Portal der Welten (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
640 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-26540-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Portal der Welten - Adrian Tchaikovsky
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England, in der nahen Zukunft. Vier Jahre nach dem spurlosen Verschwinden ihrer besten Freundin Mal ist die Studentin Lee noch immer traumatisiert. Nach einem mysteriösen Anruf kreuzen sich ihre Wege mit denen des MI5-Agenten Julian Sabreur, der einem Phantom nachjagt. Ist es vielleicht Mal? Aber wo war sie - und wo ist sie jetzt? Als auch noch eine Physikerin entführt wird, die über Parallelwelten geforscht hat, beginnt das Gefüge von Lees und Julians Welt auseinanderzubrechen. Irgendetwas ist da draußen, und es hat finstere Absichten ...

Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Für seinen Roman »Die Kinder der Zeit« wurde er mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.

INTERMEZZO


DIE WANDERER

AUSZUG AUS: DIE ANDEREN EDEN – SPEKULATIVE EVOLUTION UND INTELLIGENZ VON RUTH EMERSON, PROFESSORIN AN DER UNIVERSITY OF CALIFORNIA

Nach langer Zeit näherte sich die beschauliche Periode des Ediacariums mit ihren sessilen Polsterformen dem Ende. Die energiesparende Biologie dieser trägen Spezies wurde in rasantem Wandel von der Welt der Zähne und Klauen, des Wettbewerbs und der Prädation verdrängt. Die Totenglocke für das Ediacarium läutete, als eine Spezies entdeckte, wie viel effizienter als mit dem Filtern von Detritus aus dem Wasser man seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, wenn man Material von seinen wehrlosen Nachbarn raubte.

Es folgte eine regelrechte Explosion biologischer Vielfalt. Polster kamen aus der Mode. Zwar saßen einige Kreaturen immer noch auf einem Fleck und siebten Schwebstoffe aus dem Wasser, doch die Welt wurde von neuen Zwängen umgeformt. Das Leben verspürte ein dringendes Bedürfnis nach Bewegung – auf etwas zu bei den Raubtieren, von etwas weg bei der Beute – man überfiel aus dem Hinterhalt, fraß auf und suchte Schutz.

Willkommen im Kambrium.

Einige Arten entwickelten Muskeln und wurden flink und geschmeidig: schlanke lebende Bänder, die sich durch das Wasser schlängelten. Andere vergruben sich im Sediment. Wieder andere flüchteten sich aus schierer Verzweiflung in eine neue Strategie: An ihren harten Körpern sollten sich die Raubtiere die Zähne ausbeißen und die Klauen stumpf reiben. Unerwünschte Spurenelemente und chemische Verbindungen, die sich wie Nierensteine überall in den Organismen angereichert hatten, wurden nun als Panzerung an die Außenseite abgesondert. Diese Geschöpfe sollten in jeder Zeitlinie die ersten sein, die an Land und in die Luft gingen. Denn dies ist nur eine Zeitlinie von vielen.

In unserer Welt erbten die lebenden Bänder etwas, das noch wichtiger war. Der innere Stab, an dem ihre Muskeln hingen, wurde schließlich zu einem Teil des Rückgrats. Und sie wurden im Laufe einer halben Milliarde Jahre zu uns. Aber nicht in dieser Welt.

Warum? Den genauen Zeitpunkt, zu dem ein Finger die Waagschale berührt und sie anders neigt, als es in unserer eigenen Geschichte der Fall war, gibt es nicht. Vielleicht diktiert nur der Zufall, welches Saatkorn der Zeit keimen wird und welches nicht.

