Die Erhörung (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
480 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26992-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Erhörung - Thomas Lehr
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Anton Mühsal, 68er, Spezialist für die frühe Geschichte der Weimarer Republik, brütet im West-Berlin der achtziger Jahre über seiner Promotion. Der junge Historiker schwankt zwischen zwei sehr unterschiedlichen Geliebten und wird plötzlich von Visionen heimgesucht.
Ein leibhaftiger Engel reißt ihn aus seiner Moabiter Studierstube, traktiert ihn mit historischen Szenen aus der Novemberrevolution, mit rätselhaften und surrealen Botschaften. In Sequenzen, die im Berlin des Jahres 1919 und 1968, im Barcelona des Spanischen Bürgerkriegs, im deutschen Faschismus und in der Nachkriegszeit spielen, ist 'Die Erhörung' ein realistischer und phantastischer Roman zugleich.

Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. September. Fata Morgana (Roman, 2010), Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), 42 (Roman, 2013), Zweiwasser (Roman, 2014), Nabokovs Katze (Roman, 2016), Schlafende Sonne (Roman, 2017) und Frühling (Novelle, 2019). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2012 mit dem Marie-Luise Kaschnitz-Preis, 2015 mit dem Joseph Breitbach-Preis und 2018 mit dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2020 erscheint die Neuausgabe seines Romans Die Erhörung im Carl Hanser Verlag.

1

Vom Berühren des Mondes


Morgens, um acht. Im Hochmoor.

»Gemini und Woschod I!« rief mein Großvater begeistert. »Bald werden sie auf dem Mond landen.«

Es war im Oktober 1965; die frühe Sonne kroch nur mühsam durch das neblige Gespinst, das den Himmel und weite Teile der ruhig gewellten Ebene bedeckte.

»Welche Farbe hat der Mond?« fragte ich.

»Das muß erst noch herausgefunden werden.« Mein Großvater ging über nasse, den Weg sichernde Planken voran. Unscharf begrenzt, an den Rändern so dicht, daß sich der Wasserdampf gazeartig um die kümmerlichen Birken wickelte, schien eine Halbkugel klarer Luft mit unseren Schritten ins Moor zu ziehen. »Auf den Kratern könnte es gelb sein, eine Art mehlfeiner Staub«, überlegte er. Ein trockener Husten nahm ihm die Luft. »Ja«, begann er aufs neue, »sie werden darauf herumspazieren. Ihre Körper sind viel leichter als auf der Erde. Sie müssen sich aneinander festbinden, damit sie zusammenbleiben. Sie tragen Anzüge, die mit Sauerstoff aufgepumpt sind. Es ist totenstill.«

Ergriffen von einem flachen Taumel, sah ich zurück nach Süden. Heidekraut, Gräser und Flechten breiteten sich aus wie die dick eingestaubten Webfasern eines Bildteppichs. Starres Zinn füllte einige Lachen und Tümpel. Dahinter versank der Blick in schmutziger Watte. Nichts ist in Ordnung! dachte ich.

Aber ein Schritt meines Großvaters folgte dem anderen in einem so gleichmäßigen Rhythmus, daß ich meine Sorge und das Gefühl für Entfernungen und körperliche Anwesenheit minutenlang verlor.

Wir stapften durch eine Zone schlammverkrusteter Pfützen, als der alte Mann unvermittelt anhielt. Fast wäre ich gegen seine Schulter geprallt. »In der letzten Zeit, da überlege ich allerdings, ob das nicht zu einfach wird. Ich meine, zum Mond zu fliegen. Das ist womöglich die falsche Methode, wenn man die Erde betrachten will.«

»Ja, Großvater.«

»Weißt du, daß man im Inneren einer Kugel mehr von der Oberfläche sieht als von außen? Rein theoretisch zumindest. Das heißt, wenn du klein genug bist.«

Als könnte dies seine Gedankensprünge verdeutlichen, zeigte er auf einen von grauen Drahtlinien und morschen Holzpflöcken eingesäumten Pfad. Wir umrundeten den größten der Moorteiche. Aus schwammig aufgepolsterten Ufern quoll das Wasser, sickerte, wie mit öligen Schlieren versetzt, in unsere Trittspuren nach.

