John Sinclair 2184 (eBook)
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-9670-6 (ISBN)
Zum ersten Mal an diesem Tag atmete Rebecca Thornton tief durch. Sie war Polizistin, und das mit Leib und Seele. Als Constable ging sie seit nun schon zwei Jahren mit Sergeant Craig Mahone in Norwich auf Streife. Seit ihrer Kindheit war sie hart im Nehmen, was Tragödien anging, aber irgendwann geriet auch sie an ihr Limit.
Als Jugendliche war es ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen, durch die mittelalterlichen Gassen des historischen Zentrums zu streifen, heute suchte sie mehr die Einsamkeit. Die Wälder rund um Saint Helena, einem kleinen Vorort nördlich von Norwich, boten genau das. Zu der abendlichen Stunde war so gut wie niemand hier unterwegs, nicht einmal Jogger oder Menschen, die ihre Hunde ausführten.
Andere fürchteten sich davor, um diese Zeit allein durch einen dichten, dunklen Tannenwald zu streifen. Zwar war die Umgebung in fahles Mondlicht getaucht, aber was hinter den Stämmen und zwischen den Büschen lauerte, war oft nicht einmal zu erahnen ...
Rebecca wusste sich jedoch zu wehren, zudem trug sie auch privat eine Pistole bei sich. Wenn tatsächlich jemand versuchen sollte, sie anzugreifen, würde er sein blaues Wunder erleben.
Wieder atmete sie tief durch und versuchte, nicht mehr an so etwas und besonders nicht an ihre Arbeit zu denken. Sie wollte sich einfach nur ganz weit weg fühlen, in ihrer eigenen Welt und verbunden mit der Natur. Einzelne Vogelrufe hallten durch den Wald, hin und wieder raschelte es auch, ansonsten war es still.
Rebecca vergrub die Hände in den Taschen der dicken Lederjacke, daneben trug sie noch einen braunen Pullover, Jeans und helle Turnschuhe. Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Sie fröstelte leicht, andererseits tat ihr die klare, kühle Nachtluft auch ungemein gut. Jeder Atemzug war wie eine Befreiung von der Last.
Sie dachte auch nicht mehr an Ben Hafner, einen sechzig Jahre alten Arbeitslosen, der seine Frau vor den Augen seiner jungen Tochter erschossen hatte. Durch den Anblick der Kleinen war sie erst in diesem Wald gelandet.
Sie lief einfach weiter, ohne groß darüber nachzudenken, wie viel Zeit sie in dem Wald verbrachte. Es war auch unwichtig, immerhin hatte sie am nächsten Tag dienstfrei, und zu Hause wartete niemand auf sie.
Als ein lauter, angsterfüllter Frauenschrei an den Tannen entlanghallte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Plötzlich war es mit ihrer Entspannung vorbei. Instinktiv griff sie unter den Pullover, zog ihre Glock 19 hervor und versuchte, den Ursprung des Schreis zu identifizieren.
Kein Tier gab mehr einen Laut ab, und auch sonst war es totenstill. Eingebildet hatte sie sich den Schrei sicher nicht, und von einem Reh oder Wildschwein war er ganz bestimmt nicht abgegeben worden. Vielleicht …
Ihre Gedanken brachen ab, als ein zweiter Schrei durch den Wald hallte, gefolgt von lautem Hufgetrappel. Diesmal wusste sie sofort, dass die Geräusche von Westen aus aufgeklungen waren. Ohne zu zögern verließ sie den Weg und stürmte in den Wald hinein. Büsche und kleine Bäume stieß sie dabei einfach zur Seite, bis sie sich mit dem Rücken gegen einen dicken Stamm fallen ließ, einen Blick auf die andere Seite warf und dann weiterlief.
Das Getrappel der Hufe schwoll an, und bald entdeckte sie inmitten des Waldes eine breite, mit fast brusthohen Gräsern bewachsene Lichtung. Was sich dort innerhalb des Mondlichts abspielte, ließ sie augenblicklich an ihrem Verstand zweifeln.
