Der Mädchenwald (eBook)

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(Autor)

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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00386-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mädchenwald -  Sam Lloyd
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...und auch so bitterkalt. Auf dem Weg zum Jugendschachturnier wird die 13-jährige Elissa entführt. Als sie erwacht, liegt sie in einem dunklen Keller. Ihre Situation scheint aussichtslos - bis Elijah ihr Verlies entdeckt und sie heimlich zu besuchen beginnt. Elijah ist ein Einzelgänger, der mit seinen Eltern in einer abgeschiedenen Hütte im Wald lebt. Er kennt keine Handys und kein Internet, aber er weiß, es ist nicht richtig, dass Elissa gefangen gehalten wird; er weiß, er sollte jemandem davon erzählen. Aber er weiß auch, dass sein Leben aus den Fugen geraten wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Denn Elissa ist nicht die erste, die in den Mädchenwald gebracht wurde. Während draußen die Polizistin DI MacCullagh alle Hebel in Bewegung setzt, um das Mädchen zu finden, erkennt Elissa, dass ihr nur mit Elijahs Hilfe die Flucht gelingen kann. Doch der Junge ist sehr viel cleverer, als er zu sein vorgibt. Und er hat längst begonnen, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen...

Sam Lloyd wuchs im englischen Hampshire auf. Schon als kleiner Junge dachte er sich Geschichten aus und baute sich Verstecke in den umliegenden Wäldern. Heute lebt er mit seiner Frau und drei kleinen Söhnen in Surrey. Auf sein Debüt 'Der Mädchenwald' folgte 2022 sein Thriller 'Sturmopfer'.

Sam Lloyd wuchs im englischen Hampshire auf. Schon als kleiner Junge dachte er sich Geschichten aus und baute sich Verstecke in den umliegenden Wäldern. Heute lebt er mit seiner Frau und drei kleinen Söhnen in Surrey. Auf sein Debüt "Der Mädchenwald" folgte 2022 sein Thriller "Sturmopfer". Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.

Teil I


Elijah


Tag 6

I


Als sie wieder ins Zimmer kommen, sitze ich nicht mehr auf dem Stuhl. Stattdessen habe ich mich auf den Tisch gesetzt und lasse die nackten Beine baumeln. Ein rosafarbenes Pflaster klebt auf meinem Knie. Eigenartig, dass ich mich nicht daran erinnere, wie die Wunde zustande gekommen ist.

Sie ziehen die Augenbrauen hoch, als sie bemerken, dass ich mich umgesetzt habe, aber niemand sagt etwas dazu. Der Tisch ist am Boden festgeschraubt, sodass er nicht umkippen und mich verletzen kann. Mit zehn Jahren habe ich mir einmal das Bein gebrochen, als ich im Mädchenwald herumrannte. Ich bin fast daran gestorben, aber das war vor zwei Jahren. Jetzt bin ich viel vorsichtiger.

«Wir sind jetzt wohl fertig, Elijah», sagt einer von ihnen. «Freust du dich schon auf zu Hause?»

Ich schaue mich um. Zum ersten Mal bemerke ich, dass das Zimmer keine Fenster hat. Vielleicht liegt das an den Leuten, die sich hier normalerweise aufhalten – böse Menschen, nicht solche wie jetzt bei mir. Diese hier sind Polizisten, auch wenn sie keine Uniformen tragen. Vorhin hat mir der, der mir eine Cola gebracht hat, erzählt, dass sie Spielkleidung tragen. Vielleicht hat er auch nur einen Witz gemacht. Für einen Zwölfjährigen habe ich einen ziemlich hohen IQ, aber solche Scherze habe ich noch nie so richtig verstanden.

Einen Moment lang vergesse ich, dass sie mich immer noch beobachten und auf eine Antwort warten. Ich schaue auf und nicke, dabei baumele ich heftiger mit den Beinen. Warum sollte ich mich auch nicht auf zu Hause freuen?

Mein Gesicht verändert sich. Ich glaube, ich lächele.

II


Wir sitzen im Auto. Papa fährt. Zauber-Annie, die auf der anderen Seite des Mädchenwalds lebt, sagt, dass die meisten Kinder heutzutage ihre Eltern Mum und Dad nennen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das früher auch getan habe. Ich weiß auch nicht, warum ich irgendwann zu Mama und Papa übergegangen bin. Ich lese eine Menge Bücher, hauptsächlich, weil wir kein Geld für neuere Sachen haben. Vielleicht liegt es daran.

«Haben sie dich befragt?», will Papa wissen.

«Worüber?»

