebnis – es hatte sich so viel chemisch träges Helium angehäuft, dass seine Energiequelle versiegte. Der Sterbende Stern war alt geworden.
Es waren jedoch andere, komplexere Gesetze der Physik, die dafür sorgten, dass der Sterbende Stern sein Leben auf spektakuläre Weise aushauchen sollte. Die Dichte des Heliums in seinem Innern nahm zu, und die fortgesetzte Kernfusion des umgebenden Wasserstoffs produzierte Temperaturen, die hoch genug waren, um das Helium im Innern zu entzünden und eine Fusionsreaktion auszulösen, die es schlagartig in einem atomaren Inferno auslöschte, das den Sterbenden Stern mit einem ungeheuer starken Licht erstrahlen ließ. Da die durch Heliumfusion entstehende Kernenergie nur ein Zehntel der durch Wasserstoff entstehenden ausmachte, schwächte diese Anstrengung den Stern nur noch mehr – Heliumblitz nennen Astrophysiker dieses Phänomen. Drei Jahre später erreichte sein Licht die kosmische Staubwolke, in der das rote Licht mit seiner relativ langen Wellenlänge erfolgreich die kosmische Barriere durchdrang. Nach einer Reise von fünf weiteren Jahren traf das rote Licht auf einen wesentlich kleineren, überaus gewöhnlichen Stern, die Sonne, und eine Handvoll kosmischen Staubs im Bann ihrer Gravitation, den die Menschheit Pluto, Neptun, Uranus, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur und natürlich Erde nennt. Es war das Jahr 1775.
An jenem Abend starrte auf der Nordhalbkugel der Erde – genauer gesagt, in der englischen Kurstadt Bath, vor der Konzerthalle eines noblen Vergnügungsparks – der in Deutschland geborene Organist Friedrich Wilhelm Herschel durch sein selbst gebautes Teleskop begierig in den Sternenhimmel. Er war so fasziniert von der Pracht der Milchstraße, dass er sein ganzes Leben Teleskopen widmete. Hätte seine Schwester Caroline ihn nicht, während er vor der Linse hockte, löffelweise gefüttert, wäre er wohl darüber verhungert. Während dieser bemerkenswerte Astronom des achtzehnten Jahrhunderts sein Leben vor dem Teleskop verbrachte und dabei fast siebzigtausend Himmelskörper auf der Sternenkarte vermerkte, entging ihm in dieser Nacht allerdings dieser eine, für die Menschheit ausgesprochen bedeutungsvolle Stern. In jener Nacht tauchte im Sternbild Auriga am westlichen Himmel, genau zwischen Capella und Beta Aurigae, ein roter Stern auf. Mit einer Magnitude von 4,5 war er zwar für einen gewöhnlichen Betrachter nur schwer zu entdecken, selbst wenn man seine genaue Position kannte. Für einen Astronom jedoch leuchtete er wie eine gewaltige Lampe, die Herschel vermutlich nicht entgangen wäre, hätte er das Firmament wie die frühen Astronomen prä-galileiischer Zeiten mit nacktem Auge betrachtet, statt es an seine Linse zu pressen. Und diese Entdeckung hätte möglicherweise den Lauf der Menschheitsgeschichte zwei Jahrhunderte später verändert. Aber seine ganze Aufmerksamkeit galt dem gerade einmal zwei Fuß messenden, in eine völlig andere Richtung zeigenden Teleskop. Bedauerlicherweise wiesen auch die Teleskope der Observatorien in Greenwich, auf der Insel Hven und überhaupt der ganzen Welt gerade in eine ganz andere Richtung …
Das rote Licht im Sternbild Auriga schien die ganze Nacht lang, doch in der darauffolgenden war es erloschen.
In derselben Nacht desselben Jahrs drangen auf dem Nordamerika genannten Kontinent achthundert britische Soldaten auf leisen Sohlen in Bostons Westen vor. In ihren roten Uniformen wirkten sie wie eine Reihe nächtlicher Geister. Im kühlen Wind der Frühlingsnacht hielten sie ihre Mausergewehre gepackt und hofften, vor Tagesanbruch die siebenundzwanzig Kilometer von Boston entfernte Stadt Concord zu erreichen, wo sie im Auftrag von Thomas Gage, dem Gouverneur von Massachusetts, das Waffenarsenal der sogenannten Minutemen zerstören und ihre Anführer verhaften sollten. Doch als sich im Morgengrauen die Umrisse von Wäldern, Hütten und Weidezäunen abzuzeichnen begannen, stellten die Männer erstaunt fest, dass sie nicht weiter als bis zu der Kleinstadt Lexington gelangt waren. Plötzlich sprühten aus dem Dickicht vor ihnen Funken, und ohrenbetäubende Gewehrsalven erschütterten die Stille des nordamerikanischen Sonnenaufgangs, gefolgt von durch die Luft zischenden Kugeln. Es war das erste Zucken der Vereinigten Staaten von Amerika im Bauch ihrer Mutter.
Auf dem ausgedehnten Kontinent auf der gegenüberliegenden Seite des Pazifischen Ozeans jedoch hatte eine andere Kulturnation bereits fünf Jahrtausende überdauert. Zahllose Menschen waren auf diesem uralten Territorium soeben auf dem Weg in die Hauptstadt des...
Erscheint lt. Verlag | 13.12.2021 |
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Übersetzer | Karin Betz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 超新星纪元 (Chaoxinxing Jiyuan / The Supernova Era) |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | China • chinesische Science-Fiction • Die drei Sonnen • Dystopie • eBooks • Hard-SF • Kugelblitz • Liu Cixin • Trisolaris • Weltuntergang |
ISBN-10 | 3-641-24533-8 / 3641245338 |
ISBN-13 | 978-3-641-24533-7 / 9783641245337 |
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