Ein einziger Blick (eBook)

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2020 | 1. Auflage
512 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2517-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein einziger Blick - Michelle Richmond
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Abby hat nur einen Moment nicht auf die sechsjährige Emma geachtet. Gerade ist das kleine Mädchen noch fröhlich am Strand entlang gelaufen und jetzt ist sie fort. Spurlos verschwunden und unauffindbar. Für Abby bricht eine Welt zusammen. Eben noch träumte die junge Fotografin von einer glücklichen Zukunft mit Emma und deren Vater Jake, nun muss die Polizei nach wochenlanger Suche das Schlimmste annehmen. Das Gefühl der Schuld ist erdrückend, und dennoch glaubt Abby fest daran, dass das Mädchen noch lebt.

Wieder und wieder lässt sie den Morgen am Strand in ihrer Erinnerung Revue passieren, in der Hoffnung einen Anhaltspunkt zu finden. In dieser Zeit steht Abby allein da. Jake, der am Verschwinden seiner kleinen Tochter fast zerbricht, wendet sich zunehmend von ihr ab. Und Emmas Mutter Lisbeth, die die Familie Jahre zuvor verließ, taucht plötzlich wieder auf und tut alles, um Jake zurückzugewinnen. Doch Abby gibt nicht auf und findet eine Spur, die zu der Wahrheit über Emmas Verschwinden führen könnte ...



Michelle Richmond wuchs in Mobile, Alabama, als zweite von drei Schwestern auf. An der University of Miami absolvierte sie den Master of Fine Arts und lehrte anschließend unter anderem an der Universität von San Francisco, am California College of the Arts und an der Universität Notre Dame de Namur. Sie gründete Fiction Attic Press und das San Francisco Journal of Books und ist außerdem als Verlegerin tätig. Michelle Richmond lebt mit ihrem Mann in Paris.

5


DER RAUM IST KLEIN, mit harten Plastikstühlen und einem Betonboden. In der Ecke befindet sich ein Mosaiktischchen neben einer hübschen Stehlampe, vielleicht von einer Sekretärin oder einer aufmerksamen Gattin dort platziert, um dem Raum eine persönliche Note zu verleihen. Unter dem Schirm flattert eine Motte immer wieder mit einem leisen Klappern gegen die Glühbirne. Eine große Metalluhr tickt die Sekunden herunter. Jake ist in einem anderen Zimmer, hinter einer verschlossenen Tür, an einen Apparat geschnallt. Der Mann, der den Lügendetektor bedient, stellt ihm Fragen, überwacht seinen Herzschlag, lauert auf Anzeichen eines geheimen Motivs, einer sorgfältig verborgenen Lüge.

»Als Erstes müssen wir die Familie ausschließen«, verkündete Detective Sherburne gestern Abend. »In neun von zehn Fällen war es die Mutter oder der Vater, oder es waren beide zusammen.« Er ließ meine Augen nicht aus dem Blick, als er das sagte, er wartete auf ein Zucken. Ich zuckte nicht.

»Ich bin nicht die Mutter«, erwiderte ich. »Nicht einmal die Stiefmutter. Noch nicht. Die Mutter hat sich vor drei Jahren aus dem Staub gemacht. Suchen Sie nach ihr?«

»Wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht.«

Die Uhr tickt, der Kreis dehnt sich aus, und ich warte, bis ich dran bin.

Polizisten stehen einzeln oder zu zweit auf der Wache herum. Sie schlürfen Kaffee aus Styroporbechern, treten von einem Fuß auf den anderen, reden leise, reißen Witze. Einer steht da mit der Hand an der Waffe, die Finger sanft um das Metall gelegt, als wäre die Pistole eine Verlängerung seines eigenen Körpers. Jake kam gestern so schnell er konnte aus Eureka zurückgerast, wo er übers Wochenende einen Freund besucht hatte. Wir verbrachten die Nacht auf der Wache, füllten Formulare aus, beantworteten Fragen, gingen noch einmal jede Einzelheit durch. Nun ist es acht Uhr morgens. Zweiundzwanzig Stunden sind vergangen. Wer sucht, während ich hier sitze und warte?

Es ist kein Geheimnis, dass es umso schwieriger wird, ein Kind zu finden, je länger es vermisst wird. Die Gefahr steigert sich sekündlich. Die Zeit ist der beste Freund des Kidnappers, der mächtigste Feind der Angehörigen. Mit jeder Minute, die verstreicht, entfernt sich der Entführer weiter in eine nicht erkennbare Richtung, und das zu durchsuchende Gebiet, der Durchmesser der Möglichkeiten wächst.

