Die tote Meerjungfrau (eBook)
448 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45762-7 (ISBN)
Thomas Rydahl, 1974 geboren, ist ein preisgekrönter dänischer Autor. Sein erster Roman, der Bestseller »Der Einsiedler«, wurde in 15 Länder verkauft. 2015 gewann er den Glasnøglen (Glasschlüssel), den Preis für den besten Skandinavischen Spannungsroman des Jahres.
Thomas Rydahl, 1974 geboren, ist ein preisgekrönter dänischer Autor. Sein erster Roman, der Bestseller »Der Einsiedler«, wurde in 15 Länder verkauft. 2015 gewann er den Glasnøglen (Glasschlüssel), den Preis für den besten Skandinavischen Spannungsroman des Jahres. A.J. Kazinski ist das Pseudonym des Autorenduos Anders Rønnow Klarlund und Jacob Weinreich, die seit 2010 bereits sieben Romane veröffentlicht haben, die sich zusammen über 450.000 mal in Dänemark allein verkauft haben. Außerdem wurden sie weltweit in über 20 Länder verkauft. Für »Die tote Meerjungfrau« haben sich die drei zusammengeschlossen, um einen außergewöhnlichen Kriminalroman auf den Weg zu bringen.
Kapitel 1
Dieser Mann ist ungewöhnlich. Ein gewöhnlicher Mann hätte ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie mit starker Hand herumgezerrt. Die Hose aufgeknöpft und ihren Blick nach unten ins Dunkel gezwungen, in der Erwartung, der Anblick würde sie begeistern. Ein gewöhnlicher Mann würde sie vor Müdigkeit, Trunkenheit, Geilheit nicht einmal sehen oder wissen, dass ihr Name Anna lautet und sie eine sechsjährige Tochter hat, Mariechen, auf die jetzt die Tante im Nebenzimmer aufpasst. Für einen gewöhnlichen Mann ist sie nichts anderes als ein feuchtes Loch.
Nein, dieser Freier ist nicht gewöhnlich.
Er hat immer seine Kleider angelassen, sie nie angefasst und ihr nicht gezeigt, was er in der Hose hat. Er ist weder reich noch arm, vielleicht ein Student, eine Art Dichter, hat sie gehört, auch wenn er nur wenig sagt. Sie kennt nur seinen Nachnamen. Andersen.
An diesem Abend riecht er auch ungewöhnlich gut. Seit ihrem letzten Treffen hat er seinen Schnäuzer wachsen lassen. Das macht ihn männlicher, denkt Anna, traut sich aber nicht, ihm das zu sagen. Er ist Ende zwanzig, vielleicht ein wenig älter, das ist schwer zu sagen. Er hat sich auf die Bank an der Wand gesetzt und seine Schere und das farbige Papier hervorgeholt. Wie immer will er sie nur betrachten und einen Scherenschnitt von ihr machen. Manchmal blickt er mit seinen großen Augen auf, kurz, fast verlegen, bevor sein Blick sich wieder auf die Schere und das farbige Papier senkt. Er ist ganz in seiner Arbeit versunken. Kleine Papierschnipsel rieseln zu Boden. Die Schere zuckt hin und her und greift auf eine Weise ins Papier, wie sie es bei niemandem zuvor gesehen hat. Nicht einmal bei ihrem Onkel, der Schneider war. Sie bewundert, wie er das Schöne hervorholt und alles andere verschwinden lässt. Was schließlich entsteht, ist eine papierdünne Ausgabe von Anna mit offenen Haaren und atemberaubenden Formen. Verschwunden ist alles Hässliche, die Spuren, die Annas Freier in ihren Augen hinterlassen haben, der fehlende Schneidezahn, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn, die angstvollen Fragen, was aus ihrem Mariechen werden wird und ob sie ihr ein besseres Leben ermöglichen kann, als sie selbst es führt.
Es kommt vor, dass Andersen sie um etwas Besonderes bittet. Könnten Sie Ihre Arme und Hände zur Decke ausstrecken? Könnten Sie Ihr Bein so anheben wie eine Ballerina im Theater? Dann tut sie, was er will. Sie versucht es wenigstens. Für das Geld, das er ihr gibt, macht sie sonst beinahe alles. Aber er will nie, dass sie ihren Unterrock fallen lässt, will ihre Scham nicht sehen, nur ihre Brüste, ihre Formen. Sie hat ihn direkt gefragt, ob sie das letzte, entscheidende Stück Stoff ablegen soll? Aber das wollte er nicht. Annas jüngere Schwester Molly hält ihn für unnatürlich. Einem Mann, der nicht trinkt und nicht mit Frauen schläft, kannst du nicht trauen, sagt sie. Worauf du aber vertrauen kannst, ist, dass ein Mann, der trinkt und mit Frauen schläft, dir irgendwann wehtut. So sind alle Männer.
