Schattendorf -  Ulrike Piechota Piechota

Schattendorf (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
568 Seiten
Pandion Verlag
978-3-86911-553-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Hallenheim – ein kleines Dorf an der Nahe, idyllisch zwischen Weinbergen und Wäldern gelegen. Plötzlich verdunkelt ein Schatten den friedlichen Ort. Auslöser ist der Mord an dem prominentesten Einwohner und dem vergifteten Erbe, das er hinterlässt. Anschläge, Anfeindungen, radikale Gruppen – die Dorfgemein­schaft droht auseinanderzubrechen. Mit unbeirrbarer Zuversicht versucht Matilda, das Schlimmste zu verhindern. Dadurch gerät sie nicht nur einmal in Lebensgefahr. Hallenheim ist ein fiktiver Ort. Doch diese Geschichte kann sich überall dort abspielen, wo der Schatten nicht rechtzeitig erkannt wird.



Ulrike Piechota, geboren in Zeitz, Studium der Musik in Heidelberg, Heirat, drei Kinder, lebt in Bad Kreuznach. Ihre schriftstellerischen Arbeiten umfassen Romane, Satiren, Kinder- und Jugendbücher. Mehr zur Autorin unter: www.piechota-online.de

1


 

„Das alles hat mit den Kartoffeln aus Hessen angefangen“, sagte Matilda nicht nur einmal zu sich selbst, nachdem das normalerweise friedliche Leben in Hollenheim schlagartig vorbei war.

Selbstverständlich hatten die Kartoffeln nichts, aber auch gar nichts, mit den Turbulenzen zu tun, die das kleine Dorf erschüttern sollten.

Heute, Anfang September lagen sie jedenfalls noch ganz harmlos im Supermarkt. Und in Hollenheim war das Hauptthema die unmäßige Hitze der letzten Tage, die als unnatürlich eingestuft wurde. Immerhin war der Sommer fast vorüber.

Matilda hatte lange geschlafen. Hatte die Kühle der Nacht für ihre Arbeit genutzt. Sie illustrierte Bilderbücher, zeichnete ab und zu Karikaturen für verschiedene Zeitungen, bissig oder lustig, je nachdem, was von ihr verlangt wurde. Reichtümer häufte sie mit dieser ihrer künstlerischen Begabung nicht an. Was auch nie ihr Lebensziel gewesen war. Immerhin konnte sie sich die Arbeit einteilen. Konnte morgens lange schlafen, wenn sie Lust dazu hatte. Konnte nachts arbeiten, wenn es am Tag zu heiß war. Konnte ab und zu verreisen. Musste keine Rücksicht auf einen Partner oder Kinder nehmen. Mit ungefähr dreißig Jahren hatte sie sich entschieden, allein zu bleiben. Ein paar kurze Liebschaften, danach eine längere Beziehung, hatten sie nicht davon überzeugen können, dass der Mensch nur für ein Leben zu zweit geschaffen war.

Jetzt nahm sie das Fahrrad und fuhr in den knapp vier Kilometer entfernten Supermarkt. Kaufte ein, was für ein paar Tage so gebraucht wurde: Milch, Gemüse, Obst, Käse, Brot, und eben jene Kartoffeln, die laut dem Schild auf der Tüte aus Hessen kamen. Sie transportierte den Einkauf in zwei schwarzen, schon ziemlich verschlissenen Fahrradtaschen nach Hause. Dachte während der kurzen Fahrt an ihre Cousine Ingelore, die in Darmstadt wohnte. Also in Hessen, wo die Kartoffeln gewachsen waren.

Sie trafen sich manchmal, die Cousinen, wanderten entweder durch Darmstadt oder durch die Wälder und Weinberge rings um Hollenheim. Ingelore, etwas älter als Matilda, war Altenpflegerin und lebte nach ihrer Scheidung vor zehn Jahren allein in einer hübschen Wohnung in Darmstadt.

Am Wochenende könnten sie sich eigentlich wieder einmal verabreden, dachte Matilda. Sie nahm sich vor, die Cousine heute noch anzurufen.