Gestern Nachmittag traf Sherburne innerhalb von zehn Minuten nach dem ersten Streifenwagen am Beach Chalet ein und übernahm sofort das Kommando. Jetzt arbeitet er an seinem Schreibtisch, in ein blassblaues Hemd und eine seltsame, schimmernde Krawatte gekleidet, sicherlich ein Geschenk, zu dessen Tragen er sich verpflichtet fühlt. Ich stelle ihn mir zu Hause vor, wie er sich inmitten des häuslichen Chaos fertig für die Arbeit macht. Ich stelle mir eine glückliche Ehefrau vor, ein paar sehr saubere Kinder. Seine Anwesenheit hat etwas Tröstliches. Er erinnert mich an Frank Sinatra, mit seiner breiten Stirn und dem tadellosen Haarschnitt, den schrägen blauen Augen. Er bewegt sich mit einer altmodischen Anmut.

Ich mache ihn auf mich aufmerksam. Er hält eine Hand mit gespreizten Fingern hoch und formt mit dem Mund die Worte »fünf Minuten«. Dann hebt er seinen Kaffeebecher hoch, führt ihn an den Mund, trinkt einen Schluck und setzt ihn wieder ab. Sechs weitere Sekunden sind vergangen. Nehmen wir an, Emma sitzt in einem Auto, das 100 Stundenkilometer fährt. In sechs Sekunden legt ein Auto bei dieser Geschwindigkeit gut 166 Meter zurück. Jetzt setzt man diese Zahl ins Quadrat und multipliziert sie mit Pi. In der Zeit, die dieser eine Schluck Kaffee gedauert hat, hat sich das Durchsuchungsgebiet um knapp 87 000 Quadratmeter vergrößert. Wenn jeder Schluck weitere 87 000 Quadratmeter bedeutet und wenn sich noch 100 weitere Schlucke in einem Becher befinden, wie groß ist dann der Kreis, wenn er ausgetrunken hat, und wie viele Becher müsste er trinken, damit dieser Kreis den ganzen Erdball umschließt?

Ich ziehe alle Möglichkeiten sich bewegender menschlicher Körper in Betracht. Hat der Kidnapper Emma bei der Hand genommen? Hat er sie hochgehoben? Wenn Letzteres: Wie groß ist seine Schrittlänge? Wie viele Meter kann er in einer Minute zurücklegen? Und wie weit ging er zu Fuß? Wie viele Meter waren es bis zu seinem Fahrzeug? Hat sie sich gewehrt, und wenn ja, hat ihn das Zeit gekostet? Versucht er, sie zu besänftigen, wenn sie Hunger hat?

Ich stelle mir einen Transporter vor, der vor einem Gasthof an einer staubigen Landstraße anhält. Im Inneren sitzen eine geheimnisvolle Gestalt und ein Mädchen. Sie frühstücken beide. Vielleicht möchte er, dass sie Vertrauen zu ihm fasst, deshalb bekommt das Mädchen Pancakes mit Schokostückchen und einer ungesunden Portion Ahornsirup darauf, vielleicht sogar noch Kakao dazu. Wäre Emma clever genug, langsam zu essen, um ihre Abreise hinauszuzögern? Lass dir Zeit, denke ich, schicke die Botschaft telepathisch durch die Leere. Kau jeden Bissen sorgfältig, mindestens dreißig Mal. Gut gekaut ist halb verdaut, fällt mir das Sprichwort ein. Während dieser Minuten im Gasthaus bewegen sie sich in keine Richtung; die Uhr steht still, der Kreis bleibt statisch.

Das ist nicht die einzige Möglichkeit. Die Polizei tendiert bereits zur Möglichkeit des Ertrinkens.

Gestern tauchte nicht lange nach dem Eintreffen der Polizei ein Boot der Küstenwache auf. Ich stand am Strand, beantwortete Fragen und beobachtete, wie das Boot durch das eiskalte Wasser pflügte. Über unseren Köpfen setzte ein orangefarbener Hubschrauber von Norden her zur Landung an. Seine Nase kippte in Richtung Meer, und das laute Klatschen der Rotorblätter erinnerte mich an Filme über Vietnam. Der Ozean schimmerte schwarzblau unter einem noch dunkleren Himmel, und der Wind hatte aufgefrischt und den Nebel nach Osten gedrückt. Als mir der Sand auf Gesicht und Hals prasselte, dachte ich besorgt an Emmas dünnen Pulli. Er war nicht warm genug für so einen Wind. Ich hoffte, sie hatte Socken angezogen, konnte mich aber nicht erinnern.

