Die Offenbarung der Johanna (eBook)
350 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-98712-7 (ISBN)
Mathias Aicher, geb. 1965 in einem 2000-Seelendorf am Rand des Pfälzerwalds, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Mannheim und zog kurz nach dem Mauerfall nach Berlin, wo er sich als Rockmusiker, Plattenverkäufer, Texter und Produzent von Musikvideos verdingte. Seit 1999 arbeitet er als Drehbuchautor hauptsächlich im Bereich Krimi und Spannung, derzeit für diverse Serien der 'Soko' im ZDF. Sein Debütroman HELLTAL (Kriminalroman) wurde 2019 bei KNAUR veröffentlicht. Der zweite Roman DIE OFFENBARUNG DER JOHANNA erscheint im Oktober 2020 bei PIPER Der Autor lebt inzwischen wieder in Süddeutschland und arbeitet an den Romanen 3 und 4. Mehr Informationen zu Mathias Aicher unter: https://www.facebook.com/mathias.aicher.autor
Mathias Aicher, geb. 1965 in einem 2000-Seelendorf am Rand des Pfälzerwalds, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Mannheim und zog kurz nach dem Mauerfall nach Berlin, wo er sich als Rockmusiker, Plattenverkäufer, Texter und Produzent von Musikvideos verdingte. Seit 1999 arbeitet er als Drehbuchautor hauptsächlich im Bereich Krimi und Spannung, derzeit für diverse Serien der "Soko" im ZDF. Sein Debütroman HELLTAL (Kriminalroman) wurde 2019 bei KNAUR veröffentlicht. Der zweite Roman DIE OFFENBARUNG DER JOHANNA erscheint im Oktober 2020 bei PIPER Der Autor lebt inzwischen wieder in Süddeutschland und arbeitet an den Romanen 3 und 4. Mehr Informationen zu Mathias Aicher unter: https://www.facebook.com/mathias.aicher.autor
Woltersweiler, Saarland
Kaisersaal
Samstag, 18:18 Uhr
Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass man in knapp vierzig Minuten sein Heimatdorf in Schutt und Asche legen wird? Wenn man weiß, dass danach nichts mehr so sein wird, wie es war?
Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass am Ende der Nacht nichts bleibt? Außer verbrannter Erde, Blut und Tränen.
Beschissen fühlt man sich, einfach nur beschissen.
Der Backstage-Raum des Kaisersaals ist ein knapp 20 qm großer, in hellen Farben gestrichener, fensterloser Raum, der von zwei Stehlampen erhellt wird. In einer Ecke ein Kühlschrank, gefüllt mit Bier, Weißwein, Wasser, Cola, Orangensaft. Mir schräg gegenüber drei Stufen: der Aufgang zur Bühne. An den Wänden gerahmte Plakate von vergangenen Veranstaltungen. Die Coverbands Prozac und Majkallica. Der Entertainer Horst Weck. Ein Galadinner mit dem Pianisten Frederick Unold. Der über die Grenzen des Saarlands hinaus bekannte Comedian Heinz Becker. Das 25-jährige Jubiläum des Musikantenmuseums Woltersweiler mit der Showband GooGs.
Und natürlich das Plakat, das meine heutige Lesung ankündigt.
Ich sitze rauchend auf dem schwarzen Ledersofa. Vor mir ein Couchtisch, auf dem ein DIN-A4-Blatt mit meiner vorbereiteten Rede liegt, daneben die ausgedruckten 256 Seiten meines neuen Manuskripts.
Ich gieße mir ein Glas Médoc ein. Ein Cru Bourgeois AOC 1993. Aus dem Weinkeller meines Vaters. Die Flasche kostet auf eBay um die 50 Euro. Ein Wein für besondere Anlässe. Ich lasse das Glas kreisen, inhaliere den süßen schweren Duft nach Erde und Holz und frage mich nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten, warum ich mir das alles antue. Niemand hat mich dazu gezwungen, weder mein Verlag noch mein Agent, es war ganz allein meine Entscheidung. Es geht nicht um Geld – die Einnahmen der Lesung, abzüglich aller Kosten, werde ich einem Tierheim in der Region spenden – und schon gar nicht um Aufmerksamkeit oder Ruhm; von beidem hatte ich mehr als genug. Das, was heute Abend passieren wird, dient nur einem Zweck: der Wahrheit Genüge zu tun. Und danach werde ich hoffentlich meinen Frieden machen.
Mit Woltersweiler.
Mit dem, was 1988 passiert ist.
Mit meinem Vater.