Anna streckt sich, schiebt ihre Brüste vor und stemmt die Hände auf die schmalen Hüften. Er schaut hoch, mustert ihren weißen Busen, der sich leicht bewegt.
Draußen auf der Straße ertönt das Lied des Nachtwächters. Hört, ihr Leut’, und lasst euch sagen, vom Turm die Glock hat neun geschlagen! Immer derselbe Nachtwächter, sie haben ihre festen Stadtteile. Und die Ulkegade braucht einen standhaften Mann, der sich nicht scheut, zwischen zwei Streithähne zu treten, besoffene Seeleute zu besänftigen, einbeinige Diebe zum Richterstuhl zu führen und Ordnung im Chaos zu schaffen. Das sogenannte gute Ende der Gasse darf sich Holmensgade nennen. Als würde das Gesindel und sündige Pack deshalb verschwinden.
»Autsch«, entfährt es Andersen. Sein Finger zuckt zurück. Blut tropft auf den Boden.
»Lassen Sie mich mal sehen«, sagt sie und beugt sich vor.
Er blickt entsetzt auf und steckt sich den Finger in den Mund. »Nein, nein«, sagt er.
»Aber Sie bluten.«
»Ich muss gehen, es ist schon spät, viel zu spät«, sagt der Mann unglücklich wie ein Kind.
»Müssen Sie zurück zu Ihrer Familie?«, fragt sie und legt ihr Korsett an, während sie sich den großen, hageren Mann mit einer hübschen, blassen Frau vorstellt, ein Kind an jeder Brust.
Er antwortet nicht, steht auf und legt seinen Scherenschnitt in eine schwarze Ledermappe. Seine Locken berühren fast die Zimmerdecke, so groß ist er. Sein Körper erinnert sie an den Affen mit den langen Armen, den sie einmal im Vergnügungspark gesehen hat.
»Für Ihre Mühen«, sagt er und drückt ihr eine warme Münze in die Hand, ein Tropfen Blut folgt dem Geld. »Und für Ihre Vertraulichkeit«, fügt er hinzu.
Sie nickt, hat das Gefühl, sich verbeugen zu müssen. »Darf ich mal sehen?«, fragt Anna und überrascht sich damit selbst. Sie bittet die Männer, die sie aufsuchen, sonst niemals um etwas.
Auch Andersen ist überrascht, ja geradezu erschrocken. »Sehen?«
»Mich«, sagt sie und nickt in Richtung Ledermappe, die er fest mit seinen langen Fingern umklammert, wie eine Beute.
»Nächstes Mal, nächstes Mal. Ich bin nicht zufrieden, noch nicht«, sagt Andersen. »Aber das liegt nicht an Ihnen. Nur an mir, nur an mir.«
Er öffnet die Tür und sieht nach draußen auf den Gang. Wie die meisten anderen Kunden möchte er nur ungern den anderen Männern begegnen, die zu ihr kommen. Dann grüßt er zum Abschied. Er setzt keinen hohen Hut auf, wie die feinen Herren, nur eine weiche Mütze aus schwarzer Seide, die ein bisschen zu klein wirkt, bestimmt im Ausland gekauft, vielleicht in Frankreich. Anna erinnert sich dunkel an einen französischen Freier, der vor vielen Jahren bei ihr gewesen war. Er hatte eine ähnliche Kopfbedeckung getragen und sie damals mit französischen Geldscheinen bezahlt, die längst ihren Wert verloren hatten.
Andersen duckt sich unter dem Türrahmen hindurch und geht. Sie hört seine Schritte auf den Holzdielen. Dann ist er weg.
Ihr ist leicht ums Herz, der dünne Dichter war ihr letzter Kunde. Jetzt kann sie zu Molly gehen und zu Mariechen, die hoffentlich schon schläft.
Sie zieht ihr Kleid wieder an und fegt die Papierschnipsel zusammen, die wie Schneeflocken herumliegen, hier eine Brust, dort ein Bein. Andersen war anfangs nicht zufrieden und hatte immer wieder von vorn begonnen. Anna steckt die Münze in ihre Geldbörse und denkt an die Suppe mit Grünkohl und Fleisch, die es unten an der Ecke für sechs Schilling zu kaufen gibt.
