Der letzte Auftrag (eBook)
400 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27070-4 (ISBN)
1989. Ria Nachtmann hat ihre große Liebe geheiratet und sich als Spionin zur Ruhe gesetzt. Ihre Tochter Annie verfolgt derweil einen gewagten Plan: Sie will eine Doku des DDR-Widerstands drehen und sie in den Westen schmuggeln. Als sie und ihr Freund Michael dabei versehentlich zwei Männer einer KGB-Geheimoperation filmen, gerät alles außer Kontrolle. Der in Dresden stationierte russische Agent Wladimir Putin hängt sich an ihre Fersen. Mutter und Tochter stehen bald zwischen allen Fronten und müssen erkennen, dass es um nichts weniger geht als um den Sturz der DDR-Regierung und die Zukunft Deutschlands.
Das große Finale der gefeierten Spionin-Trilogie von Bestsellerautor Titus Müller
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.
1
Dieses Zimmer, in dem sich entschied, ob sich die Lebenszeit der Kinder nur in Tagen bemaß oder in Jahrzehnten, war der einzige Ort auf der Welt, an dem Annie glücklich war.
Die Inkubatoren rauschten leise. Sie strahlten Wärme ab. Der Sauerstoff, den sie an die Säuglinge verströmten, war kein Allheilmittel. Dosierte man ihn zu hoch, erblindeten die Kinder.
Annie beugte sich im ultravioletten Licht der Lampen über eine Couveuse. Luisa war jetzt acht Tage alt, sie bekam zum ersten Mal Vitamin D. Aus einer Ampulle verabreichte Annie ihr einen Tropfen Dekristol in öliger Lösung.
Das Kind in der nächsten Couveuse hatte heute früh eine Lungenblutung erlitten, ihm war schaumiges Sekret aus Mund und Nase gedrungen. Annie hatte ihm vorsichtig Mundhöhle, Rachenraum und Luftröhre abgesaugt, und der Arzt hatte intramuskulär Vitamin K gespritzt. Sie wusste, es brauchte Ruhe. Es war noch nicht verloren. Erschöpft lag es da und schlief.
Einige der Kinder waren so winzig, dass Annie sie in einer Hand halten konnte. Manche hatten Fehlbildungen, die liebte Annie noch mehr. Sie tunkte den Wattetupfer in die blaue Lösung und pinselte Kathleens weiße Soorflecken ein, sie wucherten als Nebenwirkung des Antibiotikums. Kathleen sah sie aus staunenden hellen Augen an.
»Ihr werdet viel zu wenig berührt«, sagte Annie und streichelte ihr den Bauch.
Die Hautabszesse bei Lukas waren ein schlechtes Zeichen, seine Widerstandskraft war zu gering. Er würde noch eine Bluttransfusion brauchen. Sie desinfizierte vorsichtig seine Haut, tupfte sie trocken und gab ein antibiotisches Puder darauf.
Ihre Ziehmutter Helga war ein einziges Mal wirklich nett zu ihr gewesen. Da war Annie klein gewesen, sie waren zu Besuch in Magdeburg, und eine Kolonne sowjetischer Armeefahrzeuge donnerte vorüber, die Panzerketten zerschrammten das Straßenpflaster, und die Dieselmotoren dröhnten, und die Stiefmutter hatte gesagt: »Wenn du Angst hast, nimm meine Hand.« Jetzt nahm sie Lukas’ Hand. Er war schon wieder so gelb. Sie strich sanft über seinen kleinen Handrücken. Er musste sondiert werden, obwohl er doch schon selbst getrunken hatte. Auch wenn eine nicht ausgereifte Leber bei Frühgeborenen häufig war, machte sie sich Sorgen. Lagerte sich der Gallenfarbstoff im Hirnstamm ab, konnte es schwere neurologische Störungen geben.
