Paradise City (eBook)
281 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76500-5 (ISBN)
Deutschland in der nahen Zukunft. Die Küsten sind überschwemmt, weite Teile des Landes sind entvölkert, und die Natur erobert sich verlassene Ortschaften zurück. Berlin ist nur noch eine Kulisse für Touristen. Regierungssitz ist Frankfurt, das mit dem gesamten Rhein-Main-Gebiet zu einer einzigen Megacity verschmolzen ist. Dort, wo es eine Infrastruktur gibt, funktioniert sie einwandfrei. Nahezu das gesamte Leben wird von Algorithmen gesteuert. Allen geht es gut - solange sie keine Fragen stellen.
Liina, Rechercheurin bei einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale, wird in die Uckermark geschickt, um zu überprüfen, ob dort tatschlich Schakale eine Frau angefallen haben. Dabei sollte sie eigentlich eine brisante Story übernehmen. Während sie widerwillig ihren Job macht, hat ihr Chef einen höchst merkwürdigen Unfall, und eine junge Kollegin wird ermordet. Beide haben an der Story gearbeitet, die Liina versprochen war. Anfangs glaubt sie, es ginge um den Handel mit Gesundheitsdaten im großen Stil, doch dann stößt sie auf die schaurige Wahrheit: Jemand, der ihr sehr nahesteht, hat die Macht, über Leben und Tod fast aller Menschen im Land zu entscheiden. Und diese Macht gerät nun außer Kontrolle ...
<p>Zoë Beck, geboren 1975, ist Schriftstellerin, Übersetzerin (u. a. Amanda Lee Koe und James Grady), Verlegerin (CulturBooks) und Synchronregisseurin für Film und Fernsehen. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Zoë Beck zählt zu den wichtigsten deutschen Krimiautor*innen und wurde mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis, dem Radio-Bremen-Krimipreis und dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnet. <em>Edvard</em> ist ihr erstes Jugendbuch.</p>
1
Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. Sie steht noch einen Moment einfach da und lauscht, hört andere Vögel, versucht, sie zuzuordnen. Ihr Gesang füllt die Stille. Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.
Eine Birke liegt quer über der Straße, rundherum einzelne Äste. Das letzte Sommergewitter ist eine Woche her, seitdem ist niemand diese Straße entlanggefahren. Über ihr rauscht es, sie sieht auf zu einem Schwarm blaugrüner Papageien. Das Rauschen verschwindet mit ihnen hinter den Baumwipfeln. Liina räumt erst die losen Zweige weg, will dann den Baum beiseiteschieben, packt mit beiden Händen einen dickeren Ast, zerrt daran. Der umgestürzte Baum bewegt sich ein paar Zentimeter, vielleicht eher Millimeter, mehr schafft sie nicht. Ein anderer Geruch breitet sich aus, ekelhaft süßlich. Fliegen schwirren davon, und Liina lässt von dem Baum ab und weicht zurück. Die verrottenden Überreste eines Wolfs. Sie stößt unwillkürlich einen Laut aus, den niemand hört, atmet durch, nimmt einen zweiten Anlauf und zerrt die Birke mit dem Kadaver darunter gerade weit genug beiseite, um mit dem eMobil daran vorbeischleichen zu können. Bevor sie aufsteigt, bleibt sie eine Weile im Schatten stehen und schließt die Augen, wartet, bis ihr Herz ruhiger schlägt. Zu viel Anstrengung tut ihr nicht gut. Ihr Oberteil ist durchgeschwitzt, die kurze Hose klebt an ihr. Sie setzt sich auf das Fahrzeug.
Unterwegs versucht sie, ihren Chef zu erreichen. Er antwortet nicht. Er wird wissen, was sie ihm sagen will: Sie versteht nicht, warum er sie in die Uckermark geschickt hat, um eine Geschichte zu überprüfen, die an Reizarmut kaum zu überbieten ist. Sie fühlt sich verarscht.
