Weiße Finsternis (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8022-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weiße Finsternis -  Florian Wacker
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»Wir waren eins, doch jetzt sind wir drei ...« Zwei Freunde unterwegs im ewigen Eis, mit ihrem Leben aufeinander angewiesen - Roald Amundsen schickt sie, um Nachrichten von der Maud zu übermitteln. Doch was sie eigentlich verbindet, ist der Wettlauf um Liv, die Frau ihrer Herzen, von der sie glauben, dass sie in Tromsø mit ihren beiden Kindern auf sie wartet. »Weiße Finsternis« verwebt hundert Jahre nach Amundsens großer Polarexpedition den historischen Fall der beiden verschollenen Seeleute Peter Tessem und Paul Knutsen mit einer verhängnisvollen Dreiecksbeziehung und der Geschichte einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus war, zu einem packenden literarischen Abenteuerroman. Vorab ausgezeichnet mit dem Robert Gernhardt Literaturpreis

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Buchveröffentlichungen: Albuquerque (2014), Dahlenberger (2015) und Stromland (2018). Für das Manuskript seines Romans Weiße Finsternis (2021) wurde er vorab mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2023 veröffentlichte er den Krimi Die Spur der Aale, und im April 2024 erschien sein neuer Roman Zebras im Schnee im Berlin Verlag. Florian Wacker lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code. Mehr unter www.florianwacker.de

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband "Albuquerque" (2014), der Jugendroman "Dahlenberger" (2015) und der Roman "Stromland" (2018). Zuletzt wurde er für das Romanprojekt "Dikson" mit dem Robert-Gernhardt-Preis (2018) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.

73° 30′ N, 80° 32′ O


Der Sommer des Jahres 1920 war einer der wärmsten, an die sich die Bewohner Dudinkas erinnerten. Im Juli und August stiegen die Temperaturen im Mittel auf zwanzig Grad Celsius, und manchmal zeigten die Thermometer beinahe fünfundzwanzig Grad an, eine Hitze, die den Alten zu schaffen machte und die Jungen aus den Häusern ins Freie lockte, hinunter an den Fluss, wo Nacht für Nacht die Lagerfeuer brannten; Kinder tollten im flachen Wasser, warfen sich juchzend in die Wellen, und über dem Ufer tanzten die Mückenschwärme; in den Gärten wuchsen prächtige Kürbisse heran, der Boden spie Kartoffeln und Rüben aus, man kam mit dem Ernten und Verarbeiten kaum nach. Selbst Anfang September herrschten noch ungewöhnlich milde Temperaturen, wenngleich bereits die ersten Winde vom Nordmeer herunterkamen und die Menschen daran erinnerten, in welchen Verhältnissen sie eigentlich lebten in ihrer Stadt am großen Jenissei. Die Sonne wurde zur Zuschauerin, wenn Eis und Schnee sich wieder um die Häuser legten; Wärme war ein Wort, das man nur selten mit zufriedenem Lächeln aussprach, der tiefgefrorene Boden knirschte wie selbstverständlich unter den Sohlen.

Am 5. September 1920 machte die Iney im Hafen von Dudinka fest, ein rostiger Dampfer zwar, aber dennoch der Stolz des Russischen Hydrographischen Dienstes. Die Menschen kamen am Ufer zusammen und wussten nicht recht, was sie von den fremden Leuten halten sollten, die sich als Offizielle der siegreichen Bolschewiken vorstellten, siegreich, obgleich einige gehört haben wollten, dass der Krieg noch in vollem Gange war und dass er sich nun westlich ausdehne, hinüber ins benachbarte Polen. Mit an Bord der Iney war auch Fjodor Anatol Troitski, der schlanke, hoch aufgeschossene stellvertretende Vorsitzende des Komitees der Nordseeroute, der sich auf einer Inspektionstour befand, die ihn noch weiter nördlich bis in die Karasee bringen sollte. Jetzt und hier aber plagte ihn ein böser Schnupfen. Er schnäuzte sich mehrfach, bevor er den schmalen Bohlenweg hinauf vom Hafen nahm. Ein Hund beschnupperte ihn, Kinder glotzten. Er hatte Hunger und hoffte auf etwas Wodka und gebratenen Fisch. Als ihm ein Vertreter der Stadt entgegentrat, in seinem Schlepptau ein feister Pope und mehrere alte Weiber, musste sich Troitski erneut heftig schnäuzen, bevor er ohne Umschweife nach dem Aufenthaltsort des Genossen Nikifor Begitschew fragte. Man habe ihm versichert, ihn hier zu finden, er müsse in einer Angelegenheit von nationaler Bedeutung mit ihm sprechen.

