Die Verlorenen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99807-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Verlorenen -  Stacey Halls
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London 1754: Die junge Bess Bright, die in bitterer Armut, im Schlamm und Dreck des Londoner Hafens aufgewachsen ist, findet sich von einem Moment zum anderen in einem Alptraum wieder. Vor sechs Jahren musste sie ihre gerade zur Welt gekommene Tochter Clara ins Waisenhaus geben, außerstande, sie zu ernähren. Jetzt, da sie Clara endlich zu sich holen kann, sagt man Bess, dass ihre Tochter schon längst abgeholt wurde. Aber von wem? Im Kampf um Clara muss Bess die gesellschaftlichen Schranken ihrer Zeit überwinden ... um durch Stärke und Liebe schließlich zu sich selbst zu finden.

Stacey Halls, geboren 1989, wuchs in Rossendale, Lancashire auf. Neben einem Studium in Journalismus schrieb Halls u.a. für den Guardian, Psychologies und The Independent. Ihr erster Roman war in England das meistverkaufte Debüt 2019 und gewann den Betty Trask Award. Schon jetzt wird Stacey Halls als neue Stimme des authentischen historischen Romans gefeiert. »Die Verlorenen« ist ihr zweiter Roman.

Stacey Halls, geboren 1989, wuchs in Rossendale, Lancashire auf. Neben einem Studium in Journalismus schrieb Halls u.a. für den Guardian, Pschologies und The Indepent. Ihr erster Roman war in England das meistverkaufte Debut 2019 und gewann den Betty Task Award. Schon jetzt wird Staces Halls als neue Stimme des authentischen historischen Romans gefeiert. "Die Verlorenen" ist ihr zweiter Roman

Kapitel zwei


Am nächsten Morgen wurde ich nicht davon geweckt, dass mein Bruder in einen Eimer pinkelte. Sein Bett war leer, und ich beugte mich darüber, um nachzusehen, ob er vielleicht auf den Boden gefallen war, was manchmal vorkam. Doch sein Bett war gemacht, der Boden leer. Er war gar nicht nach Hause gekommen. Ich rollte mich zurück und zuckte zusammen. In meinem Inneren fühlte ich eine tiefe Wunde, mein Fleisch war sicher ganz blau und lila. Im Nebenraum auf den knarzenden Dielen hörte ich Abes Schritte. Draußen herrschte noch Dunkelheit; erst in einigen Stunden würde es hell werden.

Flüssigkeit war über Nacht aus meinen Brüsten ausgetreten, das Nachthemd war nass. Als ob mein Körper weinen würde. Die Hebamme hatte mich darauf vorbereitet und gesagt, es würde bald wieder aufhören. Meine Brüste waren immer das Erste, was anderen Menschen an mir auffiel. Oft auch das Einzige. Die Hebamme hatte mir gesagt, ich solle sie mit Lumpen abbinden, damit die Milch nicht meine Kleidung durchnässte, doch bisher hatte sich nur eine klare, wässrige Flüssigkeit gebildet.

Mir tat alles weh, und die Pumpe im Hof schien unendlich weit entfernt zu sein, doch ich war an der Reihe, Wasser zu holen. Seufzend griff ich nach dem Notdurfteimer. Da hörte ich, wie Ned polternd nach Hause kam. Unsere Zimmer in der Nummer 3 des Black and White Court lagen im obersten Geschoss eines dreistöckigen Gebäudes, und von hier aus konnten wir in den düsteren, gepflasterten Hof hinunterschauen. Hier war ich zur Welt gekommen, hier hatte ich meine ganzen achtzehn Lebensjahre verbracht. Auf dem schiefen Boden hatte ich krabbeln und laufen gelernt, unter der Dachschräge, die knarzte und seufzte wie ein altes Schiff. Über uns gab es nur noch die Vögel, die im Dach nisteten und auf die Kamine und Kirchturmspitzen schissen, welche in den Himmel aufragten. Unsere Mutter hatte die ersten acht Jahre meines Lebens auch hier gewohnt, bevor sie uns verließ. Ich hatte geweint, als Abe das Fenster öffnete, um ihre Seele hinauszulassen. Ich wollte, dass sie blieb, und rannte hinüber, um zu sehen, wie sie in den Himmel aufstieg. Mittlerweile glaubte ich nicht mehr an so etwas. Man holte ihre Leiche ab, und Abe verkaufte ihre Sachen. Er behielt nur ihr Nachthemd, das er mir gab, damit ich es nachts im Arm halten konnte. Irgendwann roch es nicht mehr nach ihr – nach ihrem dichten, dunklen Haar und der milchigen Haut. Ich vermisste sie nicht, denn es war schon zu lange her. Ich hatte erwartet, sie immer weniger zu brauchen, je älter ich wurde, doch als mein Bauch wuchs und die Geburt schließlich begann, wollte ich ihre Hand halten. Gestern Abend hatte ich die Mädchen beneidet, die mit ihren liebevollen Müttern gekommen waren.

