Triptychon (eBook)

Drei szenische Bilder

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
140 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75282-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Triptychon - Max Frisch
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Triptychon besteht aus drei Bildern, die nicht Stationen einer dramatischen Handlung sind, sondern drei szenische Aspekte zum Thema geben. Das erste: unsere gesellschaftliche Verlegenheit beim Ableben eines Menschen. Das zweite: die Toten unter sich, ihre langsam versiegenden Gespräche am Styx, wo es die Ewigkeit des Gewesenen, aber keine Erwartung gibt. Das dritte: der Lebende in der unlösbaren Beziehung zum toten Partner, der, was immer der Lebende tue, nicht umzudenken vermag.



Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Das zweite Bild


PERSONEN

Der Alte

Der Tankwart

Katrin

Der junge Pastor

Der Nachbar mit der Flöte

Der Clochard

Xaver

Klas

Die Greisin

Ein Pilot, stumm

Der Sträfling

Ein junger Spanier, stumm

Ilse

Ein Herr mit Rosen

Ein junger Bankangestellter

Jonas

Der Invalide

Ein Kind, stumm

Im Vordergrund der weiße Schaukelsessel, der leer steht. Die Bühne ist weit und leer und weiß. Irgendwo steht der alte Proll mit einer Angelrute in der Hand, als sei da ein Bach; nicht weit von ihm entfernt hockt ein Tankwart im Overall. Man hört ein kurzes Vogelzwitschern. Dann wieder Stille. Im Hintergrund erscheint der junge Pastor; er sieht sich um, als suche er jemand, und bleibt irgendwo stehen. Wieder das kurze Vogelzwitschern. Wieder Stille. Das weiße Licht bleibt unveränderlich.

ALTER Ich fische.

TANKWART Das sehe ich.

ALTER Warum fragen Sie denn.

Der Alte zieht die Angel, die leer ist, und wirft sie wieder aus.

TANKWART Früher standen hier Birken –

Katrin kommt und setzt sich in den weißen Schaukelsessel.

KATRIN Hier, ja hier habe ich einmal gesessen … Es geschieht nichts, was nicht schon geschehen ist, und ich bin Anfang dreißig. Es kommt nichts mehr dazu. In diesem Sessel habe ich geschaukelt. Es kommt nichts dazu, was ich nicht schon erfahren habe. Und ich bleibe Anfang dreißig. Was ich denke, das habe ich schon gedacht. Was ich höre, das habe ich gehört.

Man hört das Vogelzwitschern.

KATRIN Es ist wieder April.

Der Alte, der angelt, und der Tankwart.

TANKWART Früher standen hier Birken, lauter Birken. Und das war noch ein natürlicher Bach. Kein Kanal. Zu meiner Zeit. Ein Bach mit Steinen drin.

ALTER Das ist aber lang her.

TANKWART Damals gab es hier Forellen.

ALTER Ich weiß.

Pause.

ALTER Ein Bach mit Steinen drin, das stimmt, und mit Algen auf den Steinen, so daß man ausrutschte, wenn man barfuß über die Steine gehen wollte, und nachher die grünen Flecken an den Hosen –

Er zieht die Angel, die leer ist.

TANKWART Sie fangen ja gar nichts.

Der Alte gibt Köder an die Angel, wobei er verstummt; seine Hantierung zeigt, daß er kurzsichtig ist.

ALTER Das kann aber nicht stimmen, daß Sie sich an die Birken erinnern. Wann ist denn das Carosserie-Werk gebaut worden! Damals sind die Birken verschwunden.

TANKWART Das weiß ich.

ALTER Wie alt sind Sie denn?

TANKWART Einundvierzig.

Der Alte wirft die Angel wieder aus.

ALTER Damals bin ich noch zur Schule gegangen, und wir haben die Forellen gefangen mit der Hand. Ohne Patent. Das war verboten. Nur der Vater durfte sie fangen mit der Angelrute. Damals war es noch ein natürlicher Bach –

Pause.

TANKWART Jetzt hätten Sie ziehen sollen!

Pause.

ALTER Alle sagten: Es gibt keine neue Hose, keine neuen Schuhe, es gibt kein Fleisch, es ist Krise! Wurst gab es nur für den Vater.

Der Tankwart schweigt.

ALTER Das war aber lang vor dem Krieg, als die Birken gefällt wurden, und Sie sind einundvierzig, das ist ja gar nicht möglich, daß Sie sich an die Birken erinnern und an den natürlichen Bach.

Katrin im weißen Schaukelsessel; der junge Pastor ist in ihre Nähe gekommen, man hört wieder das Vogelzwitschern.

PASTOR Wie hier die Vögel zwitschern!

Katrin schaukelt.

KATRIN Wie auf einem Friedhof… Als Kind mußte ich täglich durch einen Friedhof gehen, das war der kürzere Weg zur Schule, und da stand zwischen Liguster so eine Büste aus Bronze: ein Herr mit Spitzbart. Das war nicht Lenin, sondern ein Botaniker – später hatte ich keine Angst mehr vor dieser Büste: der tut nur so, als schaue er mich an! Ich habe mit dem Finger seine beiden Augen berührt: Der tut nur so! Ich habe gemerkt: er ist überhaupt nicht neugierig, wie heute gelebt wird.

PASTOR Darf ich Sie etwas fragen?

KATRIN Einmal wurde der Liguster geschnitten, damit die schwarze Büste nicht verschwinde und damit man die Jahreszahlen auf dem Sockel lesen kann: 1875 bis 1917. Ein Mann im besten Alter. Ich hatte den Eindruck: Der möchte gar nicht ins Leben zurück, auch wenn da die Vögel zwitschern.

PASTOR Warum haben Sie Hand an sich gelegt?

