Sister Outsider (eBook)
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26993-4 (ISBN)
Audre Lorde wusste, was es heißt, als Bedrohung zu gelten: als feministische Dichterin, als Schwarze Frau in einer weißen akademischen Welt, als lesbische Mutter eines Sohnes. Viele 'Formen menschlicher Verblendung haben ein und dieselbe Wurzel: die Unfähigkeit, Unterschiedlichkeit als eine dynamische Kraft zu begreifen, die bereichernd ist, nicht bedrohlich'. Lorde widmete ihr Schaffen dem Kampf gegen Unterdrückung. Verschiedenheit und Schwesternschaft, Zorn, Erotik und Sprache wurden zu kraftvollen Waffen. In ihren Texten über Rassismus, Patriarchat und Klasse finden wir Antworten auf die brennenden Fragen der Gegenwart - ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen beweist der Band seine erschreckende Aktualität.
Audre Lorde, 1934 in Harlem geboren, war eine US-amerikanische Dichterin, Theoretikerin und Aktivistin. Zwischen 1984 und 92 verbrachte sie jedes Jahr mehrere Monate in Berlin, u.a. als Gastprofessorin an der FU Berlin. Audre Lorde verfasste mehrere Gedicht- und Essaybände sowie autobiografische Werke. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Audre Lorde starb 1992 an ihrer Krebserkrankung. Bei Hanser erschienen: Sister Outsider (Essays, 2021) und Zami (Eine neue Schreibweise meines Namens, 2022).
Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen
Vor einem Jahr lud mich die geisteswissenschaftliche Fakultät einer New Yorker Universität zu einer Konferenz ein. Man bat mich, einen Vortrag über die Unterschiede im Leben amerikanischer Frauen zu halten — Unterschiede bezüglich Race, Sexualität, Klasse und Alter. Derlei Aspekte auszublenden kann die feministische Diskussion über das Persönliche und das Politische nur schwächen.
Es zeugt von einer besonderen akademischen Arroganz, über feministische Theorie zu sprechen, ohne die zahlreichen Unterschiede zwischen uns Frauen zu beleuchten und ohne die wichtigen Beiträge von Schwarzen Frauen, Frauen des globalen Südens, queeren Frauen und von Armut betroffenen Frauen zu berücksichtigen. Und dennoch finde ich, eine Schwarze, lesbische Feministin, mich hier auf dem einzigen Podium wieder, das die Positionen Schwarzer Feministinnen und Lesben thematisiert. Eine traurige Ausrichtung für eine Konferenz in einem Land, wo Rassismus, Sexismus und Homophobie eng miteinander verwoben sind. Wer das Programm liest, muss zu dem Schluss kommen, lesbische und Schwarze Frauen hätten nichts zu Existentialismus oder Erotik zu sagen, zu Frauenkultur und Schweigen, zu neuen feministischen Theorien oder zu Heterosexualität und Macht. Was hat es auf der persönlichen wie auf der politischen Ebene zu bedeuten, wenn die einzigen beiden Schwarzen Teilnehmerinnen dieser Konferenz auf den letzten Drücker eingeladen wurden? Was bedeutet es, wenn die Werkzeuge eines rassistischen Patriarchats benutzt werden, um die Auswirkungen ebenjenes Patriarchats zu analysieren? Es bedeutet, dass allenfalls oberflächliche Veränderungen möglich und gestattet sind.
Dass weder die Positionen von lesbischen Frauen noch die von Women of Color einbezogen wurden, hinterlässt in den Ergebnissen dieser Konferenz eine beträchtliche Lücke. Beispielsweise fiel mir in einem Vortrag über materielle Beziehungen zwischen Frauen ein Entweder-oder-Modell von Fürsorge auf, das all meinen Erfahrungen als lesbischer Schwarzer zuwiderläuft. Auf Gegenseitigkeit oder geteilter Verantwortung basierende Systeme und Wechselbeziehungen, wie sie unter Lesben und an Frauen orientierten Frauen üblich sind, fanden keinerlei Beachtung. Dabei trifft die These des Vortrags, dass »Frauen, die nach Emanzipation streben, vielleicht einen zu hohen Preis dafür zahlen«, ausschließlich auf das patriarchalische Versorgermodell zu.