«Oh, einfach so.»

Er wird vor einer Kreuzung langsamer, obwohl er Vorfahrt hat. Immer schön vorsichtig, so ist Papa. Immer in Sorge, dass er einen Fahrradfahrer oder jemanden anfahren könnte, der gerade seinen Hund Gassi führt.

«Sie haben mich nach euch gefragt», sage ich.

Auf dem Beifahrersitz wendet Mama den Kopf und sieht ihn an. Papas Aufmerksamkeit bleibt auf die Straße gerichtet. Er hält das Lenkrad ganz sanft, die Handgelenke hat er angewinkelt. Das lässt ihn ein bisschen wie einen bettelnden Hund aussehen, und plötzlich muss ich an den Arthur-Sarnoff-Druck denken, der an unserer Wohnzimmerwand hängt. Er zeigt einen Beagle, der gegen eine Gruppe fieser Hunde mit Zigarren im Maul Billard spielt. Das Bild heißt Hey! One Leg on the Floor!, weil der Beagle auf einem Tritt steht, und das ist Mogeln. Mama hasst das Bild, aber ich mag es. Es ist das einzige Bild, das wir haben.

«Was haben sie dich denn gefragt?»

«Ach weißt du, über Papa, so Zeugs. Was du arbeitest, welche Hobbys du hast, solche Sachen.» Ich beschließe, ihre anderen Fragen noch nicht zu erwähnen, meine Antworten ebenfalls nicht. Erst brauche ich noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken. In den letzten Tagen ist eine Menge passiert, und ich muss das erst einmal verdauen. Manchmal kann das Leben ziemlich verwirrend sein, selbst für ein Kind mit einem hohen IQ.

«Und was hast du ihnen gesagt?»

«Ich habe gesagt, dass du Gärtner bist. Und dass du Dinge reparierst.» Ich mache eine Falte in das rosafarbene Pflaster auf meinem Knie und zucke zusammen. «Ich habe ihnen von der Krähe erzählt, die du gerettet hast.»

Wir fanden die Krähe eines Morgens draußen vor der Hintertür. Sie flatterte und hatte einen gebrochenen Flügel. Papa pflegte sie drei Tage lang, fütterte sie mit in Milch getunkten Brotstückchen. Am vierten Tag kamen wir nach unten, und sie war fort. Krähenknochen, sagte Papa damals, wachsen viel schneller wieder zusammen als Menschenknochen.

III


Wir kommen zum Stadtrand. Weniger Gebäude, weniger Menschen. Auf dem Bürgersteig entdecke ich zwei Jungen, die Schuluniformen tragen: graue Hosen, braune Jacketts, abgewetzte schwarze Schuhe. Sie sehen aus, als wären sie ungefähr in meinem Alter. Ich frage mich, wie es wohl ist, Unterricht in der Schule zu haben statt zu Hause. In unserem Haus gibt es kein Buch, das ich nicht mindestens zehnmal gelesen habe, daher bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gut wäre in der Schule. Zauber-Annie sagt, ich hätte einen beachtlichen Wortschatz für mein Alter. Es gab mal einen Dramatiker, der sechzigtausend Wörter kannte. Ich würde ihn gern schlagen, wenn ich kann.

Wir rasen vorbei, und ich lege die Handfläche ans Fenster. Ich stelle mir vor, wie sich die Jungen umdrehen und mir zuwinken. Aber sie tun es nicht, und dann sind sie auch schon fort.

«Hast du auch über mich gesprochen?», fragt Mama.

Ihr Gesicht ist immer noch zur Seite gewandt. Mir fällt auf, wie hübsch sie heute aussieht. Wenn die tiefstehende Sonne durch die Wolken bricht, leuchtet ihr Haar auf wie Piratengold. Sie sieht aus wie ein Engel oder wie eine von diesen königlichen Kriegerinnen, von denen ich gelesen habe: Boudicca vielleicht, oder Artemis. Ich möchte am liebsten nach vorn klettern und mich auf ihren Schoß setzen. Stattdessen verdrehe ich in gespielter Verzweiflung die Augen: «Ich bin doch kein kompletter Tölpel. Nur weil ich mich dieses eine Mal verlaufen habe.»

Tölpel ist mein neues Lieblingswort. Letzte Woche war es Schwadroneur, ein altes Wort für eine ausnehmend geschwätzige Person. In jedermanns Leben sollte es ein paar Schwadroneure geben, am besten zusammen mit ein paar Tölpeln, die ihnen Gesellschaft leisten.

Ich schaue erneut aus dem Fenster. Diesmal sehe ich nur Felder. «Ich hoffe, Gretel geht es gut.»