Zwei Frauen mit wehenden, langen Haaren rannten verzweifelt um ihr Leben, während eine Gestalt in einer silbernen, leicht grünlich schimmernden Ritterrüstung auf einem Pferd hinter ihnen herjagte. Das Reittier sah aus, als wäre es direkt aus einem Grab gestiegen, so offensichtlich war es verwest. Von seinem Schädel waren fast nur noch die blanken Knochen zu erkennen.
Der Ritter holte mit seiner linken Hand aus und griff zu. Der Dunkelhaarigen gelang es gerade noch, sich zur Seite zu werfen, die Blonde wurde jedoch in die Höhe gezerrt. Die Frau schrie wie von Sinnen, ohne sich gegen den eisenharten Griff ihres Peinigers wehren zu können.
Während Rebecca noch zu geschockt war, um wirklich zu reagieren, riss die Gestalt in der Rüstung die Zügel herum, sodass das Reittier herumfuhr und auf die zweite Frau zustürmen wollte. Bevor es dazu kam, materialisierte sich direkt davor eine weitere Gestalt. Ein Mensch war das nicht, das wusste Rebecca sofort. Was sie da sah, war ein gleißender Schein, der sie an das Licht des Mondes erinnerte, eingehüllt in einen dunklen Umhang.
Das untote Pferd wieherte lauthals und stellte sich auf die Hinterbeine. Wieder riss der Ritter die Zügel herum, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Er gab keinen einzigen Laut von sich, während er mit der blonden Frau, deren Nacken er mit der rechten Hand fest umklammerte, wieder auf den Wald zuhielt.
Endlich überwand Rebecca ihre Starre. Auch wenn es für sie unglaublich war, die Existenz dieser Lichtgestalt einfach hinzunehmen, war sie sich sicher, dass der Dunkelhaarigen keine Gefahr mehr drohte. Bei der zweiten Frau sah das ganz anders aus. Es war klar, dass ein solches Wesen – ob es nun ein Mensch war oder etwas ganz anderes – es nicht dabei belassen würde, sie zu entführen. Deshalb nahm sie auch die Verfolgung auf.
Sie verstand selbst nicht, warum sie das tat. Vielleicht folgte sie einfach ihren Instinkten als Polizistin. Denn eigentlich hatte sie eine höllische Angst, schließlich kannte sie Gestalten wie jene, hinter der sie herjagte, nur aus irgendwelchen Horrorfilmen.
Das Reittier galoppierte weiter und tauchte langsam in die Düsternis des Waldes ein. Das durfte Rebecca auf keinen Fall zulassen. Sie riss die Glock hoch, legte auf die Gestalt an und drückte ab. Drei Kugeln jagte sie aus dem Lauf, und zwei von ihnen trafen.
Aus Dokumentationen wusste sie, dass die mittelalterlichen Rüstungen nicht stark genug waren, um einer Pistolenkugel standzuhalten. In diesem Fall war das anders. Die Geschosse prallten einfach ab und sirrten Funken schlagend davon.
Trotzdem blieb ihre Aktion nicht erfolglos. Der Ritter stoppte sein Reittier und fuhr herum. Während die blonde Frau weiter verzweifelt versuchte, den harten Griff um ihren Nacken zu lösen, klappte ihr Peiniger mit seiner freien Hand das Visier auf. Zunächst sah Rebecca nichts als Schwärze, bis zwei helle Augen mit dunklen Pupillen erschienen. Es wirkte, als würden sie in einer dunklen Masse schwimmen, deren ekelerregender Gestank ihr selbst aus dieser Entfernung entgegenwehte.
Sie wollte noch einmal schießen, als unvermittelt zwei schleimige, tentakelartige Stränge aus dem Visier hervorschossen und den Kopf der noch jungen Frau umschlangen. Erst jetzt sah die Polizistin, dass sie eine blaue Jeans und ein dunkles, zerrissenes Top trug. Ihre Schreie gingen in einem grauenerregenden Gurgeln unter, bis sie ganz erstarben.
An ihrem ganzen Körper traten die Blutadern jetzt deutlich hervor – und platzten auf. Das Blut, das aus den Wunden hervorsprudelte, war nicht dunkelrot, sondern hell, beinahe beige. Es verband sich mit der schwarzen Masse, die ihren Kopf umklammerte, und wurde von dem, was hinter dem Visier der Rüstung lauerte, regelrecht aufgesaugt.
