Leben und Schicksal (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
1088 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2456-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben und Schicksal -  Wassili Grossman
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'Wassili Grossmans Jahrhundertepos Leben und Schicksal gilt mit gutem Recht als Krieg und Frieden der Stalin-Hitler-Ära.' Der Spiegel 'Wer die Wahrheit sucht im Lesen, Lebendigkeit, Liebe und Geschichte, der muss dieses Buch lesen.' FAS Als Anfang Februar 1943 die 6. deutsche Armee in StalingÌad kapituliert, bedeutet dies nicht nur die Wende im Zweiten Weltkrieg, für die Sowjets ist Stalingrad auch ein Wendepunkt in ihrem Verhältnis zu Diktatur und Terror. Mit großer Anteilnahme beschwört Wassili Grossman Episoden aus dem Kampf an der Wolga, erzählt vom Häftlingsleben und -sterben in deutschen KZ, Gefangenenlagern und in den sowjetischen Gulags, wobei die frappierende Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Sowjetregime offengelegt wird. Ob der Physiker Strum, die weitverzweigte Stalingrader Familie Schapownikow und der in einem deutschen Lager inhaftierte Michail Mostoskoi, oder die deutschen und sowjetischen Militärs, Wissenschaftler und Bürger - Wassili Grossman hat die vielen Einzelschicksale zu einem groß angelegten Erzählkosmos verwoben, der trotz der Schrecken des Totalitarismus von der einen Hoffnung nicht lässt: der einfachen menschliche Güte, die selbst dann ihre Wirkung zeigt, wenn die äußeren Ereignisse gleichgültig und brutal über sie hinweggehen.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.

4


Gegen Morgen hatte es geschneit, und der Schnee war bis zum Mittag liegen geblieben. Die Russen empfanden Freude und Trauer, Russland wehte zu ihnen herüber, breitete unter ihren armen, zermarterten Füßen sein mütterliches Tuch aus, bedeckte die Barackendächer mit reinem Weiß. Von weitem sahen diese ganz vertraut aus, wie im Dorf daheim.

Aber diese Freude, die für einen Augenblick aufgeleuchtet hatte, vermischte sich im Nu mit Traurigkeit, ertrank in Traurigkeit.

Der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst, der spanische Soldat Andrea, kam zu Mostowskoi und sagte in gebrochenem Französisch, dass sein Kamerad, der Schreiber, einen Brief gesehen habe, in dem von einem älteren Russen die Rede war, dass der Schreiber ihn jedoch nicht habe lesen können, weil der Kanzleivorsteher das Papier an sich genommen habe.

»Auf diesem Papier steht wohl die Entscheidung über mein Leben«, dachte Mostowskoi und freute sich über seine Ruhe.

»Keine Sorge«, flüsterte Andrea, »wir kriegen es schon noch heraus.«

»Vom Lagerkommandanten?«, fragte Guardi, und seine riesigen Augen glänzten schwarz im Halbdunkel. »Oder vom Vertreter der Sicherheitshauptverwaltung Liss persönlich?«

Mostowskoi wunderte sich, wie verschieden Guardis Wesen bei Tag und bei Nacht war. Tagsüber redete der Geistliche über die Suppe, über die Neuankömmlinge, sprach mit den Nachbarn den Tausch von Essensportionen ab, schwelgte in Erinnerungen an das scharfe, mit Knoblauch gewürzte italienische Essen.

Die kriegsgefangenen Rotarmisten kannten seinen Lieblingsspruch »Tutti caputti«; wenn sie ihn auf dem Lagerplatz trafen, schrien sie ihm schon von weitem zu: »Papascha Padre, tutti caputti«, und lächelten, so als hätten ihnen diese Worte Hoffnung gemacht. Sie nannten ihn »Papascha Padre« in der Meinung, »Padre« sei sein Vorname.

Eines späten Abends zogen die im Sonderblock verwahrten sowjetischen Kommandeure und Kommissare Guardi damit auf, ob er denn wirklich das Gelöbnis der Ehelosigkeit eingehalten habe.

Guardi hörte, ohne zu lächeln, dem Kauderwelsch aus französischen, deutschen und russischen Brocken zu.

Dann sprach er, und Mostowskoi übersetzte seine Worte. Die russischen Revolutionäre seien ja auch um einer Idee willen in die Katorga und aufs Schafott gegangen. Weshalb also zweifelten seine Gesprächspartner daran, dass ein Mann um einer religiösen Idee willen auf die vertraute Nähe zu einer Frau verzichten könne? Solch ein Verzicht sei doch nicht vergleichbar mit dem Opfer des Lebens.