Und wenn ich mich geweigert hätte zu gehen? Seine Beine wirkten versteift. Er zündete die kurzstielige Pfeife, die er auf unseren Wanderungen zu rauchen pflegte, nicht an, sondern hielt sie abwesend in der Linken. Später besann er sich darauf und zog eine Schachtel Streichhölzer hervor. Seine Hände zitterten — so sehr, daß er zahlreiche Hölzchen auf den Boden schüttete. Ich spürte seinen lähmenden stummen Befehl, kein Wort über das Mißgeschick zu verlieren.

»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt«, erklärte er laut, Pfeife und Streichhölzer wieder in eine Anoraktasche stopfend. »Es ist bei dieser Sichtweise völlig egal, wo sie sind, ob sie gewissermaßen vom Kern aus emporstarren und nichts als dicke Kruste sehen oder von oben. Sie wollen Wettrennen veranstalten. Sie wollen den Planeten im Griff haben, statt alles auf der Erde zu sehen. Begreifst du diesen Unterschied?«

Ich nickte beklommen.

»Aber es ist ein Kunstwerk, wie sie die Umlaufbahnen berechnen. Gemini V wird versuchen, eine Radarkapsel abzusprengen und sie anschließend wieder einzufangen. Glaubst du, du könntest Astronomie studieren oder Physik?«

»Vielleicht, ich weiß nicht.« Ich verlangsamte meine Schritte in der Hoffnung, ihm das gleiche Tempo aufzunötigen.

Er kam auf die Bombardierung Nordvietnams zu sprechen, weiterhin zu rasch ausschreitend. Aus Protest blieb ich einen knappen Meter hinter ihm zurück und fixierte seine Stiefelabsätze. Ich verstand nicht mehr, was er sagte, und hoffte nur, daß das Schweigen, das nach einer Weile eintrat, doch noch in das eigentümliche, fast kinderhafte Gefühl übergehen würde, das uns oft am Ende unserer Spaziergänge und Dispute umfing. Die Worte und Gesten mußten uns ausgegangen sein. Pfeifentabakrauch war vonnöten, vielleicht auch ein ganz bestimmter Neigungswinkel unseres Gemüts gegen die Ekliptik der Sonne. Und dann kam dieses Gefühl, das die Farben, Gerüche und Töne der Landschaft um einen jähen Sprung eindringlicher machte — so als hätte jemand, während wir im Dunst der Spekulationen wandelten, inzwischen die Welt neu gestrichen und tapeziert. »Sieh, Anton«, konnte mein Großvater nun sagen, meine Aufmerksamkeit auf eine seiner Beobachtungen lenkend. »Sieh« — dieser merkwürdige biblische Imperativ, in dem sich die Lust an der Schöpfung sogleich mit der am Beweis und einem milden Triumph überkreuzt. Seine brüchige Stimme ließ die Worte leicht werden.

»Sieh, Anton, Zindelkraut, Bitterling, Sonnentau …« In einer pendelnden, unregelmäßigen Art erschienen die Namen. Sie zeichneten dünne fasrige Stiele vor meine Füße, wachsüberzogene Blätter, glitzernd unter Tauperlen, Blüten einer tiefen, sehr präzisen Färbung, die mir gerade noch irdisch vorkamen.

»Wir hätten daheim bleiben sollen!« rief ich. Es würde diese einfachen und wundersichtigen Momente nicht mehr geben. Ich spürte es seinem Schritt an, der, begleitet von angestrengt gebändigten Atemgeräuschen, immer mechanischer wurde.

