Meine Reise zu Beethoven (eBook)

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2020 | 1. Auflage
271 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75766-2 (ISBN)
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«Für mich ist die Beschäftigung mit Beethoven mehr als die Aufgabe, geniale Noten zum Leben zu erwecken (was schon nicht wenig wäre): Sie ist eine Existenzweise, ein Credo. Davon möchte ich in diesem Buch erzählen.» Ludwig van Beethoven hat Christian Thielemann auf seinem musikalischen Lebensweg geprägt wie kaum ein anderer Komponist. In seinem Buch führt der berühmte Dirigent durch das Universum von Beethovens Musik und schildert, warum es ein ganzes Leben braucht, um ihr gerecht zu werden.
Beethoven hat in seiner Musik den ganzen Kosmos der Kunst und des Lebens durchmessen: zarteste Unschuld und wildes Wühlen, frenetischen Jubel und tiefste Trauer. Darin liegt für Christian Thielemann das von Grund auf Menschliche dieser Musik und der Kern ihrer immer neuen Faszination. In diesem Buch erklärt er, was die unübertroffene Größe von Beethovens Symphonien ausmacht, wieso dem Komponisten bei der Oper kein Glück beschieden war und warum die Missa solemnis sein Beethovensches Herzensstück ist. Vom Violinkonzert, das als Krone der Schöpfung gilt, und von den Klavierkonzerten ist die Rede, aber natürlich auch von den Klaviersonaten und Streichquartetten. Christian Thielemann denkt über das ewige Streitthema des «deutschen Klangs» nach, über gutes und schlechtes Pathos und über den Skeptiker Beethoven. Berühmte Beethoven-Interpreten haben ihren Auftritt, und zugleich vermittelt Thielemann, welche ungeheuren Schwierigkeiten sich bei dem Komponisten für jeden Dirigenten stellen. Dies ist das Buch eines Künstlers, der wie wenige andere in Beethovens Werkstatt geschaut hat und den Spuren seines Genies nachgegangen ist.

Christian Thielemann ist einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Generation weltweit. Seit 2012 ist er Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, 2013 übernahm er zudem die Künstlerische Leitung der Osterfestspiele Salzburg. Seit 2015 ist er Musikdirektor der Bayreuther Festspiele. Schon lange verbindet ihn eine regelmäßige Zusammenarbeit mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern.

1

In die Todeszone und immer wieder zurück


Mit Beethoven leben

Beethoven wird mich bis an mein Grab beschäftigen.

Beethoven war mir immer nah, ist mir immer nah. Er ist mir Grundnahrungsmittel wie Bach oder Mozart. Alles, was Beethoven erfunden hat, begegnet uns später wieder. Bei Wagner, bei Brahms, bei Schönberg, bei allen. An Beethoven entscheidet sich alles. Er ist der Orgelpunkt eines jeden Musikerlebens. Mehr als Bach, nein: anders als Bach. Denn Bach wurde in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der historisch informierten Aufführungspraxis gekapert – und aus dieser Haft nie wieder ganz entlassen. So etwas gibt es bei Beethoven nicht. Beethoven gehört allen: den Aufführungspraktikern wie den Romantikern, den Exzentrikern und auch den politischen Exegeten. Das macht ihn modern. Das bringt ihn uns nah.

In meiner Kindheit und Jugend ist mir von allen Seiten vermittelt worden, zu Hause, in der Schule, von meinen Lehrern: Ein guter Musiker ist einer, der Beethoven kann. Beethoven ist die Nagelprobe. Wenn du ein echter Musiker sein willst, hieß es, musst du auf gutem Fuß mit Beethoven stehen. Das habe ich mir nicht zweimal sagen lassen. Wenn man Beethoven sucht, findet man ihn schnell. Ich habe keinen komplizierten Zugang zu Beethoven gehabt.