»Na, sagen Sie das nicht«, meinte der Brigadekommissar Ossipow.

Nachts, wenn die Lagerinsassen eingeschlafen waren, wurde Guardi ein anderer. Er kniete auf seiner Pritsche und betete. Es schien, als könne alles Leiden der Lagerstadt in seinen leidenschaftlichen Augen, in ihrer gewölbten, samtenen Schwärze versinken. Die Adern spannten sich unter der braunen Haut seines Halses an, als arbeite er angestrengt, sein langes, apathisches Gesicht bekam einen glückseligen, wenn auch schwermütigen Ausdruck und war zugleich von Entschlossenheit erfüllt. Lange betete er, Michail Sidorowitsch schlief unter dem leisen, schnellen Geflüster des Italieners ein und wachte gewöhnlich nach eineinhalb bis zwei Stunden wieder auf; dann schlief Guardi schon. Der Italiener schlief heftig, im Schlaf gleichsam seine beiden Wesenshälften, die des Tages und die der Nacht, verschmelzend, er schmatzte mit den Lippen, knirschte mit den Zähnen, ließ donnernd Winde fahren, dann sprach er plötzlich wieder wunderbar getragene Gebetsworte über die Barmherzigkeit Gottes und der heiligen Mutter Maria.

Niemals machte er dem alten russischen Kommunisten wegen seines Unglaubens Vorhaltungen, sondern fragte ihn oft über die Sowjetunion aus.

Der Italiener nickte, wenn er Mostowskoi zuhörte, so als billige er die Erzählungen über geschlossene Kirchen und Klöster, über den riesigen Grundbesitz, den der Sowjetstaat dem Synod genommen hatte.

Seine schwarzen Augen ruhten traurig auf dem alten Kommunisten, und Michail Sidorowitsch fragte ärgerlich:

»Vous me comprenez?«

Guardi lächelte sein gewohntes Alltagslächeln, mit dem er über Ragout und Tomatensauce zu sprechen pflegte.

»Je comprends tout ce que vous dites, je ne comprends pas seulement, pourquoi vous dites cela.«

Die im Sonderblock untergebrachten russischen Kriegsgefangenen waren nicht von der Arbeit befreit, deshalb traf sich Mostowskoi nur in den späten Abend- und Nachtstunden zum Gespräch mit ihnen. Nicht zur Arbeit gingen General Guds und Brigadekommissar Ossipow.

Häufiger Gesprächspartner Mostowskois war ein seltsamer Mensch unbestimmbaren Alters, Ikonnikow-Morsch. Er schlief am schlechtesten Platz der ganzen Baracke, neben der Tür, wo er im kalten Durchzug lag und wo auch ein riesiger Kübel mit Ohrenhenkeln und schepperndem Deckel stand – die Latrine.

Die russischen Häftlinge nannten Ikonnikow-Morsch den »Latrinenalten«, hielten ihn für schwachsinnig und behandelten ihn mit geringschätzigem Mitleid. Er besaß eine unglaubliche Widerstandskraft, wie sie sonst nur Schwachsinnigen und Idioten eigen ist. Nie erkältete er sich, obwohl er die vom Herbstregen durchnässten Kleider nicht auszog, wenn er sich schlafen legte. Es schien, als könne tatsächlich nur ein Schwachsinniger mit einer solch klaren, hellklingenden Stimme sprechen.

Mit Mostowskoi schloss Ikonnikow-Morsch folgendermaßen Bekanntschaft: Er trat an Mostowskoi heran und schaute ihm lange schweigend ins Gesicht.

»Was hat der Genosse Gutes zu sagen?«, fragte Michail Sidorowitsch und lächelte spöttisch, als Ikonnikow in singendem Tonfall meinte: »Gutes sagen? Aber was ist gut?«

Diese Worte versetzten Michail Sidorowitsch in die Zeit seiner Kindheit, wenn der ältere Bruder aus dem Priesterseminar nach Hause kam und mit dem Vater ein Streitgespräch über theologische Probleme führte.

»Das ist eine Frage mit langem Bart«, sagte Mostowskoi, »darüber dachten schon die Buddhisten und die ersten Christen nach. Und auch die Marxisten haben sich nicht wenig angestrengt, eine Antwort zu finden.«

»Und, haben sie eine gefunden?«, fragte Ikonnikow in einem Tonfall, der Mostowskoi zum Lachen brachte.

»Unsere Rote Armee«, sagte Mostowskoi, »die ist gerade dabei, eine zu finden. Aber in Ihrem Tonfall schwingt, mit Verlaub, etwas Salbungsvolles mit, schwer zu sagen, was es ist – etwas Popenhaftes oder auch Tolstojanisches.«

»Wie sollte es auch anders sein?«, sagte Ikonnikow. »Ich war ja Tolstojaner.«

»Aha, da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte Michail Sidorowitsch. Der sonderbare Mensch begann ihn zu interessieren.