Die großen Raubtiere dieser kambrischen Meereslandschaft sind die Anomalokariden. Auch sie haben einen Panzer. Ihr Körper hat wie bei den Tintenfischen die Form einer Feder, er wird flankiert von flachen Flossenbeinen, die sich wie Wellen kräuseln und sie rasch durch das Wasser schießen lassen. Mit riesigen Stielaugen suchen sie nach ihrer Beute, wozu in ihrer Welt so gut wie alles gehört, was sich bewegt. In dieser Zeitlinie sind sie möglicherweise etwas schneller, ihre Augen sind schärfer, und ihre Arme packen flinker zu als in allen anderen. Unsere mutmaßlichen Vorfahren, kleine knochenlose Aale, sind hier nicht erfolgreich. Sie halten sich so zäh wie die sessilen Seescheiden und andere Atavismen, aber Fische entwickeln sich in diesen Meeren nicht; kein großes Maul, kein Rückenflosse erschreckt die Schwimmer, keine langsamen Verwandten der Quastenflosser schleppen sich an Land und bauen ihre Schwimmblase zu einer notdürftigen Ersatzlunge um. Es gibt keinen Tyrannosaurus und auch kein Mammut. Auch uns gibt es nicht. Dies ist nicht unsere Welt; dies ist nicht unsere Geschichte.

Es ist auch nicht die Geschichte der Anomalokariden, falls ihr nach Rache dürstet. Auch sie werden vergehen oder zumindest in der Bedeutungslosigkeit versinken.

In diesem Kambrium gewinnt der den Rüstungswettlauf, der den stärksten Panzer hat. Die Anomalokariden zerren ihn mit ihren schrecklichen Armen aus dem Sediment, reiben an ihm mit ihren Stacheln, nagen ihn mit ihrem zahnbewehrten Mundring an und lassen ihn dann zugunsten leichterer Beute fallen. In dieser Hölle werden diejenigen geschmiedet, die sich schließlich zur Herrschaft emporkämpfen.

Es sind Gliedertiere mit einem halbmondförmigen Kopf, einem dreilappigen Rumpf, einem Panzer aus Kalkspat und Facettenaugen, die aus winzigen Steinröhrchen bestehen. Zunächst zeigen sie keine besonderen Qualitäten. Unendlich lange Zeit rollen sie nur träge auf dem Meeresboden herum. Aber sie haben auch unendlich lang Zeit. Vor ihnen liegt, was sie allerdings nicht wissen können, eine halbe Milliarde Jahre auf der langen Straße zum Jetzt.

Wenn sie dann endlich an Land gehen, schützt sie ihr Panzer vor der tödlichen Strahlung der Sonne, und ihre großen Atmungsorgane können genügend Wasser für kurze Strandspaziergänge speichern. Die gegliederten Beine haben anfangs kaum die Kraft, den dreigeteilten Leib auf den Sand zu ziehen, aber das wird sich ändern. Ihre Feinde (andere Trilobiten-Abkömmlinge ebenso wie die standhaft ausharrenden Anomalokariden) folgen ihnen nur mit Verzögerung. Inzwischen wächst da draußen eine Pflanzenökologie heran, die sie abweiden können; ein paar Millionen Jahre später wird sich eine Ökologie von Pflanzenfressern entwickeln. Das Leben bewegt sich mit wachsender Zuversicht weiter strandaufwärts. Verschiedene Arten von Asseln, Pfeilschwanzkrebsen und Silberfischen erobern nacheinander das Land, Abarten der Trilobiten, die mit der terrestrischen Fortbewegung experimentieren.

Man könnte glatt übersehen, dass vielen Abkömmlingen der Trilobiten etwas gelungen ist, was keine der späteren Arten – in welcher Zeitlinie auch immer – jemals schaffen wird. Sie sind unsterblich geworden.

Warum müssen wir überhaupt sterben? Gewiss, man kann den Tod mit technischen Mitteln umgehen. Es gibt das »Hochladen«, das zu einem ewigen virtuellen Leben verhilft, und davon werden wir noch mehr zu sehen bekommen; es gibt die unerschütterliche Entschlossenheit einer Medizin, die keine Grenzen anerkennt und jedem, der es sich leisten oder es fordern kann, seine persönliche Langlebigkeit auf den Leib schneidert. Diese Kambrier überwanden den Tod jedoch einfach durch natürliche Entwicklung.

