August (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26997-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

August - Peter Richter
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Mit sicherem Sinn für die Komik im Kämpfen ums Glück erzählt Peter Richter von der Leere mitten im Hochsommer des Lebens.
Stefanie und Richard, Vera und Alec haben Berlin hinter sich gelassen, sie leben jetzt in New York und gönnen sich mit den Kindern einen langen August an den Stränden der Hamptons. Aber schon bald wissen sie nicht mehr, wie es weitergehen soll. Zwischen den luxuriösen Sommerhäusern auf Long Island zieht ein Mann seine Kreise, der den Superreichen inneres Wachstum verkaufen will. Dazu ist jedes Mittel recht, von den Sekreten exotischer Frösche bis zu mystischer Morgengymnastik. In Stefanie findet er eine enthusiastische Anhängerin - und das löst gleich mehrere Katastrophen aus. Peter Richter führt eine Gesellschaft vor, die selbst den Widerwillen gegenüber ihrer eigenen Gier noch zum Statussymbol ummünzt.

Peter Richter, geboren 1973, hat lange als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York gearbeitet und lebt jetzt in Berlin. Letzte Veröffentlichungen: 89/90 (2015, Longlist Deutscher Buchpreis), Dresden Revisited (2016). Im Hanser Verlag erschien zuletzt August (Roman, 2021).

Pool


Wenn Alec Kline seine Augenlider der Vormittagssonne über Long Island zuwandte, dann schwammen dahinter Vierecke und Kreise und Formloses durch ein Dunkel, das man nicht einmal wirklich dunkel nennen konnte. Vielmehr war es überraschend warm und licht. Ausgefranste Zeichen aus fremden Alphabeten schwebten darin umher, und wenn er sie zu fassen bekommen wollte, verloschen sie, nachglimmend wie defekte Neonröhren. Es war also gescheiter, sie gar nicht erst zu fassen bekommen zu wollen, sondern einfach anzuschauen, interesselos, aus reiner Freude … Und irgendwo hinter seinem Kopf pochte dazu jetzt frohgemut ein kleines Schlagzeug, das dem Tanz der Schemen einen Rhythmus gab: Bumm-dammdadamm.

Hinter Alecs Liege musste Richard ein paar Lautsprecherboxen in den Büschen installiert haben. Er wollte fragen, ob Vera und Stefanie das auch hören konnten auf ihren Luftmatratzen im Pool, ließ es dann aber. Zu anstrengend. Wozu auch?

Bumm-dammdadamm.

BummPLAPENGdadamm.

Schon wurde ein anderer Rhythmus hineingerührt. Dann schnitt ein Saxofon mit einer grellen Melodie durch das Bild.

Denn sie würden erstaunlich viel Jazz hören in diesem Sommer gemessen daran, dass keiner von ihnen sich damit auskannte. Das hatte Richard angekündigt. Und dann hatte er hinzugefügt, dass sie sich auch gar nicht auskennen wollten damit. Sie wollten lediglich zu den Saxofonläufen von Wayne Shorter und Dexter Gordon auf den Luftmatratzen liegen, »bäuchlings«, hatte Richard verkündet, »und mit schlaffen Armen das Wasser zerpflügen«. Oder auf den Liegestühlen, rücklings, und mit geschlossenen Augen in die Sonne starren. Oder in der Küche stehen, Pancakes stapeln »und Niagarafälle aus Sirup darüberlaufen lassen«. Sie würden daher auch vor der Art von Sirup nicht zurückschrecken, den Elvis und Sinatra in ihre Songs gegossen hatten, in the wee small hours of the morning oder auch am frühen Abend, wenn es Zeit würde für die ersten Drinks. Das war jedenfalls Richards Plan, sein Vorhaben und daher schließlich die Beschlusslage, einstimmig verabschiedet oder doch zumindest ohne vernehmbaren Protest von den anderen abgenickt. Alec staunte, wie stimmig dieser Plan schon jetzt aufzugehen schien.