Beim nächsten Kind jubilierte sie im Stillen. Sarah wog über zweitausendfünfhundert Gramm. Man würde sie morgen nach Hause entlassen. Annie kitzelte ihr die Fußsohlen. »Bist du meine süße Sarah? Bist du meine Süße?«
Die Stationsschwester betrat den Raum. Sie warf Annie einen tadelnden Blick zu. »Du bist nicht zum Spaß hier. Füttern, wickeln. Vor dem Schichtwechsel musst du durch sein.«
Draußen hörte sie das Telefon klingeln. Sie hörte, wie die Schwesternschülerin sagte: »In Ordnung, wir kommen.«
Ein Ruf der Entbindungsabteilung. Ein Frühchen war geboren worden. Annie sagte: »Ich gehe.«
Jetzt wechselte der Gesichtsausdruck der Stationsschwester. »Annie, du solltest nicht –«
»Ich gehe!« Sie nahm draußen den Wäschekorb, den die Schwesternschülerin gerade mit Wärmflaschen ausstattete. Kopfkissen, Decke, eine Mullwindel als Kopfstütze und eine als Schulterstütze lagen bereits darin. Annie fragte: »Ist die Sauerstoffflasche gefüllt?«
Die Schülerin bestätigte.
Sie nahm die Bereitschaftstasche, das Gewicht passte, es war sicher alles drin, Handbeatmungsgerät, Endotrachealtuben, steriler Mull zum Dazwischenlegen bei erforderlicher Mund-zu-Mund-Beatmung, Laryngoskop. »Wärmt schon mal eine Couveuse vor«, sagte sie.
Sie würde das Kind in der Entbindungsstation rektal messen, dann würde sie es behutsam in die Decke wickeln, in den Transportkorb legen und zu beiden Seiten und am Fußende eine Wärmflasche platzieren. Es durfte auf dem Weg in die Frühgeborenenstation keinesfalls auskühlen.
»Annie!«, rief ihr die Stationsschwester nach, aber sie tat, als höre sie es nicht, und ging.
Unten vor dem Kreißsaal hielt Dr. Struck sie am Oberarm fest. »Sie haben hier nichts verloren.«
»Ich habe nicht –«
Er sah ihr scharf ins Gesicht.
»Ich war nicht im Kreißsaal.«
»Halten Sie sich von den Schwangeren fern.«
»Ja, Dr. Struck.«
Die Tür zum Kreißsaal ging auf. »Annie, alles in Ordnung?« Eine Hebamme trat besorgt auf sie zu.
Dr. Struck sagte: »Ich will sie nicht noch einmal hier sehen. Sorgen Sie dafür, dass sie sich an das Verbot hält.« Er ging in den Kreißsaal.
»Du fehlst uns.« Die Hebamme probte ein Lächeln.
»Hattet ihr heute Kinder, die …«
»Annie, du solltest das hinter dir lassen. Es ist die Entscheidung der Ärzte. Du tust dir selbst keinen Gefallen.«
Was hatte sie erwartet?
Die Hebamme nahm ihr den Korb aus der Hand. »Ich tue dir den Kleinen rein. So halten wir uns an die Regel, und du betrittst nicht den Kreißsaal.«
Minutenlang wartete Annie. Als sich die breite Tür wieder öffnete und die Hebamme ihr den Korb mit dem Kind übergab, war sie den Tränen nahe. Sie trug den Kleinen nach oben. »Du stirbst nicht«, sagte sie. »Dafür sorgen wir.«
Oben erwartete sie die Öse mit strengem Stationsschwesternblick. Aber da sie das Kind brachte, schwieg sie.
Annie saugte ihm den Nasen-Rachen-Raum ab, dann kam Dr. Struck und sondierte mürrisch den Magen, um eine Stenose oder eine Atresie der Speiseröhre auszuschließen, anschließend gab er dem Kleinen ein Milligramm Vitamin K.
Ihre Schicht war zu Ende, und sie war müde. Trotzdem wollte sie nicht gehen. Ihre Stiefmutter war tot seit letztem Jahr, sie hatte den Stiefvater nur um sechs Monate überlebt. Und ihre echte Mutter, Ria, hatte sie sechzehn Jahre nicht gesehen, seit ihrer Flucht in den Westen. Jetzt war niemand mehr da. Sie verabschiedete sich missmutig, absolvierte die Schleuse, zog die Straßenkleidung an. Schließlich stand sie draußen.
Müllmänner sammelten Abfall ein. Sie sah an der Krankenhausfassade hoch. Die beiden Hausmeister befestigten, sich gefährlich hinausneigend, im dritten Stock ein Tuch zwischen den Fenstern:
Gruß und Dank allen Werktätigen für ihren Beitrag zum Werden und Wachsen unserer Deutschen Demokratischen Republik!