Für Frauen ist der Wunsch oder das Bedürfnis, einander zu unterstützen, nicht pathologisch, sondern eine Lösung, und das zu erkennen gibt ihnen ihre wahre Stärke zurück. Genau diese Art wahrer Verbundenheit fürchtet die patriarchalische Welt so sehr. Die einzige gesellschaftliche Machtposition, die Frauen innerhalb patriarchalischer Strukturen offensteht, ist die der Mutterschaft.
Gegenseitige Unterstützung eröffnet Frauen die Möglichkeit, frei zu leben und zu sein — nicht um benutzt zu werden, sondern um zu gestalten. Dies ist der Unterschied zwischen passiver Existenz und aktivem Leben.
Unterschiede zwischen Frauen lediglich zu tolerieren wäre blanker Reformismus und die totale Verleugnung ihrer schöpferischen Funktion. Unterschiede gilt es nicht bloß auszuhalten; erst durch sie entstehen die Gegensätze, zwischen denen unsere Kreativität dialektische Funken schlägt. Nur so verliert die Notwendigkeit wechselseitiger weiblicher Unterstützung den Anschein von Bedrohung. Indem wir unterschiedliche Stärken als gleichwertig anerkennen, können aus ihrer Wechselwirkung neue Formen des Daseins entstehen, und der Mut und die Entschlossenheit, auch dann zu handeln, wenn der Ausgang ungewiss ist.
Indem wir unsere Unterschiede in eine ausgeglichene Wechselbeziehung treten lassen, gewinnen wir an Sicherheit; diese Sicherheit erlaubt uns, in das Chaos aus bestehendem Wissen einzutauchen und mit echten Zukunftsvisionen zurückzukehren und mit der Kraft, jene Veränderungen anzustoßen, die für unsere Visionen die Voraussetzung sind. Unterschiede stellen eine urwüchsige und belastbare Verbindung her, die für jede Einzelne von uns gewinnbringend sein kann.
Man hat Frauen beigebracht, Unterschiede entweder zu ignorieren oder sie als Ursache für Spaltung und Misstrauen zu betrachten statt als Antrieb für Veränderung. Ohne Gemeinschaft gibt es keine Befreiung, sondern nur einen brüchigen, zeitlich begrenzten Waffenstillstand zwischen der Einzelnen und ihrer Unterdrückung. Trotzdem darf Gemeinschaft nicht das Abwerfen unserer Unterschiede bedeuten, und sie sollte auch nicht die jämmerliche Behauptung aufstellen, diese Unterschiede existierten nicht.
Diejenigen von uns, die nicht zum Kreis der von der Gesellschaft als akzeptabel definierten Frauen gehören, werden in den Schmelztiegel der Abweichung gezwungen: von Armut betroffen, lesbisch, Schwarz, älter. Sie wissen, dass zu überleben keine akademische Qualifikation ist. Im Interesse des Überlebens muss man lernen, für sich einzustehen, selbst wenn man unbeliebt ist und beizeiten sogar beschimpft wird. Man muss lernen, sich mit jenen zu verbünden, die ebenfalls an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, und zusammen mit ihnen für eine Welt zu kämpfen, in der sich alle Menschen entfalten können. Wir müssen lernen, unsere Unterschiedlichkeiten in Stärken zu verwandeln. Denn die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen. Sie mögen uns im Einzelfall gestatten, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, aber sie werden uns niemals darin bestärken, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Diese Vorstellung erscheint nur jenen Frauen bedrohlich, die immer noch glauben, sie fänden allein im Haus der Herrschenden Hilfe und Unterstützung.