»Sehen Sie«, sagte Ikonnikow, »ich bin davon überzeugt, dass die Repressalien, mit denen die Bolschewiken nach der Revolution die Kirche belegten, der christlichen Idee von Nutzen waren, denn die Kirche befand sich vor der Revolution in einem erbärmlichen Zustand.«

Michail Sidorowitsch erwiderte gutmütig: »Sie sind ja ein richtiger Dialektiker. Auf meine alten Tage ist es mir noch vergönnt, ein Wunder aus dem Evangelium zu erleben.«

»Nein«, konterte Ikonnikow düster, »denn für Sie heiligt der Zweck die Mittel, Ihre Mittel aber sind erbarmungslos. In mir sehen Sie kein Wunder, ich bin kein Dialektiker.«

»Ach so«, sagte Mostowskoi, plötzlich gereizt, »womit kann ich Ihnen denn sonst dienen?«

Ikonnikow, in der Pose eines Soldaten in Habtachtstellung, antwortete: »Lachen Sie mich nicht aus!« Seine Stimme klang tragisch. »Ich bin nicht zum Witzemachen zu Ihnen gekommen. Am fünfzehnten September vorigen Jahres habe ich die Hinrichtung von zwanzigtausend Juden gesehen – Frauen, Kinder, Greise. An dem Tag habe ich begriffen, dass Gott so etwas nicht hätte zulassen können, und mir wurde klar, dass es Ihn nicht gibt. In der heutigen Finsternis sehe ich eure Kraft, sie kämpft mit dem furchtbaren Bösen.«

»Na denn«, sagte Michail Sidorowitsch, »reden wir halt.«

Ikonnikow arbeitete auf der Pflanzung im Sumpfgebiet der zum Lager gehörenden Ländereien, wo ein System riesiger Betonröhren verlegt wurde, das den Fluss und die schmutzigen Bächlein, die die Niederung sumpfig machten, ableiten sollte. Die Arbeiter in diesem Bereich hießen »Moorsoldaten«; gewöhnlich wurden hier die Leute eingesetzt, die der Lagerleitung besonders missliebig waren.

Ikonnikows Hände waren klein; dünne Finger und kindliche Fingernägel. Er war lehmverschmiert und nass von der Arbeit zurückgekommen, ging zu Mostowskois Pritsche und fragte:

»Erlauben Sie, dass ich mich neben Sie setze?«

Er setzte sich, lächelte und strich sich, ohne seinen Gesprächspartner anzusehen, über die Stirn. Seine Stirn war irgendwie merkwürdig – nicht besonders groß, gewölbt, hell, so hell, als existiere sie getrennt von den schmutzigen Ohren, den Händen mit den abgebrochenen Fingernägeln und dem dunkelbraunen Hals.

In den Augen der russischen Kriegsgefangenen, Menschen von einfacher Herkunft, war er ein obskurer und unverständlicher Zeitgenosse.

Ikonnikows Vorfahren waren seit Peter dem Großen von einer Generation zur andern Geistliche gewesen. Erst die letzte Generation der Ikonnikows schlug einen anderen Weg ein; alle Brüder Ikonnikows erhielten, nach dem Wunsch des Vaters, eine weltliche Ausbildung.

Ikonnikow hatte am Technischen Institut in Petersburg studiert, war dann aber begeisterter Tolstoi-Anhänger geworden. Im letzten Studienjahr hatte er sein Studium abgebrochen und war als Volksschullehrer in den Norden des Permer Gouvernements gegangen. Er verbrachte ungefähr acht Jahre auf dem Lande, dann zog er nach Süden, nach Odessa, heuerte auf einem...

Erscheint lt. Verlag 3.8.2020
Übersetzer Annelore Nitschke
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1943 • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Antisemitismus • Diktatur • Epos • Familie • Familienroman • Gefangenenlager • Geschichte • Gesellschaft • GULAG • Hinterland • Hitler • Juden • Judenverfolgung • Katastrophe • Konzentrationslager • Krieg • Kriegsroman • KZ • literarische Klassiker • Militär • Nationalsozialismus • Nazideutschland • Roman • Rote Armee • Russische Literatur • Russland • Schlacht • Schlacht von Stalingrad • Sowjetunion • Stalin • Stalingrad • Stalinismus • Tolstoi • Wehrmacht • Wolga • Wolgograd • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8437-2456-3 / 3843724563
ISBN-13 978-3-8437-2456-2 / 9783843724562
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