Willemsens Jahreszeiten (eBook)

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2020 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491323-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Willemsens Jahreszeiten -  Roger Willemsen
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Roger Willemsens Kolumne »Willemsens Jahreszeiten« - veröffentlicht von 2010 bis 2015 im Magazin der ZEIT - erscheint hier erstmals gesammelt in Buchform: ein Feuerwerk rhetorischer Kapriolen und angriffslustiger Diagnosen. Ob Boulevard oder Berliner Politik, ob Schlutzkrapfen oder Pressknödel, bei Roger Willemsen suchen Sommerloch und Winterdepression das Weite. Hellsichtig und rasant unterhaltsam kommentiert er die Ereignisse vor dem Kurswechsel, den Teile der Gesellschaft seither vorgenommen haben - und zeigt sich als zeitlos unverzichtbar.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012 Insa Wilke wurde 1978 in Bremerhaven geboren und lebt als Publizistin, Literaturkritikerin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Sie veröffentlichte u.a. die Monographie ›Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch‹ (2010) und ›Bericht am Feuer. Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr‹ (2014). 2010 übernahm sie die Programmleitung im Literaturhaus Köln und gab diese Tätigkeit zugunsten des freiberuflichen Arbeitens 2012 wieder auf. 2014 wurde sie mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.

2010


Frühling


Da haben wir den Frühling! Doch das Gefühl dazu heißt Phlegma. Am »sausenden Webstuhl der Zeit« sitzen wir, gewiss, in einer »schnelllebigen«, »immer schneller werdenden«, rasanten Gegenwart, so sagt man. Aber mitten darin ist alles so still wie in einer dicken Suppe.

Den Bundestagswahlkampf haben wir gelangweilt ertragen, es ging zwar um uns, ganz um uns, aber inzwischen ödet es uns an dieses »Uns«. Die großen Wahlen haben wir vollbracht wie eine Riesenleistung, haben die entschleunigte Rhetorik der Jahreswechselansprachen überstanden mit all ihrem »wir müssen«, »wir dürfen nicht«, und was ist geblieben? Post-Coitum-Traurigkeit, bleierne Resignation, Je-m’en-Foutisme und kommende kleine Wahlen. Also noch mehr Pomposo, noch mehr Funktionsmasken im Konfettiregen, begleitet vom Spielmannszug der Plattitüden. Doch wo ist das große »Wir« bloß hin? Was ist aus unserem Neubeginn, um nicht zu sagen, aus unserem Wohl geworden? Eine von Krankenkassenbeiträgen, Fluglotsenstreiks und der Schlaglochproblematik bedrohte Ich-AG unter einem unbevölkerten Himmel.

Himmel? Lange wussten wir: Gott würfelt nicht. In diesem Frühjahr erfahren wir: Er ist eher Tischfeuerwerker, und wir sind Homo sapiens genug, bald zu wissen, was Sekunden nach dem Urknall geschah, als die Erde noch in der Fruchtblase kraulte. Physiker des Forschungs-Grals CERN simulierten diesen Zustand der Welt nach der Knall-Werdung. Warum können wir nun nicht beginnen, unseren Zustand nach der Polschmelze oder nach der Finanzkrise zu simulieren, also vom wahrscheinlichen Anfang auf das mögliche Ende zu blicken? Weil solche Forschungen, wie gerade publik geworden, von der Industrie diskreditiert werden? Ja, die letzten Fragen der Menschheit schaffen es immer nur auf einen der letzten Plätze in den Nachrichten. Auf die ersten Plätze schaffen es Pendlerpauschale und Heimwehzulage.

Anders gesagt: Nicht Osama bin Laden, den Kohl’schen Parteispenden, der Ermordung russischer Regimegegner kommen wir auf die Spur, aber der Entstehung des Weltalls. Nicht die Gletscher, die Artenvielfalt, das Weltklima retten wir, sondern die Gen-Kartoffel, das Ministerpräsidenten-Sponsoring, den guten Ruf und die schlechten Umfrageergebnisse. Die Tagespolitik ist dazu da, von den Jahrhundertveränderungen abzulenken. Wäre es anders, mit der »Zukunft« könnte man kaum Wahlkämpfe führen.

Das Jahr 2010 begann, und man dachte: Wie so weit und still die Welt! Überall saßen Eminenzen zwischen Kerzen und sagten, was wir sollen, sie sagten es sanft, damit sich ihre Worte nicht noch zu