Was das Orchester betrifft, war Beethoven für mich der Erste. Bei uns zu Hause gab es eine Platte mit der Egmont-Ouvertüre, die war etwas beschädigt und hatte so eine leichte Ausbuchtung. Das weiß ich noch wie heute. Auf der Plattenhülle war die Nike von Samothrake abgebildet, das war für mich zugleich die erste Begegnung mit griechischer Kunst. Ein wunderbares Cover der fünfziger, sechziger Jahre! Die Egmont-Ouvertüre hat mich umgehauen (obwohl ich gar nicht mehr weiß, wer dirigiert und gespielt hat). Sie ist einer der Gründe, warum ich Dirigent geworden bin. Da war ich ganz jung, sechs oder sieben. Seither begleitet mich der Beginn dieser Ouvertüre durch alles. Gar nicht einmal das erste Forte-F, sondern die dunklen Farben, das f-Moll. Ich weiß nicht, warum mich dieser Klang so fasziniert hat. Es war wohl die Gewalt, die davon ausging, so düster und echt. Beethoven strotzt hier förmlich vor Kraft. Und er weiß oft nicht, wohin damit, daher die vielen Sforzati in den Noten, dieser vehemente Nachdruck.

In der Egmont-Ouvertüre macht uns die erste Note bereits zur Schnecke. Und dann diese Stretta – ich wusste damals gar nicht, was eine Stretta ist, aber dass das am Schluss dieses kurzen, kaum zehnminütigen Stücks so losgeht, mit Hörnern und Piccoloflöte, dieser Jubel, dieser Allegro-Sieg über Kampf und Finsternis, das hat mich unglaublich ergriffen. Als mir irgendwann die Furtwängler-Aufnahme in die Hände fiel, war es endgültig um mich geschehen. Das war für mich die Bestätigung des Dunkelgrundierten, sofern es die noch gebraucht hätte. Fehlt das Dunkle bei einer Beethoven-Interpretation, wird es herausgefiltert, warum auch immer, dann ist mein Genuss «getrübt» (wie die Gräfin in Capriccio von Richard Strauss sagt). Beethoven kann auch ohne das Dunkle sehr schön dirigiert sein, zweifellos, aber man bleibt ihm etwas schuldig. Er hat in seiner Musik etwas Erdiges. Ich denke mir manchmal, vielleicht ist er ja sechzehn oder siebzehn Mal in Wien umgezogen, weil er so gerne Wurzeln geschlagen hätte.

Für mich hatten seine Symphonien früh Farben. Die Vierte ist grün, die Dritte hat ein helles Orange. Wobei das keine spezifischen Beethoven-Farben sind, sie richten sich mehr nach den Tonarten. A-Dur ist blau, As-Dur lila, c-Moll ist schwärzlich oder grau.

Die nächste Beethoven-Erinnerung habe ich an die fünfte Symphonie, die ich als Kind sehr oft gehört habe, vor allem, weil mich der Schluss so fasziniert hat, diese acht Akkorde! Das hört gar nicht mehr auf, aufzuhören! Die Fünfte hat für mich so etwas, das in die Tiefe der Beine fährt. Wie bei lauter Popmusik, die hat auch einen Rhythmus, eine Art Stampfen, dem man sich nicht entziehen kann. Auch zur Missa solemnis bin ich sehr früh gekommen, über eine Karajan-Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern, da muss ich zwölf oder dreizehn gewesen sein. Die Missa hat mir sofort eingeleuchtet und gefallen, und im Gegensatz zu vielen von mir hoch verehrten Kollegen habe ich später nie gefunden, dass sie uns dirigentisch vor unlösbare Probleme stellt. Meine erste Missa habe ich mit dem Chor und dem Orchester der Deutschen Oper Berlin im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt dirigiert (wie es damals hieß). Und schon da dachte ich: Die Missa ist kein unbezwingbarer Berg. Inzwischen habe ich sie an die fünfzehn Mal dirigiert. Vielleicht darf man vor diesem Typen mit der grimmigen Miene und den wilden Haaren einfach keine Angst haben. Jedenfalls ist und bleibt die Missa solemnis mein absolutes Herzensstück.

Auch am Klavier bin ich früh mit Beethoven in Berührung gekommen. Als Erstes gespielt habe ich die erste Sonate, Opus 2 Nr. 1, wieder f-Moll. Technisch ist das für einen Elf- oder Zwölfjährigen gut zu bewältigen. Schnell bin ich auch zur Pathétique gekommen, die gar nicht so schwer ist – sie klingt nur schwer. Opus 10 Nr. 3 ist schon ein anspruchsvolleres Stück. Und dann die späten Sonaten natürlich: Opus 109 und Opus 110 habe ich sehr genau studiert – und mit Opus 111, Beethovens letzter Sonate, hatte ich gerade angefangen, da wurde ich Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin und habe irgendwann aufgehört, Klavier zu üben. Ob ich Beethoven damals verstanden habe? Aus heutiger Sicht würde ich das bezweifeln. Es ist ein Unterschied, ob ich mit den Fugati in Opus 109 keine Probleme habe, weil ich schnell auswendig lerne, oder ob ich strukturell wirklich begreife, wie Beethoven hier die Form unterläuft. Das gilt auch für Beethovens Bagatellen für Klavier, die merkwürdigsten aller Gebilde überhaupt.