Ned stieß die Tür zu unserem gemeinsamen Zimmer auf, sodass sie gegen die Wand prallte, und stolperte über den Notdurfteimer. Meine Pisse verteilte sich auf den Holzdielen.

»Du blöder Trampel!«, rief ich. »Pass doch auf.«

»Verdammt.« Er bückte sich und hob den Eimer auf, der davongerollt war. In den beiden Zimmern, die Ned, Abe und ich unser Zuhause nannten, gab es keine einzige gerade Wand. Das Dach fiel ab, die Fußböden waren uneben. Ned schwankte nicht, als er den Eimer wieder aufstellte, er war also nicht völlig betrunken. Wenn ich später mit wunden Füßen und schmerzendem Nacken vom Markt zurückkam, würde ich ihn also nicht bleich, stöhnend und nach Erbrochenem stinkend im Bett vorfinden.

Er ließ sich auf sein Bett fallen und begann, seine Jacke auszuziehen. Mein Bruder war drei Jahre älter als ich und hatte blasse Haut, rotes Haar und genug Sommersprossen für uns beide. Das wenige Geld, das er als Straßenkehrer für die feinen Leute verdiente, gab er für Glücksspiel und Gin aus.

»Gehst du heute zur Arbeit?«, fragte ich und wusste die Antwort bereits.

»Gehst du?«, erwiderte er. »Du hast erst gestern ein Kind bekommen. Der alte Mann lässt dich doch heute nicht schuften, oder?«

»Machst du Witze? Glaubst du etwa, ich könnte mich mit einer Kanne Tee ins Bett legen?«

Ich ging nach nebenan. Abe hatte zum Glück bereits Wasser geholt, während ich noch schlief, und setzte gerade den Kessel aufs Feuer. Der Hauptraum war spärlich möbliert, aber heimelig. Abes schmale Liege stand an einer Wand, Mutters Schaukelstuhl vor dem Feuer. Gegenüber gab es einen weiteren Sessel sowie zwei Hocker. Unsere Töpfe und Schüsseln stapelten sich auf Regalbrettern bei dem kleinen Fenster. Als Kind hatte ich Bilder an der Wand befestigt, Drucke von hübschen Bauernmädchen und Gebäuden, die wir kannten, von St. Paul’s und dem Tower of London. Es gab keine Rahmen dafür, also rollten sich die Kanten nach und nach ein. Mit der Zeit verblassten die Bilder. Ich lebte gern unter dem Dach. Wir wohnten hier ruhig und abgeschieden, weit weg von dem Kreischen der Kinder, die unten im Hof spielten.

Ich holte einen nassen Lumpen und wischte den Boden in unserem Zimmer. Der Geruch war widerlich, doch mir wurde nicht mehr schlecht davon. Während ich Clara in mir getragen hatte, brachten mich alle Gerüche auf dem Markt zum Würgen. Vielleicht war das jetzt vorbei.

Nachdem ich fertig war und den Eimer an die Tür gestellt hatte, um ihn später mit nach unten zu nehmen, gab mir Abe einen Becher Dünnbier. Immer noch im Nachthemd setzte ich mich ihm gegenüber. Wir sprachen nicht über die Ereignisse des gestrigen Tages. Ich wusste, dass wir irgendwann darüber reden würden, doch fürs Erste würden diese Dinge zwischen uns stehen.

»Dann haben Sie das Baby also aufgenommen, Bess?«, ertönte Neds Stimme aus dem Schlafzimmer.

»Nein, ich habe es unters Bett gelegt.«

Nach kurzem Schweigen sagte er: »Und du willst uns nicht erzählen, wer der Vater ist?«

Ich warf einen Blick zu Abe, der in seinen Becher starrte und ihn dann in einem Zug austrank.

Ich begann mein Haar hochzustecken. »Sie ist mein Kind«, antwortete ich.

