Zwischen Du und Ich (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43855-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen Du und Ich -  Mirna Funk
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Von der Gewalt der Vergangenheit und der Liebe der Gegenwart Wenn Nike ihre Wohnung in Berlin-Mitte verlässt, muss sie am Stolperstein ihrer Urgroßmutter vorbei. Nike ist als Jüdin in Ostberlin aufgewachsen, jede Straße trägt Erinnerung, auch schmerzhafte. Als sie ein Jobangebot in Tel Aviv bekommt, nimmt sie an. Dort trifft sie Noam, er ist Journalist, seine Geschichte ist tief und komplex. Nike lässt ihn in ihr Leben, als ersten Mann seit Jahren. Doch zwischen ihr und Noam steht Noams Onkel Asher. Der ist vereinnahmend und brutal und setzt alles daran, dass Nike aus Noams Leben verschwindet. Furchtlos und berührend erzählt Mirna Funk von der Gewalt, die in Nikes und Noams Familiengeschichten steckt. Wie leben sie mit ihren individuellen Bruchstellen? Und wie können sie einander lieben?

Mirna Funk, geboren 1981 in Ostberlin, studierte Philosophie und arbeitet heute als Autorin sowie freie Journalistin u.a. fu?r >FAZ<, >SZ< und >Die Zeit<. Seit 2021 erscheint ihre monatliche Sex-Kolumne in der >Cosmopolitan< und seit 2018 schreibt sie u?ber ju?disches Leben bei >Vogue online<. Ihr Debüt wurde mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet, das Sachbuch »Who Cares« wurde ein sofortiger Bestseller. 

Mirna Funk, geboren 1981 in Ostberlin, studierte Philosophie und arbeitet heute als Autorin sowie freie Journalistin u.a. für ›FAZ‹, ›SZ‹ und ›Die Zeit‹. Seit 2021 erscheint ihre monatliche Sex-Kolumne in der ›Cosmopolitan‹ und seit 2018 schreibt sie über jüdisches Leben bei ›Vogue online‹. Ihr Debüt wurde mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet, das Sachbuch »Who Cares« wurde ein sofortiger Bestseller. 

NOAM


8


Noam schlängelte sich vorsichtig an den anderen Gästen vorbei, um den letzten freien Tisch zu ergattern. Es war sechzehn Uhr und das Sheleg voll.

Er setzte sich leise auf den beigen Rattanstuhl und kramte im türkisfarbenen Stoffbeutel, den er immer bei sich trug. Während er nervös seinen alten Toshiba-Rechner herauszog, stieß er mit dem Ellenbogen gegen den nackten, mit Sommersprossen bedeckten Oberschenkel einer Frau vom Nachbartisch. Sofort bildeten sich Schweißperlen auf seinen Schläfen. Hitze stieg ihm ins Gehirn und verursachte einen stechenden Schmerz im Kopf. Er entschuldigte sich viermal hintereinander, klappte den Rechner auf und atmete erleichtert aus.

Auf dem Display erschien ein vollgeschriebenes Word-Dokument. Noam markierte die drei Seiten Text, indem er den Cursor umständlich von oben nach unten bewegte, und löschte alles. Dann speicherte er das leere Dokument unter einem neuen Titel ab: »רקיה יביב«. »Lieber Bibi«.

Auf der Ben Yehuda Street, die zwanzig Meter vom Sheleg entfernt eine Kreuzung mit der Geula Street bildete, war der Wochenendverkehr in vollem Gange. Es war Donnerstag, und das Hupen der Autos klang energisch und hoffnungsvoll zugleich. Die Fahrer glaubten offensichtlich fest daran, etwas an ihrer Situation verändern zu können. Als hätten sie den letzten Donnerstag schon vergessen, an dem alles identisch abgelaufen war und sich ihr Wunsch nach Einfluss auch nicht erfüllt hatte.

Die Kellnerin stellte einen Espresso und einen Aschenbecher auf den Tisch. Noam blickte überrascht vom Display auf und erkannte Tamar.

»Lange nicht gesehen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Du weißt immer noch, was ich nehme«, antwortete Noam.

»Wie kann man das vergessen? So kompliziert sind deine Bestellungen ja nicht.«

»Espresso.«

»Genau. Und ein Aschenbecher.«

»Wie geht es deiner Großmutter?«, fragte er leise, damit ihn niemand außer Tamar hören konnte.

Tamar stockte, kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf.

»Ich kann mir auch Sachen merken«, erwiderte Noam.