Bumm-dammdadamm.

Er vermutete, dass es auf jemanden, der zufällig am Grundstück vorbeikam und das hörte, so wirken müsse, als hätten sie die Plattensammlungen ihrer Eltern hergeschleppt oder der Großeltern. Aber Richard hatte befunden, Jazz passe zur Architektur, der Bungalow sei aus derselben Ära, flach, horizontal, gläsern. Jazz passe auch ganz generell zum Sommer, zum Geruch von Hitze auf Holz, zu dem Duft von Rosen, Farnen, Gartensträuchern, von frisch gewässertem Rasen und von frisch aufgetragenem Nagellack, Farbton Koralle. Es fiel Alec schwer, ihm da zu widersprechen.

Kurz ging ihm nur die Frage durch den Kopf, warum sich gerade Deutsche aus vollkommen soliden Verhältnissen manchmal so rührend viel Mühe gaben, Amerikanern zu gleichen, einer bestimmten Vorstellung von Amerikanern jedenfalls, die ihm mehr mit Filmen zu tun zu haben schien als mit der Wirklichkeit. Aber da er als Einziger an diesem Pool selbst einer war, befürchtete er, dass ihm am Ende kein Urteil zustand, warum die drei anderen so taten, als wären sie ebenfalls welche, und zwar bis hin zur Imitation der Mundarten und Slang-Ausdrücke.

Damit, dass sie nun einmal in New York lebten jetzt, ließ sich vieles, aber nicht alles erklären. Denn das war Alec schon aufgefallen, als er einst als Student für ein Semester nach Berlin gegangen und dann einfach für zwei Jahrzehnte nicht mehr heimgeflogen war — offiziell wegen Hegel, Feuerbach und Marx, aber wesentlich auch deswegen, weil ihm selbst das Nachtleben in den oft illegal improvisierten Clubs und Bars dort als politische Praxis vorgekommen war, als egalitäre Utopie, als ein Garten Eden, in dem alle Kreaturen noch einmal friedlich und ohne irgendeine Frage nach Statusunterschieden nebeneinander grasen durften. Er erinnerte sich, dass Richard Mauler, eine seiner ersten Bekanntschaften aus endlosen Raves und Afterhours, selbst damals schon im Tonfall eines amerikanischen Predigers auf ihn eingeredet hatte: Er komme aus dem Deep South von Westberlin, aus Zehlendorf-City, »so weit im Süden vom Westen, dass es fast schon wieder Osten ist«. Und als Sohn eines Hausmeisters verschiedener evangelischer Kirchengemeinden dort wisse er leider, dass selbst Paradiesgärten in erster Linie Liegenschaften waren mit Grundbucheinträgen und Besitzverhältnissen, mit denen man sich befassen sollte, bevor andere das taten und Renditeobjekte für Kapitalanleger aus Westdeutschland darüber würfelten, mit Balkons aus Blech auf Säulchen aus Beton und Ähnlichem, wie Richard als rückhaltloser Modernist sich ausdrückte, »trash«. Er erinnerte sich auch, dass Richard bereits unbeirrbar von »real estate« gesprochen hatte, als er gerade erst begann, aus der Rolle des Räume-Beschaffers für kurzlebige Technoclubs in die eines Immobilienmaklers hineinzuwachsen, an den diejenigen unter Berlins DJs und Künstlern sich wandten, die über die Jahre zu Geld gekommen waren. Alec meinte, sich außerdem daran zu erinnern, dass Richard, nachdem er darüber selbst zu Geld gekommen war, die damals als Musikfernsehmoderatorin noch landesweit bekannte Stefanie Schultheis nicht einfach nur umworben, sondern »gedated« hatte, obwohl dieser Amerikanismus damals im Deutschen noch kaum vorkam. Er erinnerte sich weiter, mit welcher Zielstrebigkeit diese Stefanie Schultheis damals den Plan verfolgte, an einer der renommierten New Yorker Schauspielschulen Unterricht zu nehmen, als sie spürte, dass die Zeit des Musikfernsehruhms sich dem Ende zuneigte, für sie ganz persönlich, aber auch generell. Und das wiederum erinnerte Alec Kline am Ende auch daran, mit welcher Entschlossenheit er selbst wenig später von Vera »gedated« wurde — nicht nur, aber ausdrücklich auch weil er Amerikaner war und weil Vera aus der Enge ihrer sächsischen Berge eine Sehnsucht nach Weite und Westen mitbrachte, die selbst ein Umzug nach Amerika, eine Mietwohnung in Brooklyn, eine Klinikstelle in Manhattan und Abonnements sowohl der »New York Times« als auch des »New Yorker« noch nicht hatten stillen können.

