Der Solist (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00236-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Solist -  Jan Seghers
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Polizist wird man aus Überzeugung. Was, wenn es die falsche ist? September 2017. Der Frankfurter Ermittler Neuhaus stößt zur neu gegru?ndeten Berliner «Sondereinheit Terrorabwehr», die in einer Baracke auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof residiert. Die Bundestagswahlen stehen bevor, in der Hauptstadt hat sich die Gefährdungslage drastisch verschärft. Neuhaus ist ein erfahrener Ermittler, doch die Berliner Kollegen begegnen ihm mit Skepsis. Nur die junge Deutschtu?rkin Suna-Marie kooperiert mit ihm. Da erschu?ttert eine Serie von Morden die Hauptstadt. Das erste Opfer: ein ju?discher Aktivist, das zweite eine muslimische Anwältin, weitere folgen. Was verbindet die Fälle? Neuhaus, der Solist, macht sich auf die Suche. Und in dieser Stadt, in der einen u?berall die Vergangenheit anspringt und die Gegenwart bedrängt, kämpft er allein. Fast allein.

Jan Seghers alias Matthias Altenburg wurde 1958 geboren. Der Schriftsteller, Kritiker und Essayist lebt in Frankfurt am Main. Nach dem großen Erfolg von «Ein allzu schönes Mädchen» und «Die Braut im Schnee» folgte «Partitur des Todes», ausgezeichnet mit dem Offenbacher Literaturpreis sowie dem Burgdorfer Krimipreis. Danach erschienen «Die Akte Rosenherz» sowie «Die Sterntaler Verschwörung» und «Menschenfischer». Seine Romane wurden für das ZDF verfilmt und von über 30 Millionen Menschen gesehen. Sein neuer Kriminalroman, «Der Solist», ist der erste Fall des eigensinnigen Ermittlers Neuhaus.

Jan Seghers alias Matthias Altenburg wurde 1958 geboren. Der Schriftsteller, Kritiker und Essayist lebt in Frankfurt am Main. Nach dem großen Erfolg von «Ein allzu schönes Mädchen» und «Die Braut im Schnee» folgte «Partitur des Todes», ausgezeichnet mit dem Offenbacher Literaturpreis sowie dem Burgdorfer Krimipreis. Danach erschienen «Die Akte Rosenherz» sowie «Die Sterntaler Verschwörung» und «Menschenfischer». Seine Romane wurden für das ZDF verfilmt und von über 30 Millionen Menschen gesehen. Sein neuer Kriminalroman, «Der Solist», ist der erste Fall des eigensinnigen Ermittlers Neuhaus.

EINS


Noch war Neuhaus in Frankfurt und hoffte, dass seine Mutter ihm öffnen würde. Das Haus lag einsam am nördlichen Rand, abgeschnitten vom Rest der Stadt durch die Autobahn auf der einen und die Ausfallstraße auf der anderen Seite.

Einsam und umtost.

Ein Häuschen eher, das jetzt immer mehr verkam, bestehend nur aus Parterre und Dachgeschoss. Hölzerne Fensterläden in zerschlissenem Grün, schlierig grauer Putz, ein zerzauster Garten. Dahinter begannen die Felder.

 

«Traumhafte Unterhaltung bei Wetten, dass..? wünscht Ihnen Früchte-Traum von Ehrmann», dröhnte es aus dem Fernseher. «Wetten, dass..? zeigt Ihnen heute live aus der Rhein-Ruhr-Halle in Duisburg: einen Mann mit Schaum vorm Mund, ein Motorrad auf Abwegen, Fußtritte en gros und ein Ei am Haken. Und den Megastar aus den USA! All das präsentiert Ihnen unser Star des Abends: Thooomaaas Gottschalk.»

«Er hat ihn wirklich gekriegt», sagte seine Mutter.

Neuhaus nahm die Fernbedienung, schaltete den Apparat auf stumm, ließ das Bild aber weiterlaufen. «Wer hat wen gekriegt?»

«Gottschalk. Er hat Michael Jackson in seine Show gekriegt.» Ihre Augen zeigten eine Genugtuung, als sei das Ganze auch ein wenig ihr Verdienst, weil sie der Sendung die Treue gehalten hatte.

«Wann war das, Mama?»

«1995.»

«Und das zeigen sie heute, nach 22 Jahren, noch mal?»

Sie schüttelte den Kopf, griff sich mit beiden Händen in ihre graue Mähne und bedachte den Sohn mit einem verrutschten Lächeln. Dummer Junge, dass man ihm aber auch immer alles erklären muss.

«Ach was. Ist eine VHS-Kassette. Hab ich bei eBay ersteigert. Ein Euro plus Versandkosten.»

Ob er jetzt wohl kapierte, wie gewitzt sie noch immer war?

«Warum stand die Haustür offen, Mama?»