»Offensichtlich nicht meine Telefonnummer.«

»Ich war die letzten Monate komisch drauf und wollte dich damit nicht belästigen. Du hattest ja schon genug zu tun mit deiner Großmutter.«

»Fünf Monate lang komisch drauf?«, fragte Tamar und verdrehte die Augen.

»Lange Geschichte. Ich erzähle sie dir irgendwann mal.«

»In fünf Monaten?«

»In sechs«, lachte er, und Tamars Nasenflügel weiteten sich.

»Das ist ja bald.«

»Ich wollte einfach nur nett sein. Bestimmt ist das anders rübergekommen. Tut mir leid«, sagte Noam, »wirklich.«

»Entschuldigung angenommen«, sagte Tamar und strich Noam über die dicken schwarzen Haare, die weder ergraut noch ausgefallen waren, anders als bei den meisten israelischen Männern über vierzig.

Viele behaupteten, ihr großflächiger Haarausfall hänge mit dem Stress der Armee und der Reserve zusammen, einige sagten, es seien die dominanten Ehefrauen, und andere glaubten, es liege an den Östrogenen im Humus. Was auch immer es war, Noam war unbeschadet davongekommen und konnte sich damit ein nicht unbedeutendes Alleinstellungsmerkmal sichern.

»So, ich mach mal weiter«, sagte Tamar und drehte sich um, ohne auf Noams Reaktion zu warten.

Er schaute ihr aufmerksam hinterher. Sein Blick wanderte von ihren Waden aufwärts bis zum Po und blieb dort haften. Dann ertappte er sich bei dieser für ihn schwer chauvinistischen Handlung und schämte sich sofort. Er schüttelte erst den Kopf und anschließend den ganzen Oberkörper. Die Frau am Nebentisch fragte ihn, ob alles okay sei. »Ja, ja«, entgegnete er, »nur eine Windböe vom Meer.«

Noam hob leicht seinen Hintern vom Stuhl und zog den Tabak aus der Hosentasche. Blättchen und Filter, die lose in der Tabakpackung lagen, befreite er von Krümeln und braunen, kleinen Fäden. Er pustete alles sauber, platzierte akribisch erst das Blättchen und danach den Filter auf dem Tisch und rollte sich seine siebzehnte Zigarette des Tages.

Er steckte sie in den Mund, zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und drückte anschließend den Rauch durch die Nasenlöcher. Mit den Zähnen riss er eine Packung braunen Zucker auf und schüttete ihn vollständig in seinen
Espresso.

Noam lehnte sich zurück, trank den Espresso mit einem Schluck aus und schloss die Augen. »Lieber Bibi«, flüsterte er, und noch einmal: »Lieber Bibi«.

Die Idee für seine neue Kolumne war ihm auf dem Weg zum Sheleg gekommen. Er war wie jeden Tag mit dem Bus von Bat Yam nach Tel Aviv gefahren, hatte sich in die letzte Reihe gesetzt, wie er es auch immer als Junge getan hatte, und die Stirn ans Fenster gelegt. Die ersten Tropfen Regen des Jahres waren gegen die Scheibe gefallen, und Noam hatte sich so gefühlt, als spiele er in einem Neunzigerjahre-Popmusikvideo mit. Er hatte erst traurig und dann mit verliebter Miene aus dem Fenster geschaut. Plötzlich war ihm die Idee gekommen. Einfach so. Wie Ideen eben blitzartig ins Gehirn schießen. Und sofort hatte er sie für genial befunden und entschieden, den anderen Text zu löschen.

Bis Dienstag würde er Zeit haben, am neuen Stück zu schreiben. Seit fünf Jahren lieferte er für die Wochenendausgabe der bekannten linken Tageszeitung eine Kolumne zur politischen Lage Israels. Alle Leser liebten sie. Aber noch mehr als die Leser liebte Noam selbst seine Texte.

Die Sonne ging am Ende der Geula langsam unter, es sah aus, als würde sie ins Meer tauchen. Der Himmel verfärbte sich lila. Die Temperatur sank. Es war Anfang Oktober. Am Tag wurde es noch bis zu siebenundzwanzig Grad warm, doch am Abend roch es bereits nach Herbst.

Noam wischte über sein Trackpad, um den Ruhemodus zu beenden. Der Cursor schien im Takt seines Herzschlags zu blinken. Und er begann zu tippen.

Lieber Bibi. Es ist, als hättest du vor vielen Jahren dein Land verlassen, um einen Kampf zu kämpfen, der nicht deiner ist. Jeden Tag warte ich darauf, dass du zurückkehren wirst. Als eine neue Person natürlich. Du hast dich längst selbst verloren, bist ein anderer geworden, hast dein Ich unter einem Stein versteckt, um zu überleben.