«Gretel?», fragt Papa.

Sofort habe ich ein komisches Gefühl im Bauch, eine schmierige Glitschigkeit, als wäre da eine Schlange in mir, die sich windet und ringelt. Gretel, fällt mir wieder ein, ist ein Geheimnis. Ich schaue hoch und fange Papas Blick im Rückspiegel auf. Er hat die Brauen zusammengezogen. Meine Hände beginnen zu zittern.

Ich sehe Mama an. Eine Ader an ihrem Hals pulsiert. «Es gibt keine Gretel, Elijah», sagt sie. «Ich dachte, das hättest du verstanden.»

Die Schlange schlängelt sich in meinem Bauch. «Ich … ich meine doch Zauber-Annie», stammele ich hektisch. «Das ist mein Spitzname für sie. Hab ich mir mal ausgedacht. Nur so aus Quatsch.»

Papas Augen schweben im Rückspiegel. «Ich finde, Zauber-Annie passt besser zu ihr als Gretel», sagt er. «Oder nicht, Sportsfreund?»

Ich habe einen sauren Geschmack im Mund, als hätte ich in einen Käfer oder in eine Kröte gebissen. Ich fahre mit der Zunge über meine Zähne und schlucke. «Ja, Papa.»

IV


Bei uns zu Hause ist es nicht wie in den Städten, die ich bei Zauber-Annie im Fernsehen gesehen habe. Es gibt hier keine hoch aufragenden Wohnblocks oder Reihen moderner Häuser – nur Wälder, Felder, Scheunen, Kuhställe und das Herrenhaus, das Rufus Hall heißt. Über das Land verstreut stehen ein paar Stein-Cottages, so wie unseres. Man nennt sie Dienst-Cottages, weil dort früher das Personal wohnte.

Hinter dem Mädchenwald liegt der Knöchelchensee. So heißt der See nicht wirklich – ich glaube, er hat gar keinen Namen. Aber ich habe einmal im Uferschilf drei winzige Knochen gefunden, durch Gelenke verbunden. Sie sahen aus wie die Knöchelchen im Zeigefinger eines kleinen Kindes. Ich habe sie in meine Sammlung von Andenken und seltsamen Funden gelegt, die ich in einer Tupper-Dose unter einem losen Dielenbrett in meinem Zimmer aufbewahre.

Nicht weit vom See liegt der Ort, den ich Schrottstadt nenne. Es ist eigentlich eher ein Lager als eine Ortschaft, eine bunt gemischte Ansammlung von Trucks und Wohnwagen, die vor langer Zeit hier abgestellt wurden und jetzt zu verrostet sind, als dass sie noch wegfahren könnten. Ich habe nie kapiert, warum die Meuniers die Schrottstadt-Leute auf ihrem Land wohnen lassen, aber sie tun es.

Die Meuniers leben oben in Rufus Hall, die beiden ganz allein in einem riesigen Haus. Leon Meunier verbringt die meiste Zeit in London. Aber wenn er auf seinem Anwesen ist, sehe ich ihn oft, dann fährt er mit seinem schwarzen Land Rover Defender herum und macht ein Gesicht, als hätte er Angst, dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Es wäre toll, einmal das Haus und seine Gärten zu erkunden, aber Papa erlaubt es nicht.

Wir halten vor unserem Haus. Mama senkt auf dem Beifahrersitz den Kopf. Ob sie wohl betet? Ich merke, dass meine Hände aufgehört haben zu zittern. Ich öffne den Gurt und lege die Hand auf den Türgriff, aber natürlich kann ich nicht raus. Meine Eltern haben immer noch die Kindersicherung eingeschaltet, obwohl ich schon zwölf Jahre alt bin.

Ich warte ab, bis Papa mir die Tür öffnet. Dann winde ich mich aus meinem Sitz. Er geht mit schweren Schritten den Gartenweg entlang, die Schultern hochgezogen, als lastete das Leid der ganzen Welt auf ihnen. Mama und ich gehen hinter ihm her.

Die Fenster unseres Cottages sind dunkel, sie geben keinerlei Hinweis darauf, was sich dahinter verbirgt. Es gibt keinen...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2020
Übersetzer Katharina Naumann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bäume • England • Entführung • Keller • Kinder • Kindesentführung • Krimi • Kriminalroman • Mädchen • Manipulation • Psychische Gewalt • Schach • Thriller • Wald
ISBN-10 3-644-00386-6 / 3644003866
ISBN-13 978-3-644-00386-6 / 9783644003866
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