Ned tauchte in Hemdsärmeln in der Tür auf. »Ich weiß, dass sie deins ist, du dumme Gans.«

»Hey«, sagte Abe zu Ned. »Warum ziehst du dich aus? Gehst du nicht zur Arbeit?«

Ned sah ihn mit einem überlegenen Blick an. »Ich fange heute später an.«

»Die Gäule scheißen heute Morgen also nicht?«

»Doch, aber ich muss vorher noch meinen Besen irgendwo hinschieben. Fällt dir da was ein?«

»Ich ziehe mich an«, verkündete ich.

»Du lässt sie arbeiten? Nach dem, was gestern passiert ist?«, fuhr Ned fort. »Bist du ihr Vater oder ihr Herr?«

»Sie scheut sich nicht vor der Arbeit, im Gegensatz zu anderen, die unter diesem Dach leben.«

»Du bist ein verdammter Sklaventreiber. Lass das Mädchen eine Woche ausruhen.«

»Halt die Klappe, Ned«, schimpfte ich.

Dann wusch ich unsere Becher im Wasser über dem Feuer, stellte sie auf das Regal und drängte mich mit einer Kerze in der Hand an meinem Bruder vorbei, um mich anzuziehen. Ned fluchte und trat gegen sein Bett, dann setzte er sich mit dem Rücken zu mir darauf. Ich wusste, dass er nicht hier sein würde, wenn wir am Abend wieder nach Hause kämen.

»Leg dich schlafen und hör auf, ihn zu nerven«, sagte ich. Kurz stand ich nackt da, zog mein Unterhemd an und stöhnte auf.

»Hörst du dir eigentlich selber zu? Du solltest im Bett bleiben.«

»Das kann ich nicht. Ich habe gestern schon nicht gearbeitet.«

»Weil du ein Kind auf die Welt gebracht hast!«

»Das war dir aber gestern noch ziemlich egal, oder? Wo warst du?«

»Als ob ich bei so was zuschauen würde.«

»Ach, sei ruhig. Morgen ist die Miete fällig.« Ich konnte die Verachtung in meiner Stimme nicht unterdrücken. »Oder sollen Abe und ich schon wieder deinen Anteil übernehmen? Es wäre schön, wenn du ab und zu Geld nach Hause bringen würdest. Das hier ist kein Gasthaus.«

Ich blies die Kerze aus und stellte sie auf die Kommode. Abe hatte seinen alten Mantel schon zugeknöpft und wartete an der Tür auf mich.

Ned rief mir gehässig nach: »Und du bist nicht die Jungfrau Maria. Tu nicht so überheblich, du kleine Hure.«

Abe hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und sah mich mit seinen hellen Augen an. Wortlos reichte er mir meine Haube und scheuchte mich in den kalten, nackten Flur, der nach Pisse und dem Gin der letzten Nacht roch. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss.

***

Auf zum Fluss also. Jeden Morgen, wenn die Uhr von St. Martin’s halb fünf anzeigte, hatten Abe und ich den Black and White Court bereits hinter uns gelassen. Wir gingen an den hohen Mauern des Fleet-Gefängnisses zu unserer Rechten vorbei über den Bell Savage Yard Richtung Süden zur Straße durch Ludgate Hill. Hier bogen wir ab und liefen weiter nach Osten, Richtung der milchigweißen Kuppel von St. Paul’s. Die Straße war breit und trotz der frühen Stunde sehr belebt. Wir kamen an Straßenkehrern und Lieferkarren vorbei, an verschlafenen Frauen, die vor den Bäckereien mit ihren Brotlaiben anstanden, um sie dort zu backen. Boten rannten mit Nachrichten zwischen dem Fluss und den Kaffeehäusern hin und her. Je näher wir der London Bridge kamen, desto dichter wurde der Verkehr, und die Masten an den Anlegeplätzen wippten und schwankten hinter den Hütten, die sich am Flussufer drängten. Gähnende Männer steuerten auf die Kais und Piere zu, träumten noch immer von ihren Betten und den warmen Frauen, die sie darin zurückgelassen hatten. Trotz der Finsternis – hier und dort brannten Öllampen über den Hauseingängen, doch im Novembernebel waren sie nur bleiche kleine Sonnen hinter dichten Wolken – fanden Abe und ich den Weg mühelos. Wir hätten ihn auch blind gefunden.

Wir kamen am Haus der Schlachter vorbei und gingen weiter auf den glitzernden Fluss zu, auf dem sich...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Übersetzer Sabine Thiele
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Feminismus • Hilary Mantel • historischer Frauenroman • London • Mutterschaft • Sunday Times Bestseller • Waisenhaus
ISBN-10 3-492-99807-0 / 3492998070
ISBN-13 978-3-492-99807-9 / 9783492998079
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