»Wir sollten umkehren, Großvater!«

»Du erinnerst dich an Anselm? Anselm Kempner?«

»Sicher. Aber wir —«

»Hör doch zu!« Er ballte die Hände in den Taschen seines Anoraks und richtete sich vor mir auf. »Wenn du in Berlin studieren willst, könntest du Anselm gebrauchen. Anselm Kempner … Begreifst du, daß es für einen Menschen nicht gut ist, wenn ihm zu früh ein festes Haus gehört?«

Erschrocken gab ich ihm recht, stammelte irgend etwas, schwieg trotzig.

»Studieren«, sagte er, »man hätte schon immer auf dem Mond studieren müssen, um ruhig zu bleiben. Es passiert zu vieles. Und ist es nicht auffällig, daß gerade jetzt der Mond immer näher rückt? Wer, Anton, fliegt denn da hinauf? Ganze Länder sind das, nicht etwa nur eine Handvoll Astronauten. Millionen von Köpfen sehen die Erde auf die Art, die mir zu einfach vorkommt. Jetzt haben sie diesen Erhard wiedergewählt; man könnte glauben, weil sein Pfannkuchengesicht so leer und glatt aussieht wie die gelbe Scheibe da oben am Himmel. Früher —«, er hustete und wischte sich hart über die bläulich verfärbten Lippen, »früher haben sie irgendwelche Fabelwesen da oben vermutet. Jetzt, wo sie drauf und dran sind, da hinaufzufliegen, schleichen sich die Mondkälber vorsoglich herunter. Sie rauchen Zigarren und übernehmen die Regierung. Du wirst studieren, Anton —«

Er wankte, seine Beine gaben nach. Ich hatte Mühe, ihn zu stützen, obwohl ich mit meinen siebzehn Jahren wesentlich kräftiger und schwerer war als er.

»Großvater!« sagte ich beschwörend.

Er lehnte sich so gegen mich, daß wir gemeinsam einige Schritte vorantaumelten. »Geh, Anton. Damit man dich nicht umsonst jeden Tag schwimmen geschickt hat. Halt mich fest. Geradeaus, es wird gleich besser«, keuchte er. »Was alles geschieht! Im Kongo schlachten sie die Mulélé- und Simbarebellen ab. Dieser Tschombé, dieser blutige Spaßmacher, ist entlassen worden. Aber was hilft’s? Weißt du noch, wie er hier in München war, beim Kardinal Döpfner? Mehr Handel mit Bayern hat er gewollt, ha! … Studieren, Anton. Die Studenten haben ihn mit Stinkbomben und Tomaten beworfen. Auch das sind Flugbahnen, die berechnet sein wollen.«

Ich mochte nichts mehr hören!

»Wenn man in mein Alter kommt«, rief er fast wütend, mich noch immer vorandrängend, »dann wünscht man sich ein paar einfache Sätze. Nun, man kriegt sie eben nicht.« Ungeschickt fuhr er sich über die Stirn und wischte die blaue Schirmmütze von seinem Kopf. Er wollte nicht, daß ich sie aufhob. Plötzlich wurde der Dunstkreis um uns geweitet. Die Erde glühte auf: etwas wie flammender Rost, ein Grün in Sprengseln aus Jade und Smaragd, sich auf breiten Moosbuckeln wellend, überall zerschnitten von der nun silbrigen Härte der Pfützen.

»Großvater«, mahnte ich ihn leise.

Er riß sich von mir los, schwankte über ein Stück leuchtend gegen den Morgenhimmel aufsteigende Erde. Es war der Stumpfsinn einer Exekution. Schon knickten ihm die Beine ein. Ich eilte ihm nach und hielt ihn an den Schultern fest. Sein Haar, gelblich weiß und mit einer schwach parfümierten Salbe am Kopf gehalten, klebte jetzt auch auf seiner Stirn. Langsam hob er den...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger Jahre • Berlin • deutungsmöglichkeiten • Erlösung • Himmlische Boten • Leben • Liebe • Menschengenerationen • Neuausgabe • Offenbarungen • Phantasmagorie • philosophisch • Siebziger Jahre • Verdammnis • Visionen
ISBN-10 3-446-26992-4 / 3446269924
ISBN-13 978-3-446-26992-7 / 9783446269927
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