Was, wenn man ihr kündigte? Man würde sie zur Bewährung in den VEB Fortschritt in die Wäscheproduktion stecken. Oder sie hätte in Oberschöneweide am Fließband Batterien zu prüfen. Wer würde dann noch die Neugeborenen im Inkubator streicheln? Wer leise mit ihnen reden, während sie tröpfchenweise Milch tranken?
Aber sie konnte nicht anders. Sie ging zur Haltestelle und formulierte in Gedanken einen Brief an die Krankenhausleitung.
Ich möchte Ihnen nochmals schildern … Es bewegte sich im Schieber, der Deckel hob sich. Wir sind verpflichtet, auch als Kinderkrankenschwestern …
Die 18 kam. Sie stieg in die moderne Tatra-Gelenkbahn mit orangeroten Schalensitzen, ging im Waggon nach hinten. Der elektrische Motor trieb sie vorwärts, ein Gefühl wie beim Flugzeugstart, nur wenn die Beschleunigung aufhörte, knallte es jedes Mal, was aber kein Defekt zu sein schien, alle neuen Bahnen taten das. Sie fuhren am Sport- und Erholungszentrum mit seinen Glaswänden vorbei, die einen in das Gebäude blicken ließen. Für einen Freitagnachmittag war die Schlange vor dem Eingang nicht lang, eine Stunde würden die Leute höchstens anstehen. Dafür bekamen sie ein Spaßbad mit Wellenbecken, eine Rollschuhbahn, Restaurants und einen Kindersportgarten, wo Eltern ihre Kinder ohne Voranmeldung abgeben konnten, um ungestört ihre Freizeit zu genießen. Das SEZ war einzigartig in der ganzen DDR. Und es war Augenwischerei. Es sollte die Stimmung heben, sieben Tage die Woche von früh bis spät teuer subventionierter Spaß zur Beruhigung. Dabei fehlte es in Wahrheit an allem, in den Läden herrschte Mangel, und überall bröckelte die Bausubstanz.
Vermutlich war sie unfair. Unsportlich, hätte ihr früherer Trainer gesagt. Aber war das nicht verständlich, wenn der einzige Mensch, dessen Nähe sie sich wünschte – ihre Mutter Ria, ihre leibliche Mutter, mit der sie sich liebend gern einmal die Woche auf einen Tee getroffen hätte, deren Rat sie brauchte und die ihre Familie war –, wenn dieser einzige Mensch in der unerreichbaren Hälfte der Stadt lebte und wegen früher verübter Spionagetätigkeit auch selbst nie die Grenze überqueren durfte?
Komm schon, Mädel, dachte sie. Du findest auch Gründe, hier glücklich zu sein. Die Tatra fuhr zum Beispiel nicht überall. Da konnte sie froh sein, ihr Arbeitsweg war eine Paradestrecke, auf anderen Strecken fuhren die alten ockergelben Bahnen, deren Türen sich nach dem Klingelschrillen krachend schlossen, bevor sie weiterfuhren, so laut, dass man nach ein paar Haltestellen ganz gestresst war.
Sie sprang auf. Michael? Ihre Nase stieß an die Scheibe der Straßenbahn, sie sah ihm nach. Die Bahn hielt. Sie drückte den Knopf und sprang raus, hastete den Gehweg entlang.
Vor dem SEZ nahm er eine Frau in Empfang. Die Frau verabschiedete sich von drei anderen Frauen, sie lachten, umarmten sich. Dann ging Michael mit ihr Richtung Dimitroffstraße. Groß war die Frau, mindestens einen Kopf größer als Annie, schlank und blond.
Ihr Herz krampfte sich zusammen.
»Werd glücklich«, sagte sie leise. Aber sie konnte sich nicht lösen, sie ging den beiden weiter nach. Was würde sie sagen, wenn er sich umdrehte und sie sah?
Sein Gang war noch derselbe, federnd, die...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2023 |
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Reihe/Serie | Die Spionin-Reihe | Die Spionin-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Agententhriller • Alexander Schalck-Golodkowski • Berlin • Berliner Mauer • beste deutsche krimiautoren • Bestseller • Bundesnachrichtendienst • DDR • deutsch-deutsche Geschichte • Dritter Band • eBooks • Erich Honecker • gut recherchiert • Mauerfall • Neuerscheinung • Putin • spannend • Spionin • Stasi • Taschenbuchausgabe • Thriller • Wendejahr |
ISBN-10 | 3-641-27070-7 / 3641270707 |
ISBN-13 | 978-3-641-27070-4 / 9783641270704 |
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