Handorakel und Kunst der Weltklugheit (eBook)
296 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961768-8 (ISBN)
Baltasar Gracián y Morales (1601-1658) war ein spanischer Jesuit, Philosoph und Theologe, er gilt als einer der bedeutendsten spanischen Schriftsteller. Wegen aufklärerischer Tendenzen in seinem Werk erhielt er Publikationsverbot. Der Übersetzer und Herausgeber: Hans Ulrich Gumbrecht, geb. 1948, Romanist, Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker, schreibt regelmäßig für die NZZ, auch für FAZ und ZEIT. Bis 2018 war er Inhaber des Lehrstuhls für Komparatistik an der Stanford University und lehrt als Gastprofessor z. Z. in Stanford, Lissabon und Jerusalem.
Baltasar Gracián y Morales (1601–1658) war ein spanischer Jesuit, Philosoph und Theologe, er gilt als einer der bedeutendsten spanischen Schriftsteller. Wegen aufklärerischer Tendenzen in seinem Werk erhielt er Publikationsverbot. Der Übersetzer und Herausgeber: Hans Ulrich Gumbrecht, geb. 1948, Romanist, Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker, schreibt regelmäßig für die NZZ, auch für FAZ und ZEIT. Bis 2018 war er Inhaber des Lehrstuhls für Komparatistik an der Stanford University und lehrt als Gastprofessor z. Z. in Stanford, Lissabon und Jerusalem.
Zur Lektüre der Übersetzung von Baltasar Graciáns Oráculo Manual y Arte de Prudencia
Von Hans Ulrich Gumbrecht
Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Anhang
Baltasar Graciáns Denk-Raum
Über die Faszination einer kühlen Konkretheit
Von Hans Ulrich Gumbrecht
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Register
Baltasar Graciáns Denk-Raum
Über die Faszination einer kühlen Konkretheit
Wie die anderen klassischen Autoren des »Goldenen Zeitalters« in der spanischen Kultur vom späten 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, wie Miguel de Cervantes, Félix Lope de Vega, Pedro Calderón de la Barca oder Luis de Góngora, hat auch der Jesuit, Prediger und Theologe Baltasar Gracián seine Gegenwart und seine Nachwelt als Gestalt von markantem Profil beeindruckt, deren Werk und Lebensumstände einander ebenso geprägt wie erhellt haben. Doch anders als die großen Zeitgenossen und obwohl gerade Graciáns Texte nach Gattung wie Inhalt durchaus homogen erscheinen mögen, hat die mit ihm befasste Gelehrsamkeit stets spezifische Aspekte herausgearbeitet: seinen Ort in der ideengeschichtlichen Tradition etwa, kaum lösbar erscheinende philologische Einzelprobleme oder besonders intensive Momente der Rezeptionsgeschichte. So füllt sich der Umriss seiner Autoren-Gestalt am Ende nicht mit einem individuell farbigen Bild.
Dies gilt mit einer – in ihrer Entstehung und ihrem Ergebnis – monumentalen Ausnahme, dem 1947 zuerst veröffentlichten Buch des deutschen Hispanisten Werner Krauss über Graciáns Lebenslehre. Den Band eröffnet eine bemerkenswert lakonisch gehaltene »Vorbemerkung«, die ungekürzt zu zitieren sich aus mehreren Gründen lohnt:
Diese Arbeit wurde 1943 unter besonderen Verhältnissen geschrieben. Der Verfasser war auf die ihm von wohlgesinnter Seite zur Verfügung gestellten Gracián-Ausgaben angewiesen. Sekundärliteratur war ihm nicht zugänglich. Wenn nach der Befreiung eine grundlegende Änderung nicht vorgenommen wurde, so geschah es in der Meinung, dass eine Darstellung der Lebenslehre Graciáns aus ihren eigenen Voraussetzungen auch ohne eine genauere philologisch-historische Koordinierung ein allgemeineres Interesse verdienen kann.
Mit der scheinbar beiläufigen Formel von den »besonderen Umständen« in der Entstehung des Werks über Baltasar Gracián verweist Krauss auf eine zwanzigmonatige Haft in der Todeszelle des Berliner Gefängnisses Plötzensee zwischen Januar 1943 und September 1944. 1900 geboren, hatte er von 1922 bis 1926 in Madrid studiert, promovierte dann in München bei Karl Vossler mit einer Arbeit über Alltagsleben und Literatur im spanischen Mittelalter« um in den dreißiger Jahren als Assistent des herausragenden jüdischen Romanisten Erich Auerbach an der Universität Marburg zu arbeiten. Anfang des Zweiten Weltkriegs wurde Krauss dann zu einer Übersetzerkompanie nach Berlin versetzt, Ende 1942 wegen antinazistischer Propagandaaktivitäten mit seiner sechzehn Jahre jüngeren Geliebten Ursula Götze verhaftet und zum Tod verurteilt.