Irgendwann tauchte Jake wie aus dem Nichts auf. Blaulicht blitzte über den dunklen Strand. Der rauchige Geruch eines Lagerfeuers wehte herüber. Einige Surfer kamen aus dem Wasser, die Körper in den schwarzen Neoprenanzügen schlüpfrig wie die von Seehunden. Die Polizei befragte einen nach dem anderen.

Schließlich kam ein Mann von der Küstenwache auf uns zu. Seine Uniform war ordentlich gebügelt, obwohl er sicher schon den ganzen Tag im Einsatz war. »Im Dunkeln können wir nicht viel tun«, sagte er. »Wir machen morgen in aller Frühe weiter.«

»Wenn sie da draußen ist«, fragte Jake, »wie hoch stehen die Chancen, dass Sie sie finden?«

Der Mann von der Küstenwache sah zu Boden und bohrte seine Schuhspitze in den Sand. »Schwer zu sagen, hängt von den Gezeiten ab. Manchmal wird ein Körper nach dem Ertrinken an Land gespült, manchmal nicht.«

»Emma hat schreckliche Angst vor Wasser«, sagte ich und sah Jake nach Bestätigung heischend an. »Sie wäre niemals auch nur in die Nähe gegangen.«

Sherburne wandte sich mir zu. Die Seiten seines Notizblocks flatterten im Wind.

Ich erklärte, wie ich Emma erst kürzlich zum Kindergeburtstag eines herrischen Mädchens namens Melissa begleitet hatte. Kreischende Kinder spielten in einem gelb gefliesten Swimmingpool Fangen, während Emma im Schneidersitz auf einem Liegestuhl saß und einen Marienkäfer terrorisierte, der in ihre Limo gefallen war. »Sie weigerte sich strikt, zu den anderen ins Becken zu gehen.« Ich sah Emma in ihrem blauen Badeanzug vor mir, so deutlich wie auf einem Foto. Hin und wieder schielte sie zum glitzernden Pool hinüber und bewegte dabei den Fuß um wenige Zentimeter, als raffte sie all ihren Mut zusammen, aber sie wagte es nicht. Auf dem Heimweg im Auto fragte ich sie, ob sie Spaß gehabt hätte, doch sie stellte nur ihre schmalen Füßchen auf das Handschuhfach und erklärte: »Ich mag Melissa nicht.«

Sherburne sah mich mitleidig an, als wollte er sagen, dass dies keineswegs ein Beweis sei. Aber an der Art, wie er den Kopf senkte und eine Hand auf Jakes Schulter legte, merkte ich, dass er mir glauben wollte.

»Sie ist ein wirklich kluges Kind.« Ich versuchte verzweifelt, es ihm begreiflich zu machen. »Wenn ich auch nur eine Sekunde damit gerechnet hätte, dass sie in die Nähe des Wassers geht, hätte ich doch niemals ihre Hand losgelassen.«

Da wandte sich Jake von mir ab und dem Meer zu, und mir wurde klar, dass ein winziger Teil von ihm es tatsächlich in Betracht zog; dass sich irgendwo in seinem durch und durch rationalen Verstand diese Vorstellung als minimale, aber deutliche Möglichkeit festsetzte: Emma könnte ertrunken sein.

»Ich habe selbst zwei Kinder«, sagte Sherburne. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«

Jetzt kommt Jake durch eine Tür, er hält den Kopf gesenkt. Ich berühre seine Schulter, als unsere Wege sich kreuzen. Er zuckt zurück, als hätte ihn etwas gestochen, dann sieht er mich an, die Augen rot und geschwollen. Mit sichtbarer Anstrengung hebt er die Hand, umklammert meine Finger und lässt wieder los.

»Wie konntest du nur?«, hatte er als Erstes gefragt. »Mein Gott, Abby, wie konntest du das tun?« Das war am Telefon, Ferngespräch nach Eureka; seine Stimme zitterte, er weinte. Nun kann ich in seiner Miene lesen, dass es ihn Mühe kostet, es nicht wieder zu sagen – es immer und immer zu wiederholen, wie einen wütenden Refrain....

Erscheint lt. Verlag 10.11.2020
Übersetzer Astrid Finke
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte A.J. Finn • Cara Hunter • Caroline Link • Girl on a Train • Gone Girl • Jo Nesbo • Karen Rose • Kind • Paula Hawkins • Psychothriller • Rachel caine • The woman in the window • Tochter • Tod • Vermisst • verschwunden
ISBN-10 3-8412-2517-9 / 3841225179
ISBN-13 978-3-8412-2517-7 / 9783841225177
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