Und vor allem mit Jakob, meinem Bruder.
Während ich am Wein nippe, nehme ich wie in Trance die Musik aus dem Kaisersaal wahr. Im Moment sind die Stereophonics dran. Danach folgen Steven Wilson, Tangerine Dream, Sigur Ros und Dream The Electric Sheep. Die Playlist habe ich extra für heute Abend zusammengestellt und Klemens, dem Ton- und Lichttechniker des Kaisersaals, per E-Mail geschickt. Sie dauert exakt 60 Minuten und läuft seit 18 Uhr. Der letzte Song kurz vor 19 Uhr wird »Come hell or waters high« von Judie Tzuke sein.
Ich drücke die Kippe im Aschenbecher aus, als es klopft.
»Ja?«
Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, und Katarina, meine blutjunge und wunderhübsche Assistentin, steckt ihren schwarzen Lockenkopf herein. »Hanna? Hast du kurz …?«
»Was gibt’s?«
»Dieser …«, sie sieht auf ihr Tablet, »…Willi Stenger, unser Ansprechpartner heute Abend für alle Sachen, die den Kaisersaal betreffen …« Katarina realisiert, dass ich trotz des Rauchverbots geraucht habe, und wirkt kurz irritiert, spart sich aber einen Kommentar; sie will den Star des Abends ja nicht verärgern. Dabei ist der eigentliche Star des Abends jemand anderes – aber das weiß nur ich.
»Er meint, es gebe Stress am Eingang«, fährt sie fort. »Mit ’nem Typ, den du wohl auch kennst.« Sie sieht erneut auf ihr Tablet. »Egon Soboletzki. Und der meinte, dass er dich sprechen will. Persönlich und sofort. Er ist wohl nicht so ganz mit deinen … äh … Sicherheitsmaßnahmen am Eingang einverstanden.«
Mein Spiel, meine Regeln. Und die besagen, dass die Besucher und ihre Taschen am Eingang durchsucht werden. Und Handys abgegeben werden müssen. Auch Alkohol ist nicht erlaubt. Klar, dass jemand wie Soboletzki Stress macht, wenn man von ihm verlangt, sich durchsuchen zu lassen und Handy und Alk abzugeben.
»Kein Problem. Ich kümmere mich darum.«
»Das musst du nicht. Irgendwie kriegen wir das hin«, erwidert Katarina. »Ich wollte nur, dass du weißt …«
»Ich mach das schon«, unterbreche ich sie.
Katarina zieht eine Augenbraue hoch, was bei ihr immer sehr sexy aussieht. »Okay, du bist der Boss«, erwidert sie, wobei sie das »ay« von okay extrem in die Länge zieht. Dann schließt sie die Tür, und ich bin wieder alleine. Der Gedanke, den Kaisersaal zu durchqueren und von alten Schulkameraden, Würdenträgern des Dorfes oder – noch schlimmer – Fans angesprochen zu werden, stresst mich. Doch ich habe keine Wahl. Soboletzki ist eine tickende Zeitbombe, die entschärft werden muss.
Ich öffne die Tür einen Spalt und spähe in den Saal. Die in drei Meter Höhe befindlichen Fenster sind mit schwarzen Stoffbahnen abgehängt, das Licht der drei riesigen Kronleuchter ist gedimmt, fast schon schummrig. Alles ist komplett bestuhlt und schon zur Hälfte besetzt. Der Kaisersaal, ein wunderschöner, renovierter Veranstaltungsort aus dem 19. Jahrhundert mit Natursteinwänden und einer Holzdecke im Wabenstil, bietet Platz für knapp 400 Gäste. Und genau so viele werden heute Abend auch anwesend sein, die Lesung ist seit Wochen ausverkauft.
Die Location habe ich aus drei Gründen ausgewählt: Es gibt nur einen Ausgang. Die Fenster der Toiletten sind vergittert, und die Türen der beiden Notausgänge abschließbar.
Die Schlüssel dafür habe ich.
Im Publikum entdecke ich Birgit Görgen, die Bürgermeisterin von Woltersweiler. Korpulent. Randlose Brille. Kurze glatte Haare. Und sie trägt wie üblich ein Kostüm, das ihr mindestens zwei Nummern zu klein ist. Sie ist seit 2012 im Amt, hat sich souverän mit über 54 Prozent gegen ihre Gegenkandidatin durchgesetzt. In der Schule wurde sie nur Schmodder-Biggi genannt, da sie damals nicht wusste, dass man eine laufende Nase auch putzen kann. Ich denke, inzwischen weiß sie, wie es funktioniert. Sie ist in ein angeregtes Gespräch mit Lothar Meyer vertieft, dem glatzköpfigen Vereinsvorsitzenden und Mäzen des SV Woltersweiler, und beugt sich dabei über ihren Mann Roland, der neben ihr sitzt, um sich angemessen mit Meyer austauschen zu können. Roland wirkt genervt und bietet seiner Frau an, mit ihm den Platz zu tauschen, was sich Schmodder-Biggi nicht zweimal sagen lässt.