Während die deutschen Machthaber Götze im August 1943 enthaupten ließen, überlebte Krauss dank der Intervention prominenter Kollegen, die eine Umwandlung der ersten Entscheidung in eine fünfjährige Haftstrafe erreichten. Nach Kriegsende entstand in der Deutschen Demokratischen Republik sein bedeutendes wissenschaftliches Werk, vor allem zur französischen Aufklärung als einem kulturellen Erbe von normativer Kraft.
Wie lässt sich der Entschluss von Werner Krauss erklären, im Angesicht des Todes neben einem ebenfalls nach 1945 publizierten satirischen Schlüsselroman mit dem Titel Die Passionen der halkyonischen Seele über den Jesuiten Gracián ein Buch zu schreiben, in dessen Zentrum die 1647 veröffentlichte Aphorismensammlung Oráculo Manual steht? Schon der zunächst eher wissenschaftlich kompliziert und also existenziell harmlos klingende letzte Satz seiner »Vorbemerkung« weist in die Richtung einer Antwort: Graciáns »Lebenslehre«, unterstellt Krauss, verlasse sich derart vorranging auf die in prekären Lebenslagen rettende Kraft rationaler Prämissen und Argumente, dass die gewonnene existenzielle Orientierung von den spezifischen Umständen ihrer Entstehung unabhängig werde. Dies gelte immer noch, unterstreicht er in der Schlusspassage seines Buchs, für die Mitte des 20. Jahrhunderts:
Gracián konnte in mancher Hinsicht als ein Vorläufer der modernen Psychologie in Anspruch genommen werden. Aber sein Weltbild verläuft naturgemäß in einer ganz andern, ja entgegengesetzten Richtung als diese. Während die moderne Tiefenpsychologie in den Strömen des Irrationalismus aufgeht, mündet Graciáns Versuch, seelisches Neuland für den Bereich der menschlichen Selbstherrschaft zu erweitern und zu festigen, in der Linie der geistesaristokratischen, frühaufklärerischen Haltungen. […] Die unverbrüchliche Gesetzlichkeit des an sich selbst gebundenen Menschen Graciánscher Prägung kann wie ein Hinweis dafür gelten, dass auch auf seelischem Gebiet die wirklich fruchtbaren Entdeckungen nicht aus der bedenkenlosen Verwerfung alles überlieferten Wissens hervorgehen, sondern aus ihrer kühn gesammelten Macht für eine erneuerte Zielsetzung.
Diese Sätze erlauben uns, eine erste These zur Frage nach der potenziellen Faszination eines Textes aus dem 17. Jahrhundert für unsere Gegenwart zu formulieren. Gerade die frühe Neuzeit, scheint Krauss zu unterstellen, ging von der historisch sich eröffnenden Möglichkeit aus, abstrakte »Gesetzlichkeiten« in den Lebensformen des »an sich selbst gebundenen Menschen« zu entdecken, und nutzte dazu statt göttlicher Offenbarung oder statt der Erinnerung an Werte der Menschlichkeit die gesammelte Fülle des überlieferten Wissens in neuer, rationaler Verdichtung. Ganz unabhängig noch von spezifischen Inhalten und Formen, mit denen Graciáns Text seine Nachwelten erreicht, ermutige er zum Wagnis einer individuellen Autonomie (Krauss spricht von »menschlicher Selbstherrschaft«) in Lebensführung und den ihr vorausgehenden Reflexionen. Helmut Lethen hat die distante Abstraktheit jener Denkform als »Kälte« (wohl auch im Sinn von »Kaltblütigkeit«) beschrieben und damit ihre Faszination für Intellektuelle in extremen Positionen erklärt. Ich fasse seine Deutung als Variante der intellektuellen Kühle im Sinn eines gelebten Stoizismus auf. Der Appell eines solchen Tons im Reflektieren, mit dem Krauss in der Todeszelle von Plötzensee überlebte, mag sich auch für unsere Existenz in der ganz anderen Komplexität des gegenwärtigen Alltags bewähren. Was der besondere Sprachstil, in dem Begriffe und Argumente des Oráculo manual aufs Papier kamen, dazu beitragen kann, muss zunächst noch offenbleiben.
