Magier der Zeit: Phantastik Sammelband (eBook)
1400 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-4310-8 (ISBN)
Irgendwo, irgendwann
Gegen Abend erreichten sie den Pass. Tief unter ihnen im Tal erhob sich das neue Hypertor aus einem Meer von Mammutbirken und Felsnadeln: eine mächtige, kobaltblaue Kuppel. Elias ließ absitzen, befahl, die Elche abzuzäumen und in den Bergwald zu treiben. Jedem Befreiten teilte er einen Magier von Doxa zu. Alles geschah lautlos, niemand redete. Doch die bleichen und angespannten Gesichter sprachen Bände; die Angst war mit Händen zu greifen.
Auf dem Plateau am Ausgang des Passes kauerten sie zwischen Felsbrocken und mannshohem Brombeergestrüpp. Unten im Tal leuchteten die Birkenwipfel und die Felsspitzen im düsteren Blau der Torkuppel. Elias nickte dem hünenhaften Trouban und dem einäugigen Tenjas zu, neben ihm die erfahrensten Magier unter seinen Gefährten. Beide erhoben sich. Zusammen mit vier Doxanern ihrer magischen Kohorte huschten sie hangabwärts ins Dickicht.
Ihre Aufgabe: So viele Wächter des neuen Tores überwältigen wie irgend möglich, und dann das Kuppelportal für die Flüchtlinge öffnen.
Elias deutete hinüber zum Kamm auf der anderen Talseite und wandte sich nach den Doxanern und Niedermenschlichen um. „Achtet auf den Himmel über der Bergkuppe. Wenn ihr dort das Feuerzeichen sehen werdet, könnten wir es schaffen.“
In den stolzen Zügen der Doxaner las er Anspannung und Entschlossenheit, in den Mienen der befreiten Niederwesen weiter nichts als nackte Angst. Manche kauten an ihren Fingernägeln, andere hatten die Augen geschlossen und bewegten stumm die Lippen. Ein zerlumpter Greis mit langem weißem Bart zitterte und stützte sich auf einen ebenso zerlumpten Halbwüchsigen; dem bebte der Unterkiefer. Eine rothaarige Frau in edlem blauem Kleid verhüllte ihr Gesicht mit einem dunkelroten Schleier und öffnete die Arme einem wimmernden Mädchen.
„Erschreckt nicht, wenn ihr gleich den Himmel brennen seht!“, rief Elias. „Nehmt es als gutes Zeichen. Grund zum Schrecken habt ihr nur, falls dieses Zeichen ausbleibt. Dann flieht in die Wälder und rettet euch, wenn ihr könnt. Denn dann ist alles verloren.“
Halb verkrochen in den Armen und am Busen der Frau wandte das Mädchen sich nach ihm um. Aus großen furchtsamen Augen schaute es ihn an. Eigenartiges Kind. Der jüngste Niedermenschliche unter den befreiten Gefangenen. War die Frau seine Mutter? Beide steckten in ähnlich schönen Kleidern. Die Frau trug eine weiße Blume aus sichtbar edlem Stoff über ihrem Herzen. Dass dieser Schmuck all die Strapazen der vergangenen Wochen überstanden hatte ...
Elias riss sich los vom Anblick der beiden. In seinen Träumen hatte das Mädchen ihm das Leben gerettet. Dreimal schon. Lächerlich im Grunde. Warum aber vergaß er dann diese Träume nicht einfach?
Gleichgültig. Jetzt gab es Dringenderes als nächtliche Illusionen. Erst einmal jedoch hieß es: warten. Der nächste Schritt – der vorletzte in einer langen Reihe unumkehrbarer Schritte – der nächste Schritt hing ganz von Zarah und Batseba ab: Gelang es den Magisterinnen und ihren magischen Kohorten, den zweiten Schlüssel zum neuen Hypertor zu zerstören, würde er den Befehl geben, ins Tal hinab zu steigen und die Kuppel zu stürmen. Schafften sie es nicht, war es ganz und gar sinnlos, durch das neue Tor gehen zu wollen. Die Kohorten des Erzmagisters würden ihnen einfach folgen; und sie dann auf Arkanum Sieben vernichten, statt schon hier, auf Doxa.
Elias spähte hinüber zum Bergkamm auf der anderen Talseite. In einer Höhle irgendwo dort oben bereiteten Zarah und Batseba und ihre magische Kohorte in diesen Minuten die Attacke auf den Zweitschlüssel vor. Falls man sie nicht aufgespürt hatte.
Das fahle Blau des Abendhimmels erschreckte ihn. Wie ein alter Bluterguss, dachte er. Und die zerklüftete Silhouette der Bergkuppe erinnerte ihn an das Gebiss jener gefräßigen Fische, deren Schwärme jedes Lebewesen in Sekundenschnelle in ein Skelett verwandeln konnten. Wie fremdartig und bedrohlich ihm der Himmel seiner Heimat heute Abend erschien! Jetzt, wo er sie für immer verlassen wollte. Ob es den anderen auch so ging?
Elias blickte sich um: An die fünfzig Magier hatten beschlossen, das Gesetz von Doxa zu brechen und ihm durch das neue Tor zu folgen. Zwei Dutzend von ihnen knieten oder hockten hinter ihm zwischen Felsen und Brombeerhecken. Lauter Rebellen, lauter Todgeweihte. Ihre kantigen Gesichter schienen aus weißem Marmor gemeißelt zu sein. Manchen bebten die Wangenmuskeln, manche hatten feuchte Augen, einige wirkten ungeduldig; sie wollten es endlich hinter sich bringen. Keinem Magister und keiner Magisterin war nach Scherzen zumute. Oder gar nach Wetten. Die Zeit des Spielens war vorüber. Schon lange. Ob einer von ihnen seine Entscheidung bereute? Er jedenfalls bereute sie nicht. Gar nichts bereute Elias.