Also brachte man Troitski an den Stadtrand und bis vor eine Hütte am Ufer des Flusses. Da er nach der Anstrengung des Weges nur schwer durch die verstopfte Nase atmen konnte, besah er sich für einen Augenblick den angrenzenden Gemüsegarten und den direkt an die Hütte gesetzten Räucherofen. Schließlich klopfte er. Begitschew war ihm empfohlen worden als jemand, der sich wie kein Zweiter in dieser Gegend auskenne, der bereits oben bei Kap Vilda gewesen sei, so hatte man ihm berichtet, und gute Kontakte zu den hiesigen Nganasanenstämmen pflege. Er sei durch die einsamen Monate in der Tundra zwar etwas wortkarg geworden, stehe aber treu hinter der Sache und sei nicht zuletzt mit einigen Rubeln rasch zu gewinnen.

Begitschew schien ihn erwartet zu haben, hatte Wodka und Gläser bereitgestellt, dazu saure Gurken und Brot, sodass Troitski sich fragte, ob dieser Mann wirklich so eigenbrötlerisch sein konnte – die Gurken in einer Schale, das Brot aufgeschnitten, Salz daneben. Sie gaben einander die Hand, und Troitski stellte sich vor, mit vollem Titel. Begitschew überragte ihn um einen halben Kopf, er war schmal, das Gesicht bartlos und ernst, einer, das war Troitski sofort klar, dem man nichts vormachen konnte; der Händedruck fest, der Blick konzentriert. Begitschew bat ihn, Platz zu nehmen, und goss Wodka in die Gläser. Schweigend tranken sie.

Troitski nickte dem Mann zu. »Sie haben von den Schwierigkeiten der Norweger gehört«, begann er ansatzlos. »Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten hat Kontakt zum norwegischen Außenminister aufgenommen, die Sache ist in den höchsten Kreisen angelangt. Es ist nach all den Wirren und schlechten Nachrichten der letzten Monate ein Zeichen, das wir aussenden wollen, Genosse Begitschew. Ein Zeichen des Wohlwollens und der Hilfsbereitschaft.«

Ein mattes Licht lag über dem Tisch, es roch nach Holzkohle und vergorener Milch. Troitski fragte sich, ob sein Gegenüber wirklich so fest und aufrichtig hinter der großen Sache stand oder ob er hier draußen in der Wildnis möglicherweise ganz anderen Dingen nachhing. Er rief sich in Erinnerung, dass es Nikifor Begitschew gewesen war, der einst Alexander Wassiljewitsch Koltschak vor dem Kältetod gerettet hatte, und dass nun ebendieser Koltschak – Kommandant der Weißen Armee, Rädelsführer, Aufständler – im Februar in einem Eisloch des Angara-Stroms versenkt worden war, was Troitski zwei Dinge verdeutlichte: Erstens konnte man seinem Schicksal nicht entgehen, und zweitens musste man Genosse Begitschew im Auge behalten; ein Mensch, still und einsam, der hier draußen nicht mehr zu fürchten hatte als seinen eigenen Schatten.

»Ich habe davon gehört«, sagte Begitschew. »Ich habe mit den Nganasanen darüber gesprochen. Sie sind sicher, dass beide längst nicht mehr leben.«

»Darauf kommt es nicht an«, sagte Troitski, richtete sich auf und nahm eine Gurke. »Entscheidend ist das Zeichen, das wir aussenden. Die Norweger planen eine Suchexpedition zu Land, und es gibt keinen Besseren als Sie, der diese nach Kräften unterstützen könnte. Wir brauchen Sie, Genosse!«

»Ich habe geahnt, dass Sie kommen und mich fragen werden«, sagte Begitschew und lehnte sich nach vorn.

»Dann nehme ich das als Ihre Zusage«, schob Troitski schnell hinterher. »Man wird Ihnen die entsprechenden Mittel großzügig zur Verfügung stellen. Brauchen Sie etwas, dann werden Sie es bekommen. Und wenn Sie erfolgreich sind, wird das nicht zu Ihrem Nachteil sein. Sie kennen Nikolai Timofeyevskiy, den Stationsleiter in Dikson?«

»Wir sind einander begegnet, ja.«

»Wunderbar. Er wird an Sie telegrafieren. Sorgen Sie für ausreichend Mensch und Material, ihre Nganasanenfreunde sollten unbedingt dabei sein.« Zufrieden und erleichtert darüber, die Angelegenheit so rasch geklärt zu haben, erhob er sich, stolperte, fing sich aber sogleich und lächelte.