Wäre sie er, sie würde auch nicht antworten.
Eine halbe Stunde und einen Beinahezusammenstoß mit einem Reh später findet sie die kleine Ortschaft, in der sie ihre Kontaktperson treffen soll. Das Ortsschild ist abmontiert, nur das leere Gestänge begrüßt sie. Die grauen Häuser rechts und links sind verlassen, teilweise in sich zusammengestürzt. Zerbrochene Fensterscheiben, wo noch Fenster sind, mit Brettern verrammelte Türen, hinter denen es nichts mehr zu holen gibt. Die Vorgärten am Straßenrand sind überwuchert. In ehemaligen Garagenauffahrten blühen wilde Kräuter, Bäume wachsen aus Geräteschuppen. Von der Hauptstraße gehen keine Seitenstraßen ab. Sie muss einem Rudel Katzen ausweichen, weil sich die Tiere mitten auf der Straße sonnen und keinerlei Anstalten machen abzuhauen.
Liina hält vor der Dorfkirche und steigt ab. Es ist hier genauso still wie im Wald, nur Vogelgezwitscher, das Surren von fetten Bienen und Hummeln. Sie bleibt einen Moment stehen und sieht sich um. Der Schaukasten vor der Kirche ist leer, ein blauer Schmetterling, die Flügel so groß wie ihre Hände, landet für einen Herzschlag darauf. Die Kirchentür steht halb offen und sieht aus, als stehe sie immer halb offen. Sie hört Männerstimmen hinter der Kirche. Liina schiebt ihre Sonnenbrille ins Haar und ruft den Namen der Kontaktperson. Er ruft zurück: »Hier hinten!« Sie schiebt sich die Sonnenbrille zurück auf die Nase.
Hinter der Kirche ist der Friedhof, mit mehr Grasfläche als Gräbern. Seit zwei Jahrzehnten ist hier niemand mehr beerdigt worden. Ihn umgibt eine Steinmauer, die an mehreren Stellen bereits einsehen musste, dass die Bäume, die innen wie außen wachsen, stärker sind. Drei Männer mittleren Alters sitzen auf einer grün gestrichenen Holzbank in der Mittagshitze und blinzeln in die Sonne. Liina lächelt und streicht ihr Top glatt, zupft an den Shorts, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, so dass die Männer es mitbekommen. Sie sollen glauben, dass es der Frau aus der Hauptstadt wichtig ist, was sie von ihr denken.
Die drei sind jünger, als sie dachte, das sieht sie erst, als sie vor ihnen steht. Vielleicht sind sie in ihrem Alter, Anfang dreißig. Ihre Körperhaltung lässt sie allerdings älter wirken – wie sie gekrümmt dort sitzen und ächzend die Beine ausstrecken.
Sie heißen Karl, Fritz und Igor, und es ist Igor, der behauptet, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie eine Frau vor zwei Tagen von einem Schakal zerfetzt worden ist. Igor hat es damit in die staatsweiten Nachrichten geschafft und ist so zum wohl berühmtesten Bewohner der Uckermark aufgestiegen. Er zeigt ihr die Kratzer an seinem Unterschenkel, die von dem gefährlichen Tier stammen sollen, aber bereits deutlich abgeheilt sind, was er bedauert. Wenigstens hat er noch Fotos davon, die er ihr zeigen kann. Auf einem sind oberflächliche Kratzer zu sehen, die genauso gut von einer Gabel stammen könnten. Ein dünner Blutstropfen scheint aus einem der Kratzer hervorzusickern. Auf einem anderen ist das Bein mit einem weißen Verband dick umwickelt, er sitzt auf derselben Bank wie jetzt und hält strahlend beide Daumen hochgereckt in die Kamera. »Der Star der Uckermark«, nennt ihn sein Freund Fritz, und Karl zaubert aus einer altmodischen Kühltasche unter der Bank ein paar Bierflaschen hervor. Liina lehnt höflich bedauernd ab. Etwas anderes bieten sie ihr nicht an.