In diesem Moment klopft es an der Tür. Ein Geräusch, an das sie sich nie gewöhnen wird. Ein neuer Freier, neue Widerwärtigkeiten, Männer, die ihre Finger in sie hineinbohren wollen, sich mit ihrem Urin waschen, mit Gürteln geschlagen werden wollen. Für gewöhnlich rufen sie ihren Namen, aber jetzt bleibt es still. Vielleicht ist der Dichter noch einmal zurückgekehrt, hat etwas vergessen.
»Herr Andersen, sind Sie das?«
Keine Antwort. Stattdessen klopft es noch einmal. Sie legt ihr Ohr an die Tür. Hört jemanden da draußen. Sie könnte die Tür geschlossen lassen, sagen, dass sie bereits Feierabend gemacht hat. Andererseits denkt sie an das Geld, das sie so dringend für die Judashöhle gebrauchen könnten, die Molly und sie kaufen wollen. Die Gaststätte liegt eine knappe Stunde vom westlichen Stadttor entfernt. Sicher nicht die schönste Schankstube in Seeland, aber sie ist bei Reitern und Reisenden beliebt, da der frühere Besitzer nie jemanden wegschickte. Wer auch immer dort übernachten wollte – und wenn es Judas persönlich war –, bekam dort einen Strohsack und ein Glas Bier, solange er einen Schilling in der Tasche hatte. Außerdem ist es die einzige Gaststätte, die Molly und sie kaufen können. Frauen dürfen keine Gaststätten besitzen, der jetzige Besitzer aber ist bereit, den Namen von Annas und Mollys verstorbenem Vater in die Papiere einzutragen, um diese Vorschrift zu umgehen. Sie haben bereits hundert Reichstaler angezahlt, für die sie ein halbes Jahr gespart hatten. In dieser Zeit haben sie beinahe jeden Freier hereingelassen, mit ganz wenigen Ausnahmen.
Sie muss aufmachen.
Im Licht der Öllampe unter der Flurdecke sieht Anna eine junge Frau, sie trägt ein sauberes Kleid und hat ein hübsches Tuch um die hellen Haare gebunden. Diese Art von Frauen kommt sonst nicht in dieses Haus. Niemals. Hat sie sich verlaufen, oder sucht sie ihren Ehemann? Ist das Frau Andersen, die ihrem Mann gefolgt ist?
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Anna.
»Erlauben Sie, Fräulein Hansen?«, fragt die Frau und zeigt in Annas Kammer.
Die Frau ist schön – wie eine Pariserin. Anna legt es nicht auf ein Gespräch auf dem Flur an, wo jeder sie hören kann. Ein paar der Dirnen, vor allem Sofie, haben so wenige Freier, dass sie sich die Langeweile damit vertreiben, den anderen zu lauschen. Anna zieht die Tür auf und tritt zur Seite.
Die Frau schlüpft hinein, sieht sich in der Kammer um, tritt ans Fenster und zupft die Gardine zurecht, obwohl sie bereits zugezogen ist. Anna ist die Nervosität ihrer Freier gewohnt, sie kennt ihre Angst, im Hurenhaus gesehen zu werden.
»Suchen Sie Gesellschaft? Ich habe leider nur noch wenig Zeit. Eine Viertelstunde, vielleicht.« Anna bleibt an der Tür stehen. Sie hat nur selten weibliche Kundschaft, aber es kommt vor, und sie empfängt sie gerne. Sie riechen besser als die Männer, und sie sind großzügiger. Aber sie leiden auch an Schamgefühlen, dabei wollen sie oft nur in den Arm genommen und ein bisschen gestreichelt oder ein klein bisschen gekitzelt werden. Ganz anders die Männer, sie sind schamlos und laut und rücksichtslos wie Vieh vor der Schlachtung.
Die Frau bleibt in den Schatten stehen und flüstert....
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2020 |
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Übersetzer | Günther Frauenlob, Maike Dörries |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Andersen • Andersen-Märchen • Andersens Märchen • Dänemark • Die kleine Meerjungfrau • Die kleine Seejungfrau • Hans Christian Andersen • H. C. Andersen • Historische Kriminalromane • Historische Krimis • Historische Krimis Dänemark • historische Romane 19. Jahrhundert • Kopenhagen • Krimi historisch • Krimis Dänemark • Krimis Skandinavien • Kunstmärchen • Madam Krieger • Märchen • Märchen-Adaption • Märchen neu erzählt • Meer • Modell • Mord • Mörder • Mordverdacht • privater Ermittler • Prostituierte • Romane nach wahren Begebenheiten • Severin Krieger • Skandinavische Krimis • Spannung Märchen • unfreiwilliger Ermittler |
ISBN-10 | 3-426-45762-8 / 3426457628 |
ISBN-13 | 978-3-426-45762-7 / 9783426457627 |
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