Als sie zu Hause angekommen war, trug sie den Einkauf ins Haus, das eher ein Häuschen genannt werden sollte. Winziger Flur, links die Küche, in der auf einer Eckbank mehrere Personen sitzen und essen konnten. Gegenüber der Küche Matildas Arbeitszimmer, in dem der mächtige Schreibtisch den meisten Platz einnahm. Ein kleines Sofa, zwei Sessel, dazwischen ein runder Minitisch, ein vollgestopfter Schrank, der vom Boden bis zur Decke reichte. Eine schmale Treppe führte nach oben. Schlafzimmer. Bad. Ein Gästezimmer, in das gerade ein Bett und eine Kommode passten. Dieses Häuschen hatte Matilda von Tante Lore geerbt, die kinderlos gewesen war. Das Einzige, was Matilda je geerbt hatte. Immerhin. Sie musste keine Miete zahlen und wohnte nun schon fünfzehn Jahre hier. Ein weiteres Erbe erwartete sie nicht mehr im Leben. Ein Haus zu erben, und sei es noch so klein, reichte ja auch und war nicht jedem vergönnt.

Träge überlegte Matilda, wem sie das Haus vererben könnte und packte den Einkauf aus. Sie lachte. Mit fünfundfünfzig Jahren und einer bisher guten Gesundheit musste sie sich darüber noch keine Gedanken machen.

Wichtiger war jetzt, ein paar der hessischen Kartoffeln zu schälen und in Öl zu braten. Eine gestern in dem kleinen Garten hinter dem Haus geerntete Zucchini in Stücke schneiden, den Kartoffeln beifügen, das Ganze mit Trockenbrühe und viel Curry würzen.

Gleich die erste Kartoffel, die Matilda schälen wollte, war mit schwarzen Flecken übersät, die sich bis ins Innere fortsetzten. Bevor sie die ungenießbare Kartoffel in den Bio-Müll warf, fotografierte Matilda sie mit dem Smartphone. Schrieb dazu: „Kartoffel aus Hessen“. Das Foto schickte sie an Ingelore.

Prompt schickte die das Foto eines wurmstichigen Apfels zurück. Text: „Apfel aus Rheinland-Pfalz“.

Die Cousinen neckten sich häufig mit den Bundesländern, in denen sie lebten: Matilda in Rheinland-Pfalz, Ingelore in Hessen. Ein kleiner Spaß zwischen ihnen. Sie mochten beide den Wohnort der jeweils anderen.

Matilda aß den Kartoffel-Zucchini-Brät. Danach bekam sie Lust, trotz der Hitze die paar Schritte hinunter zur Nahe zu gehen und ins Wasser zu gucken. Eine halb verfallene Bank, von Gestrüpp umgeben, war ihr Lieblingsplatz. Ob sich jemals ein anderer Mensch auf diese Bank setzte, war zweifelhaft. Und eigentlich auch ganz gleichgültig. Matilda jedenfalls saß oft dort, schaute den Wellen des kleinen Flusses nach und spürte, wie Ideen für neue Arbeiten in ihr aufstiegen.

Vielleicht war es heute zu heiß für Ideen. Oder die Kartoffeln lagen ihr zu schwer im Magen. Jedenfalls schlief Matilda ein und war gezwungen, sich einem Traum zu überlassen, der sie nach dem Aufwachen seltsam irritierte:

Aus der Ferne waren Geräusche zu hören. Johlen und Schreien. Stiefelschritte, die näher kamen. Unheimlich, auch wenn sich das Ganze am anderen Ufer der Nahe abspielte. Eine Frau tauchte auf, die sichtbar um ihr Leben rannte, dabei verzweifelte Laute von sich gab. Hilferufe? Worte waren nicht zu verstehen. Die Frau war eher noch ein Mädchen. Vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Das Gesicht war braun. Ihre Haare waren mit einem rosa Tuch verhüllt.

„Negerhure!“, schrien die Verfolger. „Negerschlampe! Gleich haben wir dich!“ Rechtsradikale? Rassisten? Jetzt stolperte das Mädchen, fiel ins Gras. Zwei Männer mit Glatze griffen nach ihr, rissen ihr das rosa Tuch vom Kopf. Schwarzes, krauses Haar kam zum Vorschein. Eine Horde Männer stürzte sich auf sie. Matilda war klar, dass sie nicht mehr nur Zuschauerin sein durfte. Sie musste dem Mädchen helfen. Aber wie? Gegen diese Männer hatte sie keine Chance. Außerdem gab es hier keine Brücke, um das andere Ufer zu erreichen. Trotzdem musste sie eingreifen. Musste das Leben des Mädchens retten. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.