«Der Hund sollte noch mal raus, aber er schläft lieber.»

Sie lag mehr, als sie saß, nein, sie lagerte auf ihrem Kanapee wie eine Gräfin oder Kurtisane, eine alte Hippiehexe, der man zu huldigen hatte, den Blick mit Hochmut gewappnet, aber zugleich flackernd. Lagerte im Halbdunkel, ihr Gesicht beschienen vom fahlen Licht des Bildschirms, wo der große Goldjunge charmant die Bühne querte, Zähne zeigte und seinen Gästen den Platz zuwies.

«Den findet jeder gut, der kann mit allen, oder?», fragte Neuhaus.

Ihre Lippen kräuselten sich. «Und? Spricht das gegen ihn?»

Er ließ sich in den Sessel fallen und verzog im selben Moment das Gesicht, angewidert von dem beißenden Geruch, der ihm entgegenschlug. Alles im Haus roch nach Hund, Hundehaare überall und getrockneter Rotz.

Neuhaus ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, fand einen Rest Fleischwurst, lockte den alten Retriever unter dem Couchtisch hervor und schickte ihn in den Garten.

Aufgewachsen war Neuhaus hier, in diesem Haus, bei seiner Großmutter. Über seinen Vater wusste er nichts. Seine Mutter, hatte Omi ihm damals erzählt, arbeite als Entwicklungshelferin in Afrika. Wo genau? Halt irgendwo in Afrika. Der Junge hatte es hingenommen, wie Kinder erst mal alles hinnehmen.

Einmal im Monat hatte die Mutter ihn angerufen, jeweils für eine Viertelstunde. Sie erzählte ihm Geschichten von Giraffen und Löwen, von Nashörnern und Elefanten. Und von schwarzen Kindern, denen sie Lesen und Schreiben beibringe. Dinge, von denen sie glaubte, dass ein deutscher Junge sie über Afrika wissen will. Bald wiederholten sich ihre Erzählungen. Von Mal zu Mal klang sie müder. Schließlich begann sie zu stottern. Ihre Anrufe wurden seltener, blieben irgendwann aus. Und er hörte auf, nach ihr zu fragen.

«Junge, ich wollte es dir ersparen», hatte Omi eines Tages gesagt, «aber ich glaube, sie ist gestorben dort unten.»

Dass sie nicht gestorben war, erfuhr er Jahre später, bei der Beerdigung seiner Großmutter. Er arbeitete längst für das Bundeskriminalamt und war in eine billige Wohnung im Taunus gezogen, in der er sich so selten wie möglich aufhielt. Von dort aus konnte er sowohl das BKA in Wiesbaden als auch den Frankfurter Hauptbahnhof und den Rhein-Main-Flughafen schnell erreichen.

Damals, am Grab seiner Großmutter, hatte er Mama zum ersten Mal nach all den Jahren wiedergesehen. Schön war sie ihm vorgekommen, stolz und verschlossen. Sie hatte ihn so scharf von der Seite angeschaut, dass seine Wange zu glühen begann. Er wandte sich zu ihr um. Zwei Wimpernschläge genügten, und er hatte alles in ihrem Gesicht gelesen: Verwunderung, Wohlgefallen, Gier, Angst. Sie beeilte sich, die Wahrheit hinter einem Lächeln zu verbergen. Mama, du bist eine Lügnerin, dachte er. Aber warum?

Sie wusste, dass er wusste; es stieß sie ab und zog sie an.

«Du kannst mich besuchen kommen, aber ich werde nicht reden», sagte sie. Da hatte sie bereits begriffen, dass er ihr ergeben sein würde. Er kam, stellte dennoch Fragen, und sie schwieg. Er liebte sie auch schweigend, und sie genoss es. Das alles war verrückt, sie wussten es beide, eben weil es ihre Geschichte war. Und sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihr um das Haus ging: «Meinst du, wir können uns einigen?» – «Du kannst es haben.»

 

Vor zwei Tagen war er abends nach einer Besprechung im Bundeskriminalamt in seine Wohnung gefahren, hatte den Briefkasten geleert und die Post auf den Küchentisch gelegt. Erst als er die Prospekte aussortierte, fiel ihm der kleine Umschlag auf. Er öffnete ihn, zog ein gefaltetes Blatt hervor und las:

«wenn du mehr über deine familie wissen willst schau dir das an aber schau es dir bis zum schluss an».

Ohne Punkt und Komma, ohne Absender, ohne Unterschrift. Darunter nur noch der Link eines Youtube-Videos.