Was die Kammermusik angeht, hätte ich eigentlich gerne Bratsche im Streichquartett gespielt, aber man ließ mich nicht, einfach weil ich am Klavier besser war als auf der Bratsche. Also musste ich Klaviertrio spielen.

Ein Schlüsselerlebnis hatte ich mit Helmut Roloff, meinem damaligen Klavierlehrer. Ein Erlebnis, das weit über Beethoven hinausweist. Es ging um den Variationensatz der Sonate Opus 109, der E-Dur-Sonate, Andante molto cantabile ed espressivo, «sehr sangbar und ausdrucksvoll». Ich dachte, ich muss hier doch irgendwas machen. Roloff aber sagte: Machen Sie einfach ein paar Takte wenig, fast nichts – und gehen dann auf, fangen dann an zu singen. Dieses und dann war für mich eine existenzielle musikalische Erfahrung. Eine Zeit lang mit Ausdruck ohne Ausdruck zu spielen, auf einen Ausdruck oder Höhepunkt hin, das habe ich bei Roloff gelernt. Das gilt übrigens auch fürs Dirigieren. Nichts zu machen mit Intensität, wenig zu machen mit voller Intensität, das ist der Schlüssel zu vielem. Der langsame Satz der Eroica ist dafür ein absolutes Paradebeispiel: 2/4-Takt, Marcia funebre, Trauermarsch. Wenn das gut dirigiert wird, kommen die Sargträger von weit her, was nicht nur eine Frage der Dynamik ist. Es bedeutet vielmehr, dass die Streicher anfangs etwas distanzierter spielen sollten, mit weniger Vibrato – aber nicht ohne Vibrato! Nur so stellt sich die leichte Ermattung und Depression ein, die dieser Satz braucht.

Von Anfang an hat mich der späte Beethoven besonders beschäftigt. Ein Streichquartett wie Opus 131 in cis-Moll ist im Grunde ja der helle Wahnsinn. Sieben Sätze – und keiner stimmt! Das Scherzo steht an der falschen Stelle, einen richtigen langsamen Satz gibt es auch nicht, alles scheint sich aufzulösen, ist bloß mehr Rezitativ. Ähnliches gilt für die späten Klaviersonaten. Ist die Auflösung der Form die Konsequenz aus den Freiheiten, die Beethoven sich als Komponist nimmt – und auch seinen Interpreten zugesteht?

Solche Fragen haben mich fasziniert. Man hat als Jugendlicher ja so eine Phase, in der man besonders das vermeintlich Entlegene, die Verrücktheiten liebt. Diese Phase kam bei mir relativ früh, und Beethoven besaß irgendwie auch den Reiz des Verbotenen. Jeder erwachende Mensch sucht nach Extremen, macht Drogenerfahrungen. Meine Droge war die Musik, und Beethoven stellte für mich ein ähnliches Erlebnis dar wie Wagner. Auch Konzertabende von Maurizio Pollini und Daniel Barenboim mit späten Beethoven-Sonaten zählten dazu. Schwere Kost für einen Schüler, sollte man meinen, aber das Extreme war mir bald geläufig, ich bin ja auch mit Wagners Tristan und Isolde bedenklich früh in Berührung gekommen. Beethovens musikalische Sprache hatte für mich von Anfang an etwas unmittelbar Vertrautes. Ich habe es...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2020
Mitarbeit Anpassung von: Christine Lemke-Matwey
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Ausdruck • Beethoven • Dirigent • Einführung • Faszination • Genie • Hauptwerke • Interpreten • Missa solemnis • Musik • Oper • Pathos • Sachbuch • Symphonien
ISBN-10 3-406-75766-9 / 3406757669
ISBN-13 978-3-406-75766-2 / 9783406757662
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