„Ins Wasser mit ihr!“, brüllte einer der Männer.

„Aber vorher will ich noch meinen Spaß haben“, schrie ein anderer Mann und begann, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen. Die Anderen lachten, klatschten und feuerten ihn an. Matilda stieß einen warnenden Schrei aus, griff in ihre Hosentasche, zog eine Pistole heraus und richtete sie auf die Männer. Mit einer Stimme, die sie noch nie an sich wahrgenommen hatte, schrie sie:

„Lasst das Mädchen los oder ich schieße!“

Da die Männer nicht reagierten, schoss sie tatsächlich. Vier oder fünf Schüsse gab sie ab. Das Wunder geschah: die Männer ließen das Mädchen los, rannten fluchend und schreiend davon. Plötzlich stand das Mädchen neben Matilda, ließ sich in den Arm nehmen und trösten. Wie ist sie über das Wasser gekommen?, dachte Matilda erstaunt. Und woher habe ich eine Pistole? Ohne auf ihre Frage zu antworten machte sich der Traum davon.

Matilda öffnete die Augen. In ihrer Hosentasche war nur das Handy, keine Pistole. Und ein afrikanisches Mädchen war auch nirgends zu sehen.

Noch ganz von dem Traum gefangen stand Matilda auf, ging nahe ans Wasser, bückte sich und tauchte die Hände in das kühle Nass. Fuhr sich durchs Gesicht, um den Traum abzuschütteln. Was nicht gelang. Das dunkle, vor Angst verzerrte Gesicht des Mädchens ließ sich nicht so schnell vertreiben. Es ähnelte den Gesichtern der Menschen, die gestern Abend in den Fernsehnachrichten gezeigt wurden. Nur kurz, vielleicht eine Minute, wie das in Fernsehnachrichten so ist. Ein Schlauchboot, in dem Menschen dicht aneinander gedrängt saßen, ihre Arme flehentlich nach dem sich nähernden Rettungsschiff ausstreckten. Gleich danach wurden Fußballergebnisse verkündet. Die Gesichter waren schnell vergessen. Durch das Traummädchen wurde Matilda wieder daran erinnert.

„Und nichts“, sagte Matilda zu der Ente, die durch das Gras auf sie zu watschelte, „nichts kann ich dagegen tun.“

Im Traum war es leicht gewesen, mit ein paar Schüssen das Mädchen zu retten. In der Realität hätte sie dem Mädchen kaum helfen könnten, wusste Matilda. Auch die Rettungsmannschaften im Mittelmeer hatten nicht nur Erfolge aufzuweisen. Trotzdem beneidete Matilda sie in diesem Augenblick um ihren wichtigen Auftrag. Sie selbst hatte noch niemandem das Leben gerettet. Und das würde wohl auch bis an ihr Lebensende so bleiben. An die zahlreichen Menschen, die nach Europa flüchteten, hatte sie zwar immer mit Bedauern gedacht, doch das war auch schon alles.

„Ich hatte ja auch nie Gelegenheit zur tatkräftigen Hilfe“, erklärte sie der Ente. In Hollenheim gab es keine Flüchtlinge.

Ist diese Tatsache nun eine Entschuldigung oder nur eine Ausrede?, fragte Matilda sich selbst. Außer einer Geldspende für die Flüchtlingsarbeit fiel ihr keine reale Hilfe ein. Was ihr in diesem Augenblick fast ein schlechtes Gewissen bescherte.

Ehe sie sich...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-86911-553-X / 386911553X
ISBN-13 978-3-86911-553-5 / 9783869115535
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 620 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Anne Freytag

eBook Download (2023)
dtv (Verlag)
14,99
Band 1: Lebe den Moment

von Elenay Christine van Lind

eBook Download (2023)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
9,49
Ein Provinzkrimi | Endlich ist er wieder da: der Eberhofer Franz mit …

von Rita Falk

eBook Download (2023)
dtv (Verlag)
14,99