Zwischen den Gefährten kauerten etwa zwanzig Niedermenschliche beiderlei Geschlechts, jeden Lebensalters und jeder Schicht aus der Ankerraumzeit auf Arkanum Sieben. Wenige nur waren ähnlich edel angezogen und frisiert wie die Rothaarige in dem meerblauen Kleid oder wie das Kind.
Manche Frauen trugen unansehnliche Kleider, grau und lang, die Männer einfache Gehröcke über farbigen Westen oder taillierte bunte Mäntel, halblang und mit flügelartigen Schößen. Einer steckte in einer Art Uniform; allerdings hing ihm nur eine leere Klingenscheide am Brustgurt. Und zwei hatten sich seltsame Hüte auf den Kopf gestülpt: schwarz, steif, konusförmig und mit schmaler Krempe.
Der weißbärtige Greis und sein Enkel sahen schmutziger aus als alle anderen. Als einzige liefen sie barfuß. Fleckige Jacken, fadenscheinige Hemden und löchrige Hosen hingen ihnen in Fetzen von den dürren Leibern. Aus leeren Augen stierten sie vor sich hin.
Der Erzmagister hatte all diese Menschlichen verschleppen lassen, um sie zu studieren. Nichts Außergewöhnliches: Vor jedem neuen Großsprung wurden Ureinwohner herübergeholt, um ihre Eigenarten kennenzulernen; das gehörte nun einmal zur Routinevorbereitung eines neuen Arkanum-Projektes. Doch diesmal entwickelte sich alles anders als sonst. Ganz anders. Elias ballte die Fäuste. Diesmal lehnten fast fünfzig Magister das neue Arkanum-Projekt ab. Fünfzig Magister hatten beschlossen, das neue Hypertor zu zerstören! In den Annalen von Doxa las man von keinem vergleichbaren Vorgang.
Elias spähte wieder über das Tal hinweg zum nächsten Bergkamm. Hatte Zarahs und Batsebas Kohorte es unentdeckt bis hinauf zur Höhle geschafft? Von dort aus konnte man ins nächste Tal sehen – und bis zu der Festung, wo der Erzmagister den zweiten Schlüssel bewachen ließ. Der Abendhimmel war dunkler inzwischen. Grau und von violetten Schlieren durchzogen. Im Südosten schimmerte ein rötlicher Lichtfleck über den Gipfeln – der Mond ging auf.
Elias schloss die Augen, atmete tief. Noch spürte er seine Kraft. Noch fühlte er sich stark genug, auch die letzten beiden Schritte zu tun. Unter seinem weißblonden Langhaar tastete er nach der warmen weichen Wölbung in der Kuhle hinter dem rechten Ohr. Dort schlief sein Symbiont – sein engster Verbündeter, seine magische Rüstung.
Mehr als die Hälfte der Magier mussten die Flucht durchs neue Tor mit fremdem Symbionten wagen. Einige mussten ganz ohne ihr zweites Gehirn leben seit dem Streit mit dem Erzmagier. Der Uralte hatte allen, die er der Rebellion verdächtigte, den Symbionten rauben lassen. Manche darbten in Erdlöchern und unterirdischen Höhlen seitdem. Sie waren verloren.
Elias aber gehörte zu jenen mächtigen Magistern, die dem Uralten über jeden Verdacht erhaben zu sein schienen. Er war der Sohn des Erzmagisters. Bis zum Aufstand war er auch sein designierter Nachfolger gewesen.
Die Erde bebte, ein Raunen ging hinter ihm durch die Reihen der Gefährten. Er öffnete die Augen – und schloss sie sofort wieder, weil gleißendes, blaues Licht jenseits der Bergkuppe ihn blendete.
„Sie haben es geschafft!“ Jemand klopfte ihm auf die Schulter. „Zarah und Batseba haben es geschafft!“
Elias hielt die Hände schützend vor die Augen, blinzelte durch die Finger ins grellblaue Flammenmeer über dem Bergkamm – dort schien der Abendhimmel zu brennen. Weiße Blitze zuckten durch loderndes Licht, ein Feuerball in ständig wechselnden Blautönen blähte sich auf. Von fern grollte Donner, die Erde bebte heftiger.
„Ja“, murmelte er, „sie haben es geschafft.“ Kaum konnte er fassen, dass es tatsächlich geschehen war; das Herz schlug ihm in der Kehle, das Blut rauschte ihm in den Schläfen. Jetzt erst gestand er sich ein, dass er insgeheim gezweifelt hatte am Erfolg der beiden Magierinnen. Er blinzelte nach rechts, von wo der junge Hioban ihm noch immer auf die Schulter klopfte. „Sie haben es tatsächlich geschafft.“
Elias’ Rechte fuhr zu seinem Gurt hinab, wo in einer Schatulle der Originalschlüssel steckte, der erste Stringformer. Er selbst hatte ihn seinem Vater geraubt. Nun zog er ihn heraus und sprang auf. „Jetzt gibt es keinen Weg zurück mehr!“ Er deutete zur Torkuppel hinunter....
Erscheint lt. Verlag | 2.8.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
ISBN-10 | 3-7389-4310-2 / 3738943102 |
ISBN-13 | 978-3-7389-4310-8 / 9783738943108 |
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