Eisesschatten (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2390-9 (ISBN)
Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. Seine Krimis um Psychiaterin Nathalie Svensson sind in Schweden Bestseller. Er lebt und arbeitet als Arzt in Stockholm.
Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. Seine Krimis um Psychiaterin Nathalie Svensson sind in Schweden Bestseller. Er lebt und arbeitet als Arzt in Stockholm.
1
Uppsala, 24. Dezember
Nathalie Svensson gab den Code ein und hatte beim Verlassen der Abteilung das Gefühl, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Natürlich wurde wie oft um die Weihnachtsfeiertage im Lauf der Nacht eine ansehnliche und bunte Schar von Patienten eingeliefert. Doch sie hatte in einem sorgsam ausgewogenen Gleichgewicht aus Professionalität, Empathie und sozialer Rücksichtnahme die richtigen Patienten dabehalten beziehungsweise entlassen. Allerdings hatte sie später nach den Visiten mitunter den gegenteiligen Eindruck. Denn die Einschätzung des künftigen Schicksals einer Person fiel schwer, wenn man als Grundlage nur von den Angaben im nächtlichen Aufnahmeformular und einem zehnminütigen Gespräch ausgehen konnte.
Heute hatte sie der schizophrene Örjan Bäckström am meisten berührt, der sich immer an allen langen Feiertagswochenenden die Unterarme ritzte. Die Schnitte waren nie so tief, dass sie sich der Chirurg anschauen musste; weil er aber immer damit drohte, sich das Leben zu nehmen, wurde er in die Psychiatrie überwiesen. Nathalie hatte Örjan auf der Station behalten und sich gefragt, was für eine Gesellschaft wir erschaffen hatten, die jeden Tag Menschen aus Einsamkeit in den Selbstmord trieb.
Sie ging eine Treppe tiefer, hinunter in die Notaufnahme. Ihre Absätze hallten einsam in dem fensterlosen Treppenhaus wider. Es war halb zwei Uhr. Sie spürte dieses Ziehen im Bauch, das häufig das erste Anzeichen für Hunger war. Seit neun Uhr hatte sie ununterbrochen gearbeitet, und jetzt war es höchste Zeit fürs Mittagessen. Doch zuerst ging sie zu Schwester Berit, die am Aufnahmeregister stand und noch einen weiteren Patienten eintrug.
»Jetzt bin ich mit der Visite in der APIP fertig«, sagte Nathalie und schaute in Berits freundliche Augen, die jeden noch so neurotischen Patienten beruhigen konnten.
»Hier ist alles im grünen Bereich. Nur vier warten.«
Nathalie warf einen Blick auf den Monitor, auf dem das Wartezimmer auf der anderen Seite der abgeschlossenen Milchglastüren zu sehen war. Dort saßen ein halbes Dutzend Personen, deren Gesichter sie nicht deutlich erkennen konnte. Sie las im Aufnahmeregister nach, dass es sich dabei um einen Zwangsneurotiker, zwei Krisenreaktionen und eine mutmaßliche Depression handelte.
»Ich esse in der Teeküche schnell zu Mittag.«
»Reste vom Weihnachtsgericht stehen im Kühlschrank.«
»Danke, aber ich habe mir heute was mitgebracht«, lächelte Nathalie. Sie fühlte sich immer noch abgefüllt nach dem Weihnachtsschmaus, zu dem ihre Mutter Sonja sie und die Kinder eingeladen hatte. Heute früh hatte die Waage ihre Vorahnung nach dem Verzehr von Pfefferkuchen, Lucia-Gebäck und Weihnachtssüßigkeiten in diesem Monat bestätigt: drei Kilo mehr als das Matchgewicht. Obwohl sie sich mit ihren molligen Kurven wohlfühlte und oft Komplimente bekam, weil sie wie ein Plus-Size-Model aussah, gab es Grenzen. An Neujahr sollte das Louis-Vuitton-Kleid noch genauso schön sitzen wie bei der Anprobe im Nobelkaufhaus NK. Auf der ersten Silvesterfeier ohne die Kinder wollte sie wenigstens hübsch aussehen. Mit diesem Vorsatz machte sie sich die Weight-Watchers-Lasagne in der Mikrowelle warm, ließ ein Glas mit Leitungswasser volllaufen und setzte sich an den Tisch, der vor Marshmallow-Weihnachtsmännern, Sahnebonbons und Schokolade überquoll. Draußen hatte es angefangen zu dämmern. Wieder so ein Tag, an dem es draußen nicht richtig Tag wird, dachte sie und aß einen Bissen von der Lasagne.