KATRIN Ich bin nicht mehr neugierig.

Auftritt ein Mann, hemdsärmlig mit Hosenträgern und in Hausschuhen; er hat eine Querflöte in den Händen. Er bleibt stehen und sieht sich um, als vermisse er etwas.

Der Alte, der angelt, und der Tankwart.

ALTER Haben Sie etwas gesagt?

TANKWART Nein.

ALTER Ich auch nicht.

Der Alte zieht die Angel, die leer ist.

TANKWART Warum fischen Sie grad hier?

ALTER Hier bin ich aufgewachsen. Und zur Schule gegangen. Hier hat es Forellen gegeben, das sagen Sie ja selber. Hier haben wir Indianer gespielt. Hier bin ich ins Gefängnis gekommen – später einmal …

Der Alte wirft die Angel wieder aus.

Es kommt ein junger Mann in militärischer Uniform: ohne Mütze und ohne Waffe, die Uniform ist etwas verschlissen und von Lehm verschmiert. Er sieht Katrin im weißen Schaukelsessel und bleibt in einiger Entfernung stehen.

Der Alte mit der Angelrute und der Tankwart.

ALTER Die Juden! – das hat mein Vater immer gesagt: die haben das ganze Gelände gekauft, denn wer sonst hat das große Geld, wenn Krise ist, und die haben unsere Landschaft kaputtgemacht, die Juden.

TANKWART So ist es aber auch.

Der Mann mit der Querflöte, der abseits steht, beginnt zu üben.

KATRIN Hörst du das, Xaver, hörst du das? Unser Nachbar ist auch hier. Es ist grauenvoll, die Toten lernen nichts dazu.

Der Mann übt eine schwierige Passage, dann spielt er die ganze Melodie von Anfang an, bis ihm wieder derselbe Fehler unterläuft; er bricht ab.

KATRIN Herr Proll –!

ALTER Ich fische.

KATRIN Ich sitze in Ihrem weißen Sessel. Es ist April. Ich bin gekommen, um von Ihnen einen Rat zu hören –

Man hört das Vogelzwitschern.

KATRIN Sie möchten mich nicht wiedersehen, Proll?

Es erscheint ein Clochard und setzt sich auf den Boden, von niemand beachtet.

Der Alte, der angelt, und der Tankwart.

TANKWART Sie heißen Proll?

ALTER Ja.

TANKWART Ich auch.

ALTER Sie heißen auch Proll –?

Er sieht den sitzenden Tankwart zum ersten Mal an.

ALTER Ich verstehe: du kannst mich nicht erkennen, du hast mich nicht als alten Mann gesehen. Ich bin älter geworden als du, Vater.

TANKWART Du bist Matthis?

ALTER Man wird kurzsichtig.

Beide schauen wieder auf die Angel.

TANKWART Wieso bist du ins Gefängnis gekommen?

ALTER Schwächung der Wehrkraft.

TANKWART Was heißt das?

ALTER Sechs Monate. Genau gesagt: Festungshaft. Weil ich nach Spanien gefahren bin damals.

TANKWART Wieso nach Spanien?

ALTER Um den Faschismus zu verhindern. Damals. Das hast du ja alles nicht mehr erlebt, Vater.

Pause.

TANKWART Jetzt hättest du ziehen sollen!

ALTER Meinst du?

TANKWART Klar.

Der Alte zieht die Angel, die leer ist.

TANKWART Du ziehst zu spät. Das habe ich dir immer gesagt. Oder zu früh. Du denkst immer an irgend etwas anderes. Oder du machst den Köder nicht fest, man kann es dir zehnmal zeigen.

Der Tankwart steht auf.

TANKWART Gib her!

Er mustert die Angel, der Alte steht als Sohn daneben.

TANKWART Wie alt ist Mutter geworden?

ALTER Du hast sie in Schulden gelassen, das weißt du. Sie mußte in einem Warenhaus arbeiten. Nachts. Als Putzfrau. Sie war tüchtiger, als du gemeint hast. Später hatte sie einen Kiosk und machte jedes Jahr eine Reise. So eine Gesellschaftsreise mit Car. Zum Beispiel ins Tirol oder nach Venedig. Nach deinem Tod blühte sie richtig auf. Das sagte sie selber: Ich habe mehr vom Leben, seit ich Witwe bin.

TANKWART Was hast du für Köder?

Der Alte bückt sich und reicht eine Blechdose.

TANKWART Würmer.

Der Tankwart nimmt einen Wurm und zeigt dem Sohn, wie man die Angel hält, um den Köder zu befestigen.

TANKWART Schau her!

ALTER Ja, Vater.

TANKWART So macht man das.

ALTER Ja, Vater.

TANKWART Und noch einmal herum.

Der Tankwart wirft die Angel aus.

TANKWART Ist das nicht meine Angelrute?

ALTER Ja, Vater.

Der Clochard, der allein hockt.

CLOCHARD Weiter unten am Kanal sitzen elf Gastarbeiter, aber sie verstehen nur Türkisch. Der Herr, der am Gerüst gespart hat, so daß es eingestürzt ist, sitzt weiter oben am Kanal. Und der versteht kein Türkisch.

PASTOR Was wollen Sie damit sagen?

CLOCHARD Herr Pastor, es gibt kein Gericht.

Der Tankwart, der angelt, und der Alte...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Erzählung • Ewigkeit • Gesellschaft • Himmel • Jenseits • Leben • Max Frisch • Schweiz • ST 2261 • ST2261 • suhrkamp taschenbuch 2261 • Szenen • Tod • Trauer • Triptychon • Umgang • Vorstellung
ISBN-10 3-518-75282-0 / 3518752820
ISBN-13 978-3-518-75282-1 / 9783518752821
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