Von Armut betroffene Frauen und Women of Color wissen, dass alltägliche eheliche Sklaverei und Prostitution nicht dasselbe sind, denn es sind ihre Töchter, die in der 42nd Street stehen. Wenn ihr weißen amerikanischen Feministinnen glaubt, euch weder mit unserer Unterschiedlichkeit befassen zu müssen noch mit der daraus resultierenden vielgestaltigen Beschaffenheit unserer Unterdrückung — wie wollt ihr dann mit der Tatsache umgehen, dass die Frauen, die eure Häuser putzen und eure Kinder betreuen, während ihr an Konferenzen über feministische Theorie teilnehmt, meist von Armut betroffene Women of Color sind? Welche Theorie bildet die Grundlage für feministischen Rassismus?
In einer Welt der Chancengleichheit können unterschiedliche Sichtweisen zur Basis für politisches Handeln werden. Doch solange feministische Akademikerinnen daran scheitern, Unterschiede als eine wesentliche Stärke zu begreifen, werden sie über die erste Lektion des Patriarchats niemals hinauskommen. In unserer Welt sollten wir »teile und herrsche« durch »bestimme über dich selbst und ermächtige dich« ersetzen.
Warum wurden nicht mehr Women of Color für diese Konferenz angefragt? Warum wurden zwei Anrufe bei mir als ausreichend erachtet? Bin ich die Einzige, die einen Kontakt zu Schwarzen Feministinnen herstellen kann? Der Vortrag der Schwarzen Podiumsteilnehmerin schloss mit dem Hinweis auf die Kraft und Bedeutung der Liebe zwischen Frauen; aber wie steht es um die Zusammenarbeit von weißen Frauen und Women of Color, die einander nicht lieben?
In akademischen feministischen Kreisen lautet die Antwort auf derlei Fragen meist: »Wir wussten nicht, wen wir fragen sollten.« Auf diese Weise schleichen sie sich aus der Verantwortung, mit derselben Ausrede schließen sie die Werke Schwarzer Künstlerinnen von ihren Ausstellungen aus und die Texte Schwarzer Autorinnen aus ihren Leselisten und ihren feministischen Publikationen, mal abgesehen von der gelegentlichen Sonderausgabe zu »Frauen in der Dritten Welt«. In einem Vortrag hat Adrienne Rich kürzlich hervorgehoben, dass ihr weißen Feministinnen in den vergangenen zehn Jahren enorm viel dazugelernt habt. Warum habt ihr dann nichts über Schwarze Frauen gelernt und über die Unterschiede zwischen uns, zwischen weißen und Schwarzen Frauen, obwohl das doch der Schlüssel zum Fortbestand unserer Bewegung ist?
Wir Frauen werden bis heute dazu aufgefordert, den Abgrund der männlichen Ignoranz zu überbrücken und Männer über unsere Existenz und unsere Bedürfnisse aufzuklären. Die Unterdrückten mit den Belangen der Herrschenden beschäftigt zu halten ist ein uraltes und unverzichtbares Werkzeug der Unterdrückung. Und nun hören wir, es sei die Aufgabe von uns Women of Color, weiße Frauen — gegen deren gewaltigen Widerstand — über unsere Existenz, unsere Unterschiede und unsere jeweiligen Rollen im gemeinsamen Überlebenskampf...
Erscheint lt. Verlag | 19.4.2021 |
---|---|
Nachwort | Nikita Dhawan, Marion Kraft |
Übersetzer | Eva Bonné, Marion Kraft |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sister Outsider |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Ausgrenzung • baldwin • Brustkrebs • Bürgerrechtsbewegung • Community • Diskriminierung • Erotik • Feminismus • Homosexualität • Identität • Ikone • Krankheit • Lesbisch • Literaturclub • New York • Patriarchat • people of colour • Queer • Race • Rassimus • Reni Eddo-Lodge • Schwarz • Selbstbestimmung • Sexismus • Sisterhood • Sprache • Unterschiede • weiß • Zorn |
ISBN-10 | 3-446-26993-2 / 3446269932 |
ISBN-13 | 978-3-446-26993-4 / 9783446269934 |
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