Jene frühneuzeitlich abstrakte Rationalität von Baltasar Graciáns Denken, die sich kaum an historisch spezifischen Denkmustern späterer Zeiten stieß, erklärt einerseits eine Dimension nicht-spezifischer Dauer in der Rezeption seiner sieben Werke. Außer dem religiösen Erbauungsbuch El Comulgatorio, dem einzigen zu Lebzeiten unter seinem eigenen Namen erschienenen Text, haben sie alle über beinahe vier Jahrhunderte immer wieder Leser gefunden. Andererseits ist das als eine Art Anthologie von Graciáns Gedanken präsentierte Handorakel schon bald in den emblematischen Vordergrund seines Werks getreten und hat darüber hinaus – aus deutlich verschiedenen Gründen – vor allem während des späten 17. und dann wieder seit dem 19. Jahrhundert intensive Resonanz gefunden.
Im weiteren europäischen Kontext gehörten Graciáns säkulare Werke zu einer vielgestaltigen Bewegung des Nachdenkens über Strukturen und Möglichkeiten zielgerichtet autonomen, das heißt nicht mehr religiös geformten Handelns. Sie hatte in Baldassare Castigliones Cortegiano 1528 und Niccolo Machiavellis Il Principe 1532 ihren italienischen Anfang genommen und während des Goldenen Zeitalters in Spanien mit weniger spezifischer Ausrichtung auf Führungsgestalten der Aristokratie und des Hofes eine Fortsetzung gefunden, um dann in den stärker beschreibend reflektierenden »Moralismus« unter Autoren der französischen Klassik wie La Bruyère oder La Rochefoucauld zu münden.
Während Graciáns Leben und über die Jahrzehnte nach seinem Tod im Dezember 1658 mag ein praktisch-politischer Gebrauch der von ihm hinterlassenen Denkspuren dominiert haben. Das Handorakel war eines der Bücher, welche der spanische König Philipp IV. regelmäßig zu Rate zog. Vor allem aber fand die freie und Graciáns Text immer wieder paraphrasierende französische Übersetzung von Amelot de la Houssaie unter dem Titel L’Homme de cour ab 1684 einflussreiche Leser am Versailler Hof Ludwigs XIV. In eine ähnliche Richtung zielte – allerdings wohl ohne den konkreten Bezugshorizont möglicher Leser – die zwischen 1715 und 1719 veröffentlichte erste deutsche Übersetzung des Oráculo manual durch den Leipziger Professor August Friedrich Müller, in der das kompakte Original auf ein Traktat von über fünfzehnhundert Seiten anwuchs.
Da das Zeitalter der Aufklärung die auf individuellen Nutzen ausgerichtete Rationalität der frühen Neuzeit in einer »allgemein menschlichen« Moral, Lethen würde wohl formulieren: »in der Wärme« einer solchen Moral, aufzuheben suchte, deren Diskurs seither normativ für politisches Bewusstsein geworden ist, versah sie Texte wie die von Castiglione, Machiavelli oder Gracián mit einem negativen Vorzeichen.
Gerade dieser kritische Vorbehalt aber diente einer zweiten Phase von Intensität in der Rezeption des Handorakels als Kontrast und Motivation. Zu ihr gehören bis...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2020 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek |
Übersetzer | Hans Ulrich GUMBRECHT |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Analyse • Auszüge • Baltasar Gracián y Morales • Bücher Philosophie • Erläuterung • Ethik • Ethik-Unterricht • Geisteswissenschaft • gelb • Gracian • Gracián Aphorismen • Gracián Das Kritikon • Gracian Deutsch • Gracián El Criticón • Gracián Gelassenheit • Gracián Halbwissen • Gracian Hans Ulrich Gumbrecht • Gracián Lebensweisheit • Gracián Lehre • Gracian Neuübersetzung • Gracián Philosophie • Gracián Sinnsprüche • Gracián Stoizismus • Gracian übersetzt • Gracian Übersetzung • Gracián Weltklugheit • Grundlagen • Hans-Ulrich Gumbrecht • Ideengeschichte • Lektüre • Oráculo manual y arte de prudencia • Philosophie • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Reclam Hefte • Spanien Goldenes Zeitalter • Textanalyse • Textsammlung • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-15-961768-8 / 3159617688 |
ISBN-13 | 978-3-15-961768-8 / 9783159617688 |
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