Christian Kuhn fuhr schon als Kind mit seiner Familie den Rhein hinab, um die Nordsee und ihre Inseln segelnd zu erkunden. Er liebt den rauen Charme der See, volljährigen Whisky und Geschichten, die in Erinnerung bleiben.
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Montag, 15. April
13:00 Uhr
Gras und Sand waren noch feucht, sowohl vom Tau als auch von den Regenfällen des Vormittages. Er schob sich behutsam an den Rand der Möwendüne. Zoomte auf das Ziel. Es hatte ihn nicht bemerkt, sah sich aber aufmerksam nach allen Seiten um. Schnell und energisch drückte er ab, immer wieder: das perfekte Fotomotiv. Ein Löffler, ein strahlend weißer Vogel, fast so groß wie ein Storch, inmitten seines Nestes, das wie ein Thron aus den flachen, dem Watt vorgelagerten Salzwiesen herausragte, perfekt ausgeleuchtet durch den hellen Schein der Mittagssonne.
In der unter Naturschutz stehenden östlichen Hälfte von Norderney, die als Ruhezone des Nationalparks Wattenmeer definiert und mehr oder weniger sich selbst überlassen war, brüteten bestimmt Zehntausende Vögel. Eine Urlandschaft, geprägt durch flache, dicht mit Sanddorn, Gräsern und Flechten bewachsene Dünen, moorartige Feuchtwiesen und Salzsümpfe. Der Zutritt war eigentlich auf einen durch Pfähle markierten Trampelpfad beschränkt, der von dem letzten Parkplatz am Ostheller zu dem Wrack eines Muschelbaggers am Ostende der Insel führte, einem bei Touristen beliebten Ausflugsziel. Aber wie überall fehlte es auch im Nationalpark an Personal, um das Verbot durchzusetzen.
Tobias Velten überflog auf dem Display der Kamera die Fotos des Tages. Der raue Charme dieser Landschaft faszinierte ihn, aber es gelang ihm nur selten, ihn auf Bildern festzuhalten. Er war gerne hier. Am liebsten früh am Morgen, wenn die Sonnenstrahlen die Ödnis Stück für Stück zum Leben erweckten, oder bei Regenwetter, wenn weit und breit um ihn herum keine Menschenseele zu sehen war. Nur die pure Natur, wir Menschen gehörten vielleicht gar nicht hier hin. Auf diese wandernde Sandbank in der Nordsee, durch eine Laune der Natur alle sechs Stunden abgetrennt vom Rest der Welt. Wie ein Paradies, das man besuchen, in dem man aber nicht bleiben durfte. Oder wie ein Gefängnis, das zeitweise geöffnet war.
Es wurde Zeit, den Rückweg anzutreten. Mit einem Seufzen verstaute Velten die Kamera in einem wasserdichten Beutel. Unter seinen Neoprenschuhen knirschte der Sand, als er die Düne hinabstieg, um zu seinem Kajak zu gelangen, das auf der dem Wattenmeer vorgelagerten Salzwiese auf ihn wartete. Ganz schön illegal, Herr Kriminalhauptkommissar. Der ist gerade nicht im Dienst, antwortete er sich selbst in Gedanken.
Nach ein paar Metern hatte er das kleine Boot bis zu einem wasserführenden Priel geschoben. Es wackelte kurz, als er einstieg, aber mit den ersten kräftigen Ruderschlägen stabilisierte es sich. Schwacher Gegenwind ließ leise Wellen gegen den Rumpf plätschern. Er ruderte langsam und stetig, in den Muskeln breitete sich eine angenehme Wärme aus. In den letzten Monaten hatte er Gefallen an dem neuen Sport gefunden. Nicht weit von ihm entfernt stieß eine Möwe durch die Wasseroberfläche, stieg danach mit ihrer Beute wieder hoch. Gedankenverloren betrachtete Velten die über ihn hinwegziehenden Wolken.
Nach zwanzig Jahren Dienst im Bundeskriminalamt hatte ihn vergangenes Jahr ein Einsatz auf die Nachbarinsel Juist geführt. Im Anschluss daran hatte er eine einjährige Auszeit genommen und war einfach dort geblieben, bis es ihn schließlich auf die größere Insel Norderney verschlagen hatte. Ende Juni würde seine Auszeit schon wieder vorbei sein, eine Verlängerung konnte er sich nicht leisten, seine finanziellen Reserven waren fast aufgebraucht. Tja, wieder arbeiten. Zurück ins BKA, zurück in den Polizeilichen Staatsschutz. Vielleicht würde es ihm guttun.
Es würde sicherlich viel zu tun geben. Soweit er das von der Insel aus mitbekam, war die Stimmung im Land weiterhin gereizt. Verschwörungstheorien kursierten in so hoher Zahl in den sozialen Medien, dass man ihnen kaum noch wirkungsvoll widersprechen konnte. Jeder gegen jeden, so kam es ihm vor. Angst vor Andersartigen verschmolz mit Aggression auf Andersdenkende, mit Neid auf Reichtum, Wut auf Großkonzerne und einem unspezifischen Hass auf die da oben. Das schien überhaupt der einzige gemeinsame Nenner zu sein, dieses Feindbild einer irgendwie bösartigen Elite, die je nach Ausprägung entweder das Volk wirtschaftlich ausbeuten, entrechten oder direkt austauschen wollte. Hier oben, in seinem selbst gewählten Exil, hatte er diesem ganzen Hass weitgehend entkommen können.