Ihr Blick wanderte zu den Abendzeitungen des Vortages, die neben einer weihnachtlich geschmückten Amaryllis lagen. Die Titelseiten der beiden Blätter brachten Fotos von der Sechzehnjährigen aus Svartviken, die auf dem Weg zu ihrer Lucia-Krönung verschwunden war. Ebba Lindgren war für alle Schweden jetzt EBBA, und über ihr Schicksal sprach man im ganzen Land. Wer hatte sie auf dem Weg zur Kirche im Auto mitgenommen? Ihr Freund, der unbegleitete Flüchtlingsjunge Hamid? Oder ihr Ex-Freund Tony oder Ebbas Lehrer mit dem Spitznamen Pervo-Pierre? Oder war es der sogenannte »Fremde«, der eine Stunde vor der Entführung in dem einzigen Hotel des Dorfes gefrühstückt hatte? Nathalie hatte über den Fall alles gelesen und drehte die Zeitung instinktiv mit den Bildern nach unten. Ebbas Schicksal hatte sie ziemlich mitgenommen, und ihr Unbehagen verstärkte sich mit jedem Detail.
Ihr Mobiltelefon meldete sich: eine MMS von Gabriel. Sie klickte auf das Bild und spürte, wie die Lasagne im Mund aufquoll.
Hallo, Mama! Wir haben gerade unsere ersten Geschenke gekriegt. Guck mal, was für schöne Pullover wir von Papa und Tilde bekommen haben!
Gabriel und Tea standen vor Håkan und Tilde und lächelten mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf in die Kamera. Alle vier trugen Strickpullover mit weihnachtlichen Motiven. Nathalie war klar, dass das Bild nicht für sie bestimmt war, sondern fürs Fotoalbum der neuen Familie. Gabriel jedoch konnte weder ihre Eifersucht noch ihre Trauer nachempfinden. Für ihn waren ihre Gefühle genauso abstrakt wie die Traurigkeit seiner Mitschüler, wenn er etwas Gemeines sagte oder tat, und das hatte er in der Regel auch schon vergessen, wenn anschließend die Lehrkräfte mit ihm darüber sprachen.
Sie spülte den Mund leer und schaute sich weiter das Foto an: das Wohnzimmer in dem Einfamilienhaus, das sie und Håkan vor zehn Jahren gekauft hatten. Der Weihnachtsbaum stand an gewohnter Stelle, sonst war nichts wie vorher. Neue Vorhänge, neue Kissen und Decken. An der Wand hingen vier kakifarbene Sombreros, zwei davon in Kindergröße. Nathalie nahm an, dass sie von der Reise nach Kolumbien stammten, wohin Håkan und Tilde in den Herbstferien mit den Kindern gefahren waren.
Ihr fiel auf, dass sie seit ihrem Auszug nicht mehr in dem Wohnzimmer gewesen war, und sie beschlich das Gefühl von Verlassenheit, das sie bei ihren Patienten so gut zu mildern, bei sich selbst aber so schwer abzuwehren verstand.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie kannte die Antwort: Sie hatte die Scheidung gewollt. Das hatte sie nicht eine Sekunde bereut. Und es dauerte nur noch drei Tage, bis die Kinder wieder bei ihr waren. Jetzt musste sie sich zusammenreißen.
Sie betrachtete Tildes Bauch. Der war rund und schön. In zwei Monaten würde er ihr und Håkan das Kind der Liebe schenken, mit dessen Zeugung es den beiden nicht schnell genug hatte gehen können. In ihrem Inneren hörte sie, wie Tea und Gabriel begeistert diskutierten, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde und welchen Namen sie dem Baby geben würden.