Bumm-dammdadamm.

Saxofon.

Piano.

Bass.

Für einen Moment ging Alec Kline noch der Gedanke durch den Kopf, dass das alles etwas mit einem uralten teutonischen Hang zur Perfektion zu tun haben könnte, auch wenn der sich in Schichten aus Selbstironie, Persiflage und Theater hüllte. Aber dann ließ er diesen Gedanken wieder ziehen: Die Sonne war selbst für ihn einfach zu stark, zu hell, zu warm. Alec staunte, wie sehr er das hier tatsächlich genoss: das Nichtstun und das Nichtdenken, ausgerechnet er, auf einem Liegestuhl an einem Pool auf Long Island, in einem Aquarell von einem Hochsommertag. Er hatte geglaubt, dass er es seiner Frau zuliebe auf sich nehmen müsste, hier draußen zu »sommern«, wie Richard das genannt hatte, und dabei herauszufinden, was die Jahre und die Einkommensunterschiede von ihrer früheren Freundschaft überhaupt übrig gelassen hatten, und nun ließ schon diese erste Morgensonne seine Vorbehalte tauen.

Alec versuchte, sich von ihr noch einmal abstrakte Gemälde auf die Rückseite seiner Augendeckel malen zu lassen. Aber ein Insekt, das vor seinem Gesicht umherflog, riss ihm schließlich doch die Lider auseinander.

Im ersten Moment klebte ihm noch der Leim der Trägheit in den Wimpern und sorgte dafür, dass das Bild aussah wie unscharf aufgenommen: zwei Frauen auf Luftmatratzen, bäuchlings und die Hände im quecksilbrigen Wasser des Pools.

»Ausgeschlafen?«, frage Vera.

Es klang zärtlich, aber der kleine Vorwurf, der darin lag, ließ sich für Alec trotzdem nicht überhören.

»Nicht geschlafen, gearbeitet«, murmelte er, während er sich abermals zurückfallen ließ, den rechten Arm angewinkelt unterm Kopf, das rechte Bein aufgestellt und das linke seitlich vom Liegestuhl hängend.

Diese Körperhaltung ihres Mannes ließ Vera an die Pose eines ruhenden Fauns denken, den sie einmal in der Antikenabteilung eines Museums sehr beeindruckend gefunden hatte. Es ließ sie allerdings auch daran denken, dass sie früher tatsächlich einmal die Zeit gehabt haben musste, sich in den Antikenabteilungen von Museen zu verlieren. Alecs hinter dem Kopf verschränkter Arm und das sanfte Spiel des Luftzugs mit den Haaren in seiner Achselhöhle ließen Vera außerdem daran denken, dass diese Geste für Jahrtausende der Kniff gewesen war, mit dem die Bildhauer deutlich machten, dass der Dargestellte nur schlief und nicht etwa tot...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Beziehung • Beziehungskrise • Ehekrise • Esoterik • Ferien • Gesellschaft • lifestyle • Long Island • New York • Sommer • Veganismus • Vegetarismus
ISBN-10 3-446-26997-5 / 3446269975
ISBN-13 978-3-446-26997-2 / 9783446269972
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