Ich nehme einen letzten Schluck Médoc, stelle das Glas auf den Couchtisch und atme tief durch. Als ich die Tür des Backstage-Raums hinter mir schließe, lächelt mir Katarina aufmunternd zu. Ich mache mich auf den mir endlos erscheinenden Weg zum Ausgang. Versuche, mich unsichtbar zu machen.
Erfolglos.
Alle starren mich an wie ein Alien. Manche lächeln, nicken mir verhalten zu, tuscheln miteinander und sehen mir hinterher. Ich weiß, dass sie mir hinterhersehen, ich kann ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Dennoch spricht mich keiner an, auch wenn auffallend viele Anwesende diverse Jules-Wunderlich-Romane dabeihaben, die sie wahrscheinlich unterschrieben haben wollen. Von einer Signierstunde vor oder nach der Lesung war aber nie die Rede.
Was mir auffällt: Keiner der Gäste scheint einen meiner beiden letzten Romane, in denen Jules nicht vorkommt, dabeizuhaben.
Erbse, mein Caterer, und sein Team füllen am bereits eröffneten Buffet an der Längsseite des Saals Getränke nach. Als er mich entdeckt, wandern seine Augenbrauen in die Höhe.
»Chefin mal in schick«, frotzelt er. »Det ick ditt noch erlebn darf.«
Er meint meine neuen Jeans, die Pumps, die frisch gebügelte weiße Bluse und die brandneue braune Lederjacke. Nicht gerade mein Standard-Outfit.
»Ich hasse es«, grummele ich. »Und das weißt du.«
»Weeß ick, steht dir trotzdem.«
»Alles in Ordnung bei euch?«
»Allet schick, allet im Griff, allet entspannt«, antwortet er. »Mach dir keen Kopp.«
»Mach ich mir nicht. Jedenfalls nicht wegen des Buffets.«
»Du rockst dit, hundertpro«, sagt Erbse lächelnd.
Genau wie meine Security-Leute habe ich ihn und seine Crew aus Berlin kommen lassen. Bei so einem Ereignis will ich nicht von lokalen Teams abhängig sein. Heute Abend muss alles nach Plan laufen.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie mein alter Schulkamerad Manfred Haag, der Dorfarzt von Woltersweiler, seinen Platz einnimmt. Bei ihm seine Frau Anita. Immer noch genau so sexy und charismatisch wie früher. Alle – nicht nur die Jungs – waren damals hoffnungslos in Anita verknallt. Doch nur einer bekam sie: Manfred. Die beiden sind seit 1988 zusammen. Er war seinerzeit der erfolgreiche und beliebte Mittelstürmer des SV Woltersweiler, sie die Tochter eines Lehrerpaares. Kurz vor Vertragsabschluss mit einem Regionalligaverein erlitt Manfred Ende der 1980er-Jahre eine schwere Knieverletzung, die seine Karriere beendete; daraufhin studierte er nach dem Abitur Medizin. Anita, heute Lehrerin an der Grundschule von Woltersweiler, war immer an seiner Seite.
Bevor die Haags mich entdecken können, verabschiede ich mich von Erbse.
»Wird schon schiefgehen«, versuche ich mich an einem Lächeln und gehe weiter in Richtung der beiden – noch – offenen Flügeltüren, hinter denen sich der Garderobenbereich befindet; daran schließt sich der eigentliche Eingang an, bei dem Soboletzki Stress macht.
Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ich drehe mich erschrocken um.
Schmodder-Biggi, die Bürgermeisterin.
»Hanna, entschuldige, aber ich muss dir unbedingt jemanden vorstellen.«
»Sorry, Biggi, aber ich …«
»Entspann dich, dauert keine zwei Minuten«, duldet sie...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | altes Geheimnis • Escape Room • Kriminalromane für Frauen • Schrifstellerin • Spannende Geschichten |
ISBN-10 | 3-492-98712-5 / 3492987125 |
ISBN-13 | 978-3-492-98712-7 / 9783492987127 |
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