Aber eines Tages wirst du einfach vor der Tür stehen. Mit einem langen Bart und vielen Narben an deinem Körper. Du hast Dinge getan und gesehen, die kein Mensch getan und gesehen haben sollte. Du klopfst an die Tür des Hauses, das mal deines war, bevor du in die Wälder gingst und jeder glaubte, du wärst längst tot. Dein bester Freund öffnet die Tür und erstarrt, und man hört eine Frauenstimme aus der Dunkelheit hinter ihm rufen. Die Stimme deiner schönen Frau, die du damals zurücklassen musstest. Sie ruft: »Schatz, wer ist da an der Tür?«, und ein Baby weint aus derselben Richtung, und dann beginnst du zu weinen. Das erste Mal seit einer viel zu langen Zeit.

Noam speicherte den Text ab und klappte den Rechner zu. Er drehte sich eine weitere Zigarette und bestellte bei Gil, dem anderen Kellner des Sheleg, einen weiteren Espresso.

Tamar kassierte gerade ihre Kunden ab, und Noam rief ihr zu: »Setzt du dich kurz an meinen Tisch, wenn du Schluss machst?«, aber Tamar zuckte nur mit den Schultern und lachte.

Noam drehte sich eine neue Zigarette, während die andere noch im Aschenbecher glühte, kippte den Espresso, den Gil ihm gebracht hatte, sofort runter und fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen, um den Tabakgeschmack mit dem der Kaffeebohnen zu verbinden. Er nahm einen weißen Kapuzenpulli von Fruit of the Loom aus dem Stoffbeutel, in dem sein ganzes Leben steckte, und zog ihn sich über den Kopf.

Er schloss erneut die Augen und formulierte den Text in Gedanken weiter. Nein, eigentlich wiederholte er den Text, den er bereits geschrieben hatte. Immer und immer wieder. Noam spürte, wie ein wenig mehr Blut als nötig in seinen Unterleib gepumpt wurde, und seufzte leise. »Mit einem langen Bart und vielen Narben an deinem Körper. Du hast Dinge getan und gesehen, die kein Mensch getan und gesehen haben sollte«, flüsterte er fünfmal hintereinander und zog im Takt des Textes den Rauch in seine Lunge und stieß ihn aus den Nasenlöchern aus.

Er spürte, wie Tamar sich leise auf den freien Stuhl neben ihm setzte, hielt die Augen weiterhin geschlossen und schob mit den Fingern die gedrehte Zigarette in ihre Richtung. Noam stieß gegen Tamars Hand, krabbelte mit jedem Finger einzeln auf ihren Handrücken und genoss die Wärme, die von ihr ausging. Er legte den Kopf auf ihre rechte Schulter und sagte: »Ich habe dich vermisst!«

»Ich habe dich auch vermisst«, antwortete sie und steckte sich die Zigarette in den Mund.

»Was machen wir heute noch?«, fragte Noam.

»Ich weiß nicht, was du machst, aber ich gehe gleich ins Levontin 7.«

»Warum?«

»Einfach so. Freunde treffen.«

»Willst du nicht mit mir sein?«, wollte Noam wissen.

»Du kannst doch mitkommen!«

»Aber wenn du mit anderen bist, dann bist du nicht mit mir.«

»Na ja. Ob das jetzt so stimmt.«

»Wen triffst du denn?«

»Yoni, Ella, Ari, und ich glaube, Liron wollte auch kommen.«

»Ich würde lieber nur mit dir sein.«

»Aber Noam, ich bin schon verabredet und will nicht absagen.«

»Das verstehe ich. Es sind ja deine Freunde.«

»Genau. Wieso kommst du denn nicht einfach mit?«

»Vielleicht mache ich das ja auch. Gib mir mal ein bisschen Zeit.«

»Du hast alle Zeit, die du willst. Niemand setzt...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland • #2021JLID • 2021JLID • Berlin • bücher 2021 • Ethik • Familienroman • Feminismus • Frauen • Gesellschaftskritik • Gewalt • Holocaust • intergenerationales Trauma • Israel • Jerusalem • Judentum • Jüdische Familiengeschichte • Liebe • Liebesgeschichte • metoo • Missbrauch • Moral • Opfer • Portrait • Porträt • Romane 2021 • Sexismus • Sexualität • Shoah • Tel Aviv
ISBN-10 3-423-43855-X / 342343855X
ISBN-13 978-3-423-43855-1 / 9783423438551
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