Die Frau zuckte noch einige Male, während es an ihrem Körper zu einer Metamorphose kam. Er schrumpfte zusammen, wurde zierlich, fast durchsichtig und wirkte bald wie zerbrechliches Glas. Rebecca sah, dass die Ohren aus der schwarzen Masse hervorstachen. Sie hatten jetzt spitze Enden, wie bei einer … Elfe. Sie schluckte, als ihr klar wurde, dass das wirklich geschah und kein Traum war.
Die Kleidung war der Frau jetzt viel zu weit geworden und rutschte einfach an ihr herab. Als sich kein Blut mehr in ihrem Körper befand, schlossen sich all ihre Wunden.
Der Ritter ließ den zarten Körper auf den Rücken seines Reittiers fallen und deutete mit der nun freien Hand in Rebeccas Richtung. »Du bist die Nächste«, kündigte er ihr an.
Da verlor die Polizistin endgültig die Fassung. Sie stieß einen lauten Schrei aus, legte auf den Kopf der Gestalt an und drückte ab. Wieder und wieder feuerte sie auf die Kreatur, denn nichts anderes war das Wesen auf dem einen entsetzlichen Anblick bietenden Reittier. Manche Kugeln prallten an der Rüstung ab, andere drangen durch das Visier in die schwarze Masse, in der die beiden weißen Augäpfel deutlich hervorstachen. Doch keines der Geschosse erzielte auch nur die geringste Wirkung.
Plötzlich erfasste sie die nackte Angst. Ohne die Reaktion des Ritters abzuwarten, wirbelte sie herum und rannte davon. Ihr Herz pumpte wie wild, und dennoch verlor sie nicht die Übersicht. Sie sah, dass die Lichtgestalt und die dunkelhaarige Frau verschwunden waren. Sie schob den Gedanken an sie beiseite, drang in den Wald ein und huschte an den düsteren Tannen vorbei, bis sie den Waldweg erreichte.
Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie dem Reiter nicht entkommen würde. Trotzdem lief sie weiter, selbst als erstes, leises Hufgetrappel an ihre Ohren drang. Ihr blanker Überlebenswille trieb sie voran, und wenn sie sich auf etwas verlassen konnte, dann auf ihre Kondition.
Rebecca glaubte, über den Boden zu fliegen, so schnell rannte sie durch den Wald. Trotzdem wurde das Getrappel immer lauter, und als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass das Pferd des Ritters nur knapp sechzig Meter hinter ihr über den breiten Weg galoppierte. Die Polizistin fluchte, schüttelte den Kopf und wischte sich die sich durch den kalten Nachtwind bildenden Tränen aus den Augen.
Ohne Vorwarnung strahlte wenige hundert Meter vor ihr ein grelles Scheinwerferpaar auf. Ein dunkles Fahrzeug jagte mit immenser Geschwindigkeit auf sie zu. Rebecca lief zunächst weiter, blieb dann aber stehen und wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Sie sah, wie der Ritter immer näher rückte, und auch der Wagen – ein dunkler Jeep – war nur noch wenige Dutzend Meter von ihr entfernt. Bevor er sie erreichte, riss der Fahrer sein Gefährt herum, sodass es mit der linken Seite direkt vor ihr zum Stehen kam.
Jemand stieß die Beifahrertür von innen auf und schrie ihr etwas zu, was sie nicht verstand. Sie wusste auch so, was zu tun war. Während bereits der Schatten des Reiters auf sie fiel, sprang sie in das Innere des Wagens. Sofort gab der Fahrer wieder Gas.
Rebecca wollte schon aufatmen, als sie sah, wer ihr das Leben gerettet hatte: niemand anderes als die Dunkelhaarige von der Lichtung.
»Ich war dir noch was schuldig«, rief die Fremde ihr zu. Die giftgrünen Pupillen ihrer Augen schienen leicht zu strahlen, was Rebecca leicht...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2020 |
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Reihe/Serie | John Sinclair |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Academy • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • e Book • eBook • E-Book • e books • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horrorthriller • Horror-Thriller • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Tony-Ballard • Top • Walking Dead |
ISBN-10 | 3-7325-9670-2 / 3732596702 |
ISBN-13 | 978-3-7325-9670-6 / 9783732596706 |
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