Seelenflimmern (eBook)
348 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7519-4746-6 (ISBN)
Frank Schmidtkowski, geboren 1966, ist an der innerdeutschen Grenze in Nordhessen aufgewachsen und lebt in der Nähe von Limburg an der Lahn im Rhein-Lahn-Kreis. Er arbeitete viele Jahre als Dozent und Kriminalbeamter im Rhein-Main-Gebiet und ist nun als freier Autor tätig. In der Reihe 'Philosophische Kriminalromane' hat er bisher die Thriller 'Randgebiete der Menschheit' und 'Seelenflimmern' veröffentlicht.
I. Abschnitt
1.
Kinderherzen sind weich wie überreife Pfirsiche. Die Kruste des Lebens hat ihre Schalen noch nicht verhärtet. Die Erlebnisse der Kindheit und Jugend hinterlassen Druckstellen, die häufig bis zum Komposthaufen unseres Daseins sichtbar bleiben.
Ich erinnere mich noch genau an Weihnachten 1974. Heiligabend saß ich glücklich und unbeobachtet im Frottee-Schlafanzug vor meiner gerade aufgebauten Modelleisenbahn im Kreis meiner Familie. Ohne Vorankündigung erfasste mich ein heftiger Weinkrampf, den ich trotz kräftezehrender Anstrengungen nicht unterdrücken konnte, weil ich noch nicht gelernt hatte, meine Gefühle zu zähmen. Es war mir peinlich. Meinen Rücken den Gästen zugewandt, verließ ich das Wohnzimmer. Auf dem Weg zur Küche wischte ich mir mit dem Ärmel den Tränenschleier aus den Augen. Hektisch klappte ich die Sitzfläche der Eckbank auf und holte das überdimensionale, mit goldenen Pflanzen verzierte Familienalbum heraus. Mit zitternden Händen wuchtete ich es auf den Tisch und drehte die Rückfront nach oben. Die schwere Kartonseite schlug ich routiniert auf, um das letzte und schönste Bild der Sammlung zu sehen, das mich umgehend beruhigte. Meinen Vater Bruno bemerkte ich erst, als er bereits neben mir stand. Sein trauriger Blick, der ihn wie ein dunkler Schatten nun schon seit einigen Jahren begleitete, folgte meinem. Wortlos drückte er mich zärtlich an sich.
„Papa, es tut mir leid. Ich konnte mich auf einmal nicht mehr an ihr Gesicht erinnern.“ Mit schlechtem Gewissen suchte ich seine braunen Augen, die mich liebevoll und glänzend von oben anschauten.
„Adrian, du musst deine Gefühle nicht verstecken. Entschuldigen musst du dich schon gar nicht. Deine Mutter ist immer bei uns, in unserem Herzen, selbst wenn wir ihre Hülle schon lange nicht mehr im Geist nachzeichnen können.“
Es war eine der typischen blumigen Formulierungen meines Vaters, mit denen ich als kleiner Kerl nicht immer etwas anfangen konnte, aber ich spürte den Sinn hinter diesen Worten.
Ich wusste, dass er mir da etwas empfahl, was er sich selbst nicht gewährte. Mir gegenüber zeigte er immer Stärke und versuchte, seine Traurigkeit zu tarnen. Insgeheim war mir aber schmerzlich bewusst, wie sehr er tatsächlich litt. Seine teigblasse Gesichtsfarbe und den abgemagerten Körper konnte er nicht verbergen.
Im Alter von fünf Jahren hatte ich an einem trüben Tag im Winter 1971 die ungewöhnliche Hektik im Erdgeschoss bemerkt. Auf der Treppe sitzend lauschte ich den angsterfüllten Worten meiner Großeltern und meines Vaters. Ein unbekannter Mensch hatte meine Mutter mit seinem Auto gnadenlos aus dem Leben gerissen. Ihr Weg nach Hause, von einem Treffen mit Freundinnen, führte sie direkt ins Leichenschauhaus. Danach erinnere ich mich nur noch an die riesigen Schneeflocken, die den Sarg meiner Mutter wie eine wärmende Decke verhüllten, als er in die Erde hinabgelassen wurde. Der ganze Schrecken der Vergänglichkeit und der leidenschaftliche Wunsch, dem Tod entrinnen zu können, überkamen mich beim Verschwinden des Sarges. Das äußerst schlichte Ritual stellte eine denkbar vernünftige Lösung des Problems dar, jedoch eine, die auch immer irgendwie unbegreiflich blieb. Jedes Mal musste man es sehen, um es glauben zu können. Es war unwirklich und für mich undenkbar, dass dort meine Mutter Sonja verscharrt wurde und ich nicht mehr ihr ansteckendes Lachen bei einer unserer Schneeballschlachten hören sollte.
Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mich von den Gästen verabschiedet hatte, nahm ich in meinem Zimmer den unverständlichen Nachhall der Gespräche im Erdgeschoss wahr. Ich wartete nur kurz, aber gespannt auf meinen Vater. Jeder Tag meiner gemeinsamen Kindheit mit Bruno endete mit seiner sonoren Lesestimme und dem abenteuerlichen Ausflug in eine mir unbekannte Welt. Trotz vollem Haus machte er Heiligabend keine Ausnahme. Im Gegenteil, es standen die letzten Seiten der ‚Reise zum Mittelpunkt der Erde‘ an. Jules Verne war auch zur damaligen Zeit keine Lektüre, die viele Eltern ihrem achtjährigem Sohn angedeihen ließen, aber mein Vater sagte mir immer: „Adrian, die Synapsen im Gehirn verknüpfen sich nur durch Herausforderung.“
Das hörte sich zwar nach einem krankhaft ehrgeizigen Elternteil an, aber so war Bruno nicht. Für einen rationalen Wissenschaftler hatte er eine ungewohnt empathische Ader. Die Leseabende mündeten fast immer, nach einer Sintflut von Fragen meinerseits, in annähernd kindgerechte Erläuterungen zu den für mich unverständlichen Mysterien der vorgelesenen Passagen. Grundsätzlich verfiel mein Vater aber nie in eine infantile Lautsprache, sondern redete mit mir wie mit einem Erwachsenen.