Er schaltete sein Notebook ein und tippte die Zeichen in den Browser. Das Video hatte eine Länge von gerade mal vier Minuten und fünfzehn Sekunden. Ein User mit dem Namen ZeckenProject hatte es vor Jahren hochgeladen. Es trug den Titel «beerdigung von gudrun ensslin – andreas baader – jan-carl raspe». Eine Männerstimme nannte Zeit und Ort der Aufnahme: «Donnerstag, 27. Oktober 1977, Dornhaldenfriedhof, Stuttgart». Man sah junge Leute , viele von ihnen vermummt, über eine Wiese laufen und Transparente entfalten. Zwischen den Bäumen Uniformierte mit Schildkappen und Polizisten auf Pferden. Es kam zu Rangeleien, ein bärtiger Mann wurde abgeführt. Man hörte Gebrüll und Sprechchöre, über den Baumwipfeln kreiste ein Hubschrauber.

Was soll das?, dachte Neuhaus. Mit diesen Irren habe ich nichts zu tun. Ich war damals noch nicht einmal geboren.

Dann aber stutzte er. Im Off begann Joan Baez das Lied von Sacco und Vanzetti zu singen. Man sah eine junge Frau durch den Wald laufen, an der Hand ein vier-, vielleicht fünfjähriges Mädchen. Beide bekleidet mit langen Wollröcken und grobgestrickten Pullovern. Sie näherten sich einer schmalen Straße, blieben stehen und versuchten zu trampen. Als niemand hielt, trotteten sie weiter.

Wieder und wieder schaute Neuhaus sich die Passage an, dann endlich verstand er. Die Art, wie die Frau sich ins Haar griff, hatte sich in vierzig Jahren nicht verändert.

 

«Trink nicht so viel, Mama. Wir müssen reden. Du warst nie in Afrika, stimmt’s?»

Sie schenkte sich nach und ließ die leere Flasche auf den Boden rollen.

«Ach, Afrika», sagte sie, «fängst du schon wieder an? Afrika ist ein dunkles Loch mit Gittern vor den Fenstern. Die großen Schlüssel bewegen sich kreischend in den großen Schlössern. Alles rasselt und brüllt und stöhnt. Und jede Nacht springen dich die wilden Tiere an.»

«Ich habe dich in einem Film gesehen. Da musst du gerade schwanger mit mir gewesen sein. Wer ist das Mädchen? Habe ich eine Schwester?»

Ihr Kopf fuhr herum. Sie schaute ihn an.

«Du warst im Gefängnis.» Er hielt ihrem Blick stand.

«Wenn du es sowieso weißt.»

«Warst du eine Terroristin?»

«Ich war eine Genossin, aber den Unterschied verstehst du nicht. Jetzt bin ich eine alte Frau.»

«Ihr habt Leute umgebracht, Mama.»

«Ich habe nicht erwartet, dass ein Polizist mich versteht. Du kennst mich nicht.»

«Das ist nicht meine Schuld. Du warst nicht da. Und als du da warst, hast du nicht mit mir gesprochen. Ich weiß bis heute nicht, wer mein Vater ist. Aber ich will wissen, ob ich eine Schwester habe.»

Sie schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf. «Ich kann’s nicht», sagte sie. «Ich kann nicht drüber sprechen. Komm zu mir.»

Er setzte sich neben sie.

«Du bist ein schöner Junge.» Sie legte eine Hand auf seinen Oberarm.

Er zuckte zurück.

Sie schlug die Augen nieder.

«Also …»

Dann hörten sie beide den dumpfen Schlag aus dem oberen Stockwerk.

«Ich schaue nach.» Er war froh, sich von ihr zu lösen.

Im hell erleuchteten Schlafzimmer war eine Krähe durchs offene Fenster geflogen und gegen den Spiegel geprallt. Jetzt lag sie auf dem Boden, öffnete noch ein paarmal den Schnabel, aus dem ein dünner Faden Blut rann, dann war sie tot. Neuhaus nahm den Vogel, warf ihn ins Freie, in die Dunkelheit, ging ins Bad, holte einen Lappen und wischte die Dielen sauber.

 

«Was war?»

«Eine Krähe, du hast das Licht angelassen.»

«Vielleicht war sie krank. Oder ein Bussard hat sie gejagt.» Und nach einer Weile: «Wie geht es deiner …?» Mitten im Satz brach sie ab.

«Was willst du wissen, Mama?»

«Wie geht es deiner Frau?»

«Sie ist seit sieben Jahren tot, und das weißt du.»

«Bist du erleichtert?»

Er sah sie ungläubig...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Agententhriller • Anis Amri • Anschlag • Berlin • Berlin Krimi • BND • deutsche Thriller • Geheimdienst • Islamismus • Jude • Kreuzberg • Kriminalroman • Marthaler • Politthriller • Polizei • Rechtsextremismus • Spionagethriller • Terror • Terroranschlag • Terrorismus • Thriller
ISBN-10 3-644-00236-3 / 3644002363
ISBN-13 978-3-644-00236-4 / 9783644002364
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