Die Männer denken, dass sie Karin heißt und Zoologin ist. Sie lächelt pausenlos, nicht zu selbstbewusst, eher etwas schüchtern, während sie sich die Geschichte mit dem Schakal noch einmal erzählen lässt. Der Wortlaut ist nahezu identisch mit ihrem Vorgespräch am Morgen und entspricht dem, was Igor in den Nachrichten aufgesagt hat. Liina zeigt ihm Bilder von Wölfen, Kojoten, Luchsen, Schakalen und sogar Hyänen und will wissen, welche Sorte Schakal es denn war. Nach einigem Zögern, Blinzeln und Augenreiben zeigt Igor selbstbewusst auf das Foto eines etwas zerrupft aussehenden Fuchses. Mit Kennermiene nennt er ihn »Goldschakal«, und Liina nickt feierlich.
Man einigt sich darauf, wie schrecklich der Vorfall war und dass dringend etwas gegen die Wildtiere hier draußen getan werden muss, Wildschweine, Wölfe, auch Bären gebe es wieder, was komme als Nächstes. Liina gibt vor, die Bedenken der Männer sehr ernst zu nehmen, und versichert ihnen, dass sie als Zoologin in Regierungskreisen einen guten Ruf genießt und deshalb die Probleme der Region bei nächster Gelegenheit ansprechen wird. Karl, Fritz und Igor leeren ihre Bierflaschen und berichten dabei von ihrem Alltag als hartem Überlebenskampf, drei Männer ganz allein im Dorf, die nächsten Menschen zehn Kilometer entfernt, alles schwierig, aber man kommt klar und will nicht jammern, irgendjemand muss ja die ländlichen Strukturen aufrechterhalten, auch wenn es die Regierung kritisch sieht und auf Umsiedlung drängt. Die Zoologin aus der Hauptstadt zeigt sich tief beeindruckt von so viel Unabhängigkeit.
Liina spielt Karin wie all ihre Rollen perfekt bis in die kleinsten Gesten. Manchmal kommt es ihr vor, als sähe sie sich selbst wie durch eine Kamera. Du solltest Schauspielerin werden, sagte ihre Schwester früher manchmal zu ihr, wenn sie sie durchschaute.
Liina lässt Karins Lächeln auf Höhe der Kirche, kaum dass sie außer Sichtweite ist, sterben. Sie setzt sich auf das eMobil und fährt zurück nach Prenzlau. Wieder versucht sie, ihren Chef anzurufen, bekommt nicht einmal ein Kontaktzeichen. Der Empfang in dieser entvölkerten Gegend ist alles andere als optimal. GPS, Galileo, alles funktioniert nur mit Unterbrechungen, die Geschwindigkeit der Datenübermittlung – sofern etwas übermittelt wird – ist zum Weinen.
Gestern sagte er ohne Vorwarnung: »Es gibt eine Planänderung, du musst in die Uckermark. Hier sind die Infos, du wirst mit zwei Personen reden, aber nimm dir Zeit, vielleicht ist noch mehr an der Sache dran.«
Natürlich hatte Liina längst von der Meldung gehört. Sie hält sie für Regierungspropaganda, um irgendein Programm für den Tierschutz streichen zu können, weil es zu teuer geworden ist. Die großen Umweltziele werden nicht angetastet, aber die kleineren Maßnahmen lassen sich nach und nach ausdünnen. Und es gibt noch ganz andere Interessen, die hinter einer solchen Meldung stehen könnten: Menschen, die in Randlagen wohnen, sollten Waffen mit sich führen dürfen, fordern einige. Das Jagen und Schießen von Wildtieren müsse wieder erlaubt werden.
In diesem Jahr gab es bereits mehrere Geschichten dieser Art. Einmal hieß es, mehrere ...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
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ISBN-10 | 3-518-76500-0 / 3518765000 |
ISBN-13 | 978-3-518-76500-5 / 9783518765005 |
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