Die Architektin von New York (eBook)
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99885-7 (ISBN)
Petra Hucke wurde 1978 in Düsseldorf geboren. Nach Stationen im Westen, Osten und Norden Deutschlands lebt sie nun mit ihrem Mann und einem Kopf voller Ideen in München. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, verschlingt isländische Romane im Original und lektoriert außergewöhnliche deutsche Belletristik und Sachbücher. Im Rahmen eines beruflichen Praktikums hat sie ein halbes Jahr in Upstate New York verbracht. Für ein Romanprojekt gewann sie 2013 das Münchner Literaturstipendium. Im Selbstverlag hat sie 2019 die Moorschwestern und Solch ein zephyrleichtes Leben veröffentlicht.
Petra Hucke wurde 1978 in Düsseldorf geboren. Nach Stationen im Westen, Osten und Norden Deutschlands lebt sie nun mit ihrem Mann und einem Kopf voller Ideen in München. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, verschlingt isländische Romane im Original und lektoriert außergewöhnliche deutsche Belletristik und Sachbücher. Im Rahmen eines beruflichen Praktikums hat sie ein halbes Jahr in Upstate New York verbracht. Für ein Romanprojekt gewann sie 2013 das Münchner Literaturstipendium. Im Selbstverlag hat sie 2019 die Moorschwestern und Solch ein zephyrleichtes Leben veröffentlicht.
1
Manhattan, New York,
Januar 1865
Washingtons raue Hand war das Einzige, was Emily warm hielt. Nach den vielen Stunden in der Kutsche war sie ausgekühlt, und die Knochen schmerzten von der unbequemen Sitzposition. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, gerade im Januar nach Long Island zu fahren, aber ihre Cousine Fanny war seit der Geburt ihres zweiten Kindes krank, und alle befürchteten das Schlimmste. In ihrer Kindheit hatten die beiden Mädchen ganze Sommer miteinander verbracht, und nun wollte sie sie unbedingt noch einmal sehen.
Erst vor einer Woche hatte Emily in ihrem Geburtsort Cold Spring mit Washington Augustus Roebling Hochzeit gefeiert. Es war ein schönes Fest gewesen: Washingtons Schwester hatte in der kleinen Backsteinkirche die Orgel gespielt, und den aufrichtigen Blick ihres Mannes, als er ihr ewige Liebe geschworen hatte, würde sie niemals vergessen.
Aber jetzt, allein mit ihm in der Kutsche, musste sie ein Lachen unterdrücken – denn ihrem eigentlich so attraktiven Mann stand im Schlaf der Mund offen. Wenn Emily seit ihrer Hochzeit eines erfahren hatte, dann, dass Wash überall schlafen konnte, selbst auf einer holprigen Landstraße. Das hatte er im Krieg gelernt. Schon nach einigen Meilen Fahrt hatte er ihre Hand genommen und war zufrieden eingeschlafen, so tief, dass sein Kopf hin und her schwankte und seine dunkelblonden Haare durch die Reibung am Stoff in alle Richtungen abstanden.
Dabei gab es draußen inzwischen so viel zu sehen! Längst hatten sie die endlosen, braunen Felder und die tiefschwarzen Baumskelette vor grauem Himmel hinter sich gelassen und die aufgescheuchten Krähen, die empört den klappernden Pferdehufen hinterherriefen. Nur der Hudson River begleitete sie treu auf der rechten Seite.
Mittlerweile hatten sie New York City erreicht, die größte Stadt Amerikas. Wenn man an einem trüben Tag wie heute den Kopf in den Nacken legte, hatte man den Eindruck, als würden die mehrstöckigen Gebäude bis in die Wolken reichen. An sonnigen Tagen hingegen grüßte einen dort oben ein knallblauer Himmel, der zu spotten schien: Und wenn ihr euch noch so anstrengt, mich werdet ihr nie erreichen.
Doch es gab immer wieder ehrgeizige Ingenieure und Architekten, die diese Herausforderung nur allzu gern annahmen. Die Insel Manhattan war klein, und mehr und mehr Menschen wollten hier leben. Ein stetiger Strom von Einwanderern kam aus Europa, ein Schiff nach dem anderen erreichte den New Yorker Hafen, in die Breite ging es nicht, also mussten sie in die Höhe bauen.