Ohne ein weiteres Wort begleitete Begitschew ihn zur Tür, blieb auf der Schwelle stehen, und erst da fiel Fjodor Anatol Troitski auf, dass der Genosse die ganze Zeit über barfuß gewesen war: zwei bleiche Füße, lang und knochig mit Nägeln so dunkel wie bei einem Raubtier.

 

In der Folge dieses Treffens verbrachte Nikifor Begitschew den Herbst und Winter 1920 damit, zwischen Dudinka und Avam, dem Hauptort der örtlichen Nganasanen, hin- und herzureisen, Versprechungen zu machen, kleine Geschenke zu verteilen und auf die Bereitstellung von Schlitten und Rentieren hinzuwirken. Kachdo, das Nganasanenoberhaupt, war misstrauisch; er hatte von den Umwälzungen in Moskau und Sankt Petersburg gehört, wusste, dass es zu einem blutigen Krieg gekommen war, dass es Hungersnöte und Brände gab, und er ließ durchblicken, dass er den Bolschewiken nicht traue. Begitschew aber sprach immer wieder von der Großzügigkeit der Regierung und brachte ihm gegen Ende des Jahres ein offizielles Schreiben aus Moskau. Kachdo, eine schmale Brille auf der Nase, sagte nun endlich seine Hilfe zu, alles sei bereits arrangiert, er werde Konde, seinen Sohn, sowie ausreichend Rentiere und Schlitten mit auf die Reise in den Norden schicken.

Doch die Vorbereitungen dauerten noch das ganze Frühjahr an. Der Nganasanenführer weigerte sich beharrlich, Leute und Material vor April loszuschicken, da das Wetter in dieser Zeit launisch und unbeständig war und tagelange Schneestürme drohten. Begitschew blieb nur, sich zu fügen und die Karten zu studieren. Mit dem jungen Konde machte er Ausfahrten in die Umgebung, um zu jagen und die Schlitten zu testen. Dabei erzählte der ihm einmal von einem Mann namens Tubiaku, der vor drei Wintern an der Pjassina zwei Norwegern begegnet sein wollte, doch als Begitschew ihn fragte, wo er diesen Mann finden könne, zuckte Konde nur mit den Schultern. Keiner wisse, wo Tubiaku sich aufhalte, mit Frau und Kindern habe er sich im letzten Sommer in den Norden aufgemacht und sei nie wieder gesehen worden; ein seltsamer Mensch sei das, er spreche mit den Geistern und habe es nie lange mit anderen ausgehalten. Wahrscheinlich, so Konde, seien auch die Norweger nur Einbildung gewesen.

Nikolai Timofeyevskiy, Leiter der Wetterstation von Dikson, telegrafierte Begitschew, dass seit dem Anbruch des Winters der norwegische Schoner Heimen mit Motorschaden in Dikson vor Anker liege. Kapitän Lars Jakobsen plane nun eine Landmission und sei dankbar für jedwede Unterstützung.

 

Endlich, am 3. Mai 1921, brachen Begitschew, Konde und zwei weitere Nganasanen von Dudinka aus auf. Sie fuhren mit acht Schlitten, bepackt mit Zelten, Schlafsäcken, Winterkleidung, Verpflegung und Waffen, und erreichten einen Monat später die Wetterstation am Nordmeer.

Lars Jakobsen und Alfred Karlsen wären Begitschew beinahe um den Hals gefallen, als er endlich ihre Hütte betrat. Dem jungen Karlsen standen Tränen in den Augen, die er sich mit einer beiläufigen Bewegung fortwischte, während der Kapitän nur dastand und leicht zu zittern schien. Begitschew wusste, was es hieß, einen langen Winter in solch einer kargen Behausung auszuharren. Sie setzten sich an den Tisch, Timofeyevskiy schenkte Wodka aus, und Jakobsen berichtete.

Im letzten Herbst noch hätten...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuergeschichte • Amundsen • Arktis • Arktisreise • Deutsche Gegenwartsliteratur • Dreiecksbeziehung • Emanzipationsgeschichte • Frauenbewegung • Historischer Bezug • Nordpol • Nordpolarmeer • Polarexpedition • Starke Frau • tragische Liebe
ISBN-10 3-8270-8022-3 / 3827080223
ISBN-13 978-3-8270-8022-6 / 9783827080226
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