Noch einmal, warum müssen wir sterben? Weil wir jedes Mal, wenn unsere Zellen sich teilen, an den chemischen Enden unserer Chromosomen nagen. Und je mehr sich diese Telomere abnutzen, desto schneller streben wir einem Punkt zu, an dem die gierigen Hände unserer biochemischen Zellmechanismen nichts mehr davon zu fassen bekommen. Sie greifen ungeschickt zu und lassen sie fallen, bis sie schließlich frustriert aufgeben und jede weitere Replikation verweigern. Selbst wenn diese Zersetzung nicht stattfindet, wird uns etwas anderes zum Verhängnis: Wir bekommen Krebs. Feindliche Zellen teilen sich mit rasender Geschwindigkeit und vernichten unerbittlich ihre Nachbarn.

Die Abkömmlinge der Trilobiten, zumindest eine Abstammungslinie, schwitzen sozusagen Telomerase aus – sie bauen ihre angegriffenen Chromosomen bei jeder Zellteilung neu auf. Zwar sterben sie immer noch wie die Fliegen durch Prädation – irgendwas erwischt einen früher oder später – aber eine Eigenschaft ist in ihrem System fest eingebaut: Sie brauchen nicht zu sterben. Die Philosophen, die sie eines Tages hervorbringen werden, brauchen sich nie der existenziellen Frage zu stellen, die uns verfolgt. Der Frage nämlich, warum auch nach der besten Vorstellung immer der Vorhang fallen muss.

Die größte Herausforderung – jene, die ihrer Größe Grenzen setzt und sie trotz dieses genetischen Tricks ums Leben bringt – ist der Abwurf des Exoskeletts. Dabei wird der ganze schützende Panzer butterweich. Wenn sie zu groß werden, geht es schließlich über ihre Kräfte, sich von ihrer gesamten Haut zu befreien. Und damit gelangen die Kambrier unweigerlich ans Ende der Fahnenstange.

Bis auf eine Abstammungslinie, die auch nach Jahrmillionen immer noch leidlich trilobitenähnlich ist. Diese Kambrier schuppen sich beim Häuten, sie werfen den Panzer in Teilen ab, die randvoll sind mit eingeschlossenen Bakterien und Parasiten, sie können immer weiter wachsen, ohne jemals ihren gesamten harten Kleiderschrank auf einmal entsorgen zu müssen. Sie werden groß; sie werden alt. Nach ein paar Millionen Jahren sind sie so groß wie die Wale im Meer oder die Elefanten an Land.

Groß bedeutet natürlich nicht intelligent, das kann euch jeder Sauropode bestätigen. Aber etwa um die Zeit, zu der unsere eigenen Urururahnen das Meer verlassen, entwickeln sie eine Art von Empfindungsfähigkeit. Das ist bei ihnen eine ganz besondere und sehr persönliche Eigenschaft. Während sie ihre Welt immer besser beherrschen, lernen sie auch, die zahllosen Unglücksfälle zu vermeiden, die sonst ihr Leben verkürzen würden. Kommunikation zwischen den Individuen entspringt einem intellektuellen Wunsch, nicht etwa dem Bedürfnis nach Gesellschaft. Mit fortschreitender Entwicklung konzentriert sich ihre Technologie auf Selbstmodifizierung und Selbstverbesserung, womit sie der nackten Evolution noch weiter die Zügel aus der Hand nehmen. Sie werden zum Herrn über ihr eigenes Wachstum und ihre Gestalt, verändern sich, um sich an neue Lebensräume und neue Zwecke anzupassen, machen ihr Exoskelett zu dem Werkzeug, das sie brauchen, um sich das Universum zu erschließen.

Gegen Ende des Perm sind sie Erben einer Kultur, die sich über eine Million Jahre ununterbrochen perfektioniert hat – verknöchert und spröde, in der vollen Gewissheit, unendlich zu sein. Doch am Ende des Perm frisst die Erde ihre Kinder, es kommt zu gewaltigen ökologischen Verwerfungen und zu einem globalen Artensterben. Darauf...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Irene Holicki
Sprache deutsch
Original-Titel The Doors of Eden
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Andere Dimension • Arthur C. Clarke Award • britische Science Fiction • eBooks • Evolution • Nahe Zukunft • Parallelwelten • The Doors of Eden
ISBN-10 3-641-26540-1 / 3641265401
ISBN-13 978-3-641-26540-3 / 9783641265403
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