Ihr Wagen war im immer dichteren Verkehr langsamer geworden, und der arme Kutscher draußen auf dem Bock musste sich durch all die Karren und Karossen kämpfen. Emily beugte sich vor, um mehr zu sehen, ließ aber Washingtons Hand nicht los. Die Menschen hatten sich in lange, dicke Wollmäntel gehüllt, in die sich der Schmutz der Straßen eingeschrieben hatte, und eilten die Gehwege entlang, sprangen mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die Straßen und wichen den Fuhrwerken aus. Sie selbst käme bestimmt sofort unter die Räder, dachte Emily, schließlich war sie in der Provinz aufgewachsen. Es war schon über drei Jahre her, dass sie auf dem Weg zu Fanny und ihrem ersten Neugeborenen ein paar Tage in New York verbracht hatte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester.
Sie beschloss, Washington nun doch aufzuwecken. Er verpasste einfach zu viel. Noch einmal betrachtete sie ihn, die langen Wimpern, die drei Sommersprossen auf der Nase, die ihm auch im tiefsten Winter blieben, und seinen gepflegten Schnurrbart, der sie kitzelte, wenn er ihr etwas ins Ohr flüsterte oder sie küsste. Nichts war schöner, als von ihm geküsst zu werden. Überall. Ein wohliger Schauer durchlief sie.
Dann hob sie den Fuß und trat ihrem geliebten Ehemann vor das Schienbein.
Erschrocken fuhr er auf. »Sind wir schon da?«
Emily lachte auf und streichelte ihm über die glatt rasierte Wange. »Noch nicht, aber bald.«
»Ah, Manhattan«, sagte Washington mit einem Blick aus dem Fenster. Er beugte sich vor, um sich das Bein zu reiben, und sah sie vorwurfsvoll an. »Mrs Roebling, du bist die brutalste Frau, der ich jemals begegnet bin.«
»Tut mir leid. Das liegt nur daran, dass ich meine Füße nicht mehr spüre. Da fehlt mir das nötige Feingefühl.«
Er grinste. »Ein blauer Fleck wird mich schon nicht umbringen.«
Sag mir doch, liebe Emmie, hatte er ihr einmal aus dem Krieg geschrieben, was Liebe ist? Sich zu küssen, sich zu kitzeln, sich zu umarmen? Sind es Liebesbriefchen, oder wenn man sich gegenseitig unterm Tisch vor die Schienbeine tritt? Ich glaube, das muss es sein – die Schienbeine.
Er streckte sich und stopfte ihr die dicke Pelzdecke wieder um die kalten Füße. Die Wärmflaschen waren schon längst ausgekühlt. In diesem Moment ruckelte die Kutsche, und Wash musste sich festhalten. Die Pferde beschleunigten ihre Schritte.
»Schau, wir fahren einen Umweg über den Broadway. Hier ist es weniger eng.«
Emily kuschelte sich unter seinen Arm, und sie sahen gemeinsam nach draußen. So nah am Fenster spürte sie einen Luftzug und schnupperte.
»Pferdeäpfel«, sagte Wash.
»Kohle und Ruß«, ergänzte sie.
»Gekochte Kartoffeln.«
»Fleisch oder Wurst.«
»Abfall.«
»Achselschweiß.«
»Sauerkraut.«
»Die Atemluft von neunzigtausend Menschen.«
Die Stadt war immer wieder imposant, und mit Wash war solch ein Ausflug ohnehin etwas ganz Besonderes. Er sah Städte anders als die meisten Menschen, und ihr gefiel dieser Blick, der bis hinter die Fassaden drang.
Normalerweise schlenderten nachmittags viele junge Frauen über den Broadway und landeten letztendlich bei Tiffany’s. Sie gingen ins Theater und in die Oper und tranken Champagner – oder sie trafen sich im neuen Central Park, um auf dem gefrorenen See Schlittschuh zu laufen. Emily erinnerte sich, wie wunderbar es gewesen war, Hand in Hand mit ihrer Schwester auf dem eisigen Weiß dahinzugleiten, sodass die Schneekristalle knirschten und aufstoben. Bis es dunkel wurde und so kalt, dass nur noch eine dampfende Tasse heißer Schokolade am Rande der Eisbahn sie wieder aufwärmen konnte.
Derzeit allerdings war alles anders, und Emily meinte von der Sicherheit der Kutsche aus die Unruhe in den Gesichtern der Menschen lesen zu können. Der Sezessionskrieg war noch immer nicht entschieden, und die Menschen konnten ihre Freiheit nicht genießen, ja, schämten sich fast dafür. Während im Süden geschossen und getötet wurde, eilten sie hier weiter zur Arbeit und zum Einkaufen, doch sie taten es mit ernsten Mienen und dem Gedanken daran, dass sie sich erst vor zwei Jahren Lincolns Einberufung widersetzt und die Stadt mit Krawallen ins Chaos gestürzt hatten.