Velten passierte den Flugplatz der Insel, der durch einen kleinen Deich vor dem Wattenmeer geschützt war, und den aus roten Mauerziegeln gebauten Leuchtturm ungefähr in der Mitte der Insel. An Land wäre er ab hier deutlich schneller unterwegs gewesen, mehrere Busse pendelten regelmäßig in die Stadt, die den gesamten Westen der Insel ausfüllte. Aber auch auf dem Meer wurde es jetzt weniger anstrengend, der Scheitelpunkt der Flut war erreicht, die Strömung des ablaufenden Wassers unterstützte die müder werdenden Arme.
Die letzten Meter führten am Südstrandpolder vorbei. Ihn hatten einst die Nazis dem Meer abgetrotzt, eigentlich war der Platz damals für einen neuen Seefliegerhorst vorgesehen gewesen. Nach dem schnellen Sieg an der Westfront waren die Arbeiten jedoch kurz nach der Eindeichung zum Erliegen gekommen und auch nicht wieder aufgenommen worden, als die Westfront zurückgekehrt war. Anstatt Jagdbombern wohnten nun Graugänse hier, ein ziemlich akzeptabler Tausch.
Bei der Surfschule zog Velten das Kajak an Land, übergab es mitsamt der Ausrüstung den jungen Leuten, die den Laden hier führten, und schlüpfte in Turnschuhe, Jeans und Fleecepulli. Gemütlich bummelte er zurück nach Hause. Wahrscheinlich war er der einzige Bewohner Norderneys, der weder Auto noch Fahrrad besaß. Aber weder das eine noch das andere vermisste er.
Sein Briefkasten im Hausflur war bis auf die unerwünschte Werbung leer, wie immer. Sabine, die in dem Apartment im Erdgeschoss wohnte, sah ihm neugierig dabei zu, wie er die Prospekte im Papiermüll entsorgte. Zum Glück kam sie dieses Mal nicht zu ihm heraus, um Konversation zu betreiben. Zufrieden stapfte er in dem spärlich beleuchteten Treppenhaus nach oben. Vor einem Monat war die Glühbirne in der ersten Etage durchgebrannt, aber bisher hatte es noch niemand für nötig befunden, sie auszuwechseln. Er hörte ein Geräusch oben, vor seiner Tür. Langsam stieg er die nächsten Stufen hinauf.
Auf dem Treppenabsatz stand eine Frau, genau vor der Deckenleuchte, weshalb er blinzeln musste, um mehr als ihre Umrisse erkennen zu können. Eins fünfundsiebzig, schwarze Kurzhaarfrisur, wahrscheinlich Anfang vierzig, aber er war noch nie gut darin gewesen, das Alter zu schätzen. Sportliche Figur, körperbetonte schwarze Jeans, eng anliegende Regenjacke. Eine Polizistin, schoss es ihm durch den Kopf.
»Guten Tag. Mara Johansson. Sind Sie Herr Velten?«
»Ja, der bin ich.«
Wäre sie eine Polizistin, hätte sie ihre Amtsbezeichnung genannt. Also keine seiner zukünftigen Kolleginnen, beinahe war er ein wenig enttäuscht.
»Könnten wir kurz reden?« Sie sprach leise, Velten war sich sicher, dass man sie eine Etage tiefer bereits nicht mehr verstehen konnte. »Ich möchte Ihnen einen Auftrag anbieten.«
»Wollen Sie eben reinkommen?«
Er schloss die Tür hinter ihr. Seine Wohnung bestand im Wesentlichen aus dem Wohn- und Essbereich, in den eine gelbe Einbauküche aus dem letzten Jahrhundert gequetscht worden war, ein schmaler Bistrotisch mitsamt zwei Stühlen, eine Couch und ein Sideboard mit einem Fernseher drauf. Über eine schmale Leiter gelangte man zu dem halb ausgebauten Spitzboden, auf dessen Grundfläche genau ein Doppelbett passte. Hinter der einzigen Innentür versteckte sich das gerade einmal vier Quadratmeter große Bad. Etwas hilflos bot Velten die beiden Stühle als Sitzgelegenheit an.
Mara Johansson winkte dankend ab und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Als sie den weißen Dreißig-Liter-Plastikeimer entdeckte, der am Ende der Einbauküche stand, huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. Dann wandte sie sich ihm zu.
»Ich hoffe, Sie haben Zeit. Ich komme gleich zu meinem Anliegen: Meine Auftraggeber möchten Sie als Privatdetektiv engagieren.«
»Aha.«
Interessant, dass sich seine kleine Nebentätigkeit, wie er es nannte, schon so weit herumgesprochen hatte. Vor einem halben Jahr war er durch Zufall in Kontakt mit einer Privatdetektivin aus Norden, der nächstgrößeren Stadt auf dem Festland, gekommen. Sie hatte den Auftrag gehabt, einen Ehemann des Fremdgehens zu überführen. Er hatte sie unterstützen können, danach hatte sie ihm gegen ein paar bescheidene Tagessätze noch zwei weitere, ähnlich gelagerte Fälle vermittelt. Jedes Mal hatten die Auftraggeber mit ihrem Verdacht richtiggelegen. Traurig, auch wenn es grundsätzlich gut für das Geschäft war. Langweilige Aufträge, wenig Geld, aber immerhin leicht verdient. »Grundsätzlich habe ich noch Kapazitäten, ja. Wobei kann ich Ihnen denn helfen?«
»Sie würden Vollzeit benötigt werden. Es geht um die nächsten vier bis fünf Tage. Gegebenenfalls müssten...
Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
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Reihe/Serie | Tobias-Velten-Reihe | Tobias-Velten-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Buch für den Urlaub • eBooks • Ferien am Meer • friesland krimi • Heimatkrimi • Inselkrimi • Juist • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Küstenkrimi • Norderney • Nordsee • Ostfriesland • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-26770-6 / 3641267706 |
ISBN-13 | 978-3-641-26770-4 / 9783641267704 |
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