Sie schaute auf, sah sich im Fenster und schrieb:
Superschön! Habe Riesensehnsucht nach euch!
Um neue Kraft zu tanken, dachte sie an Johan, erinnerte sich an seine Worte bei ihrer ersten Begegnung, dass sie Ähnlichkeit mit der Promi-Köchin aus der Fernsehsendung Leila backt habe, erinnerte sich an die Nacht im Hotelzimmer in Östersund und an das Abendessen, zu dem sie ihn eingeladen hatte. Das war drei Monate her. Seitdem hatten sie sich gegenseitig mit SMS und über Facetime gemeldet. Sie ertappte sich oft dabei, dass sie Sehnsucht nach ihm hatte, konnte aber diese Gefühle jetzt besser ausblenden. In den Wochen, in denen sie die Kinder hatte, funktionierte das problemlos, dann gaben sie ihr Wärme und sorgten rund um die Uhr für Beschäftigung. In den kinderfreien Wochen schaufelte sie sich mit Arbeit, Forschung und Studierendenbetreuung zu. Das klappte nicht immer gleich gut.
Das Übernachtungsappartement auf Östermalm, in Stockholms Promiviertel, nutzte sie immer seltener, und das Internet-Dating hatte sie fast ganz aufgegeben. Seit der Nacht mit Johan hatte sie nur einmal einen Mann mitgenommen. Das war aber ein spontaner Aufriss nach einem Kneipenabend, der nur bestätigte, dass One-Night-Stands nichts mehr für sie waren. Und eine neue Beziehung wollte sie nicht. Sie würde allein und frei leben, sich nur um die Kinder und sich selbst kümmern. Heute Abend hatte sie mit ihrem Chor ein Konzert, und morgen wollten sie, Josie und Cecilia ins Kino gehen.
Ein Tag nach dem anderen, und jetzt ist die Mittagspause zu Ende, beschloss sie und stellte das Geschirr in die Spülmaschine, warf zur Kontrolle einen Blick in den Spiegel, entfernte etwas Spinat, der zwischen den Zähnen hängen geblieben war, knöpfte ihren Arztkittel zu und verließ den Raum. Berit kam mit einem Aufnahmeformular in der Hand aus dem Wartezimmer.
»Wie gut, Nathalie, wir haben zwei Neuzugänge gekriegt.«
»Mit wem soll ich anfangen?«
»Mit dem aus Afghanistan, der ist wegen Depressionen und Angstzuständen hergekommen«, erklärte Berit und übergab Nathalie das Formular.
Mohammed Aziz, achtzehn Jahre, Erstaufnahme, Asylbewerber mit einer vorläufigen Versicherungsnummer, als wohnhaft in einer Flüchtlingsunterkunft in Fålhagen gemeldet.
»Die Kontaktaufnahme mit ihm ist leicht auffällig, er flackert mit den Augen und antwortet einsilbig«, berichtete Berit. »Sagt, er ist traurig und will nicht mehr leben.«
Nathalie schaute auf den Monitor. »Meinst du den, der da mit zwei anderen Typen auf der Bank sitzt?«
»Ja, den in...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2021 |
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Reihe/Serie | Ein Nathalie-Svensson-Krimi | Ein Nathalie-Svensson-Krimi |
Übersetzer | Dagmar Mißfeldt |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 5. Fall • blutig • der neue Moström • Ermittlungen • Fallanalyse • Göteborg • Kriminalroman • Krimiserie • Lehrer • Lucia • Lund • Mord • Nathalie Svensson • Profiler • Psychopath • Schweden • Schwedisch • Serienkiller • Skandinavienkrimi • spannend • Spannung • Spezialeinheit • Stockholm • Thriller • verschwundenes Mädchen • Weihnachten • Weihnachtskrimi |
ISBN-10 | 3-8437-2390-7 / 3843723907 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2390-9 / 9783843723909 |
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