»Der Marble Palace«, murmelte Washington, »siehst du?«
Die Kutsche hielt an einer Straßenecke, und Emily konnte das helle Gebäude in Ruhe betrachten.
»Warst du schon mal drin?«, fragte sie.
»Nein. Aber angeblich gibt es dort wirklich alles.«
»Ein Kaufhaus …« Sie sprach das seltsame Wort langsam aus.
»Kurzwaren aller Art, fertig geschneiderte Kleidung, Kosmetik. Alles zu festen Preisen.«
»Und ist es wirklich aus Marmor?«
»Tuckahoe-Marmor aus Upstate. Siehst du die großen Fenster?«
»Ja.« Leider war die Weihnachtszeit schon vorbei, aber sie hatte gelesen, wie wunderschön die Schaufenster dann immer geschmückt waren, voller Lichter und winterlich dekorierter Waren. Vielleicht würde sie es sich nächstes Jahr ansehen können, wenn sie auf dem Weg zu einem vorweihnachtlichen Besuch in Cold Spring hier wieder vorbeikämen. Bis dahin würden sie in Cincinnati leben, wo Washington einen Auftrag für seinen Vater ausführen sollte. Sie war gespannt – so weit im Westen war sie noch nie gewesen.
Die Kutsche fuhr weiter, und Washington entdeckte schon das nächste interessante Gebäude.
»Was ist denn jetzt mit den Fenstern vom Marble Palace?«, hakte Emily nach. Wash öffnete den Mund, um ihr zu antworten, aber sie kam ihm zuvor. »Warte, ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst. Die Fenster sind so groß, dass die Struktur dahinter sehr stark sein muss. Das Gebäude selbst kann also nicht aus Marmor sein.«
»Sondern?«
»Gusseisen?«, fragte sie nach einem kurzen Moment.
»Genauso ist es. Der Stein ist nur Fassade. Schau, siehst du die Baustelle da vorn?«
Emily reckte den Kopf. »Man erkennt nicht viel.«
»Noch nicht. Aber warte mal ein paar Monate. Das Haus soll ganze hundertdreißig Fuß hoch werden und einen Personenaufzug bekommen. Für eine Versicherungsgesellschaft.«
»Da sind die Wolken wirklich nicht mehr fern«, murmelte Emily.
Sie erreichten den Fähranleger an der Fulton Street, die drüben in Brooklyn unter demselben Namen weitergeführt wurde.
»Willst du in der Kutsche bleiben?«, fragte Wash, aber das Blitzen in seinen Augen zeigte ihr, dass er die Antwort schon kannte. Natürlich wollte Emily nicht sitzen bleiben. Sie wollte alles sehen, auch wenn die Überfahrt nur zehn Minuten dauern würde.
Steifgefroren kletterten sie aus der Kutsche. Trotz ihrer einundzwanzig Jahre fühlte Emily sich in diesem Moment wie eine achtzigjährige Urgroßmutter. Bald standen sie mitten in der Menschenmenge. Wash hielt ihre Hand, damit sie sich nicht verloren, und ließ sie nur kurz los, um ihr die Pelzmütze tiefer über die Ohren zu ziehen. Nach den langen Stunden allein in der Kutsche war es fast überwältigend, all diese fremden Gesichter um sich herum zu sehen, aus denen Atemwolken in die salzige Luft stiegen.
Sie hörte singendes Irisch und hartes Deutsch, das sie zwar nicht verstand, aber...
Erscheint lt. Verlag | 31.5.2021 |
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Reihe/Serie | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Architektin • Bedeutende Frauen • Brooklyn Bridge • Buch • Bücher • Die Ingenieurin von Brooklyn • Emily Warren Roebling • Erbauerin Brooklyn Bridge • Frau Brooklyn Bridge • Frauenschicksal • Gefühle • Historischer Roman • Ingenieurin • Liebe • mutige Frauen • Roman Architektin • Roman Architektur • Romanbiografie • Roman Brooklyn Bridge • Roman Frauen • roman new york • Starke Frauen • Starke Frauen Roman |
ISBN-10 | 3-492-99885-2 / 3492998852 |
ISBN-13 | 978-3-492-99885-7 / 9783492998857 |
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