Bruno klappte andächtig die Rückseite des Romans zu und sah mich still, aber mit wachen Augen an. Er wusste, dass ich nun ein wenig Zeit benötigte, um den Abschluss der Geschichte durch meine noch unerfahrenen Gehirnwindungen und meine heftigen Gefühlsschwingungen zu schleusen. Erst dann konnte ich sie verarbeiten und die Zügel meiner Fantasie freigeben. Nach einigen Minuten hielt mich mein Vater wieder für aufnahmefähig.
„Morgen Abend werden wir eine kleine Reise unternehmen. Es gibt keinen passenderen Zeitpunkt für eine derartige Expedition als nach der Lektüre dieses Buches. Ich werde dich zu einem geheimen Ort führen – aber nur unter einer Bedingung.“
„Ja, okay, ich schlafe auch gleich und lese nicht mehr.“ Damit wollte ich ihm zuvorkommen und meinen guten Willen zeigen.
„Du musst morgen nicht zur Schule und kannst gerne noch lesen. Nein, das ist es nicht. Adrian, du darfst niemandem von unserem morgigen Abenteuer und unserem Geheimnis erzählen. Nicht einmal deinem Freund Kim. Niemandem.“
„Auch nicht Mama?“, fragte ich mit verhaltener Stimme.
Mein Vater atmete schwer mit traurigem Lächeln aus.
„Ihr darfst du alles erzählen. Vor deiner Mutter haben wir keine Geheimnisse“, antwortete er zaghaft.
„Und dem lieben Gott?“, erkundigte ich mich.
Der Gesichtsausdruck meines Vaters entspannte sich. „Ja, das sind die einzigen zwei Ausnahmen, die wir gelten lassen“, erwiderte Bruno erheitert.
„Aber ich habe noch nie mit diesem Gott gesprochen, ihn nirgends gesehen. Auch oben im Dom, wo er ja wohnen soll, konnte ich ihn nicht treffen. Ich weiß nur, dass Kim ihn kennt. Jeden Abend vor dem Schlafen faltet er die Hände und redet mit ihm. Obwohl ich ganz leise war und mich auf jedes Geräusch konzentriert habe, konnte ich diesen Gott nicht hören.“ Es war der Beginn eines meiner gefürchteten Verhöre. Mit großen Augen und voller Erwartungen fixierte ich meinen Vater.
„Sonja und ich haben entschieden, dich religionsfrei zu erziehen, um dich nicht zu manipulieren. Das ist kein leichtes Thema, Adrian, aber wenn es dich dermaßen beschäftigt, will ich versuchen, es dir zu erklären. Wir Menschen sind zwar nicht dumm, aber unser Wissen ist auch heute noch sehr begrenzt. Wir begreifen zum Beispiel noch nicht mal genau, wie unsere Welt entstanden ist oder, um bei Jules Verne zu bleiben, wie es in unserem Erdinneren aussieht. Im Grunde wissen wir noch nicht mal, woraus wir selbst bestehen. Bisher hat noch niemand das Teil, das wir Atom nennen, gesehen, obwohl es auch uns und alles andere zusammenhält. Bis vor kurzem dachten die Menschen, dass Gewitter der Zorn eines übergeordneten Wesens ist, das wir ruhig Gott nennen können, das mit Blitzen und lautem Geschrei die Menschen für ihre Sünden bestraft.“
Darüber lachte ich, weil selbst ich wusste, wie Blitz und Donner entstehen.
„So wie du dich jetzt über unsere Vorfahren lustig machst, werden deine Kinder später über uns lachen, weil sie dann das für selbstverständlich halten werden, was wir heute noch nicht mal erahnen.“
„Sei doch nicht so streng, Papa. Erzähl lieber weiter.“
„So war das nicht gemeint, entschuldige. Also, Menschen wissen einerseits zwar wenig, haben jedoch andererseits eine Vorstellung von der Welt, wie sie beschaffen sein und funktionieren könnte. Religion ist sozusagen das Bindeglied zwischen den vermeintlich gesicherten Erkenntnissen, also der Wissenschaft, und unseren Vermutungen, dem Glauben. Zudem haben die Menschen erkannt, dass sie Werte und Regeln benötigen, um ihre Gemeinschaft zusammenzuhalten. Meist sind die Religionen in dicken Büchern erklärt und von vielen Mythen und Legenden durchsetzt.“
Ich hatte so viele Fragen, zum Beispiel, ob ‚Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‘ dann auch eine Religion sei, aber ich hielt mich zurück, weil mein Vater sich sichtlich Mühe gab.
„Das große Problem ist nun, dass es unzählige Religionen gibt. Es gibt nicht nur das Christentum, welches bei uns verbreitet ist, sondern den Islam, Hinduismus, Buddhismus, das Judentum, Naturreligionen und viele andere. Je nachdem, in welchem Land du geboren wirst, hämmert man dir von Kindesbeinen an das jeweilige Glaubensbekenntnis ein. Fast jede Religion nimmt für sich...
Erscheint lt. Verlag | 30.6.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7519-4746-9 / 3751947469 |
ISBN-13 | 978-3-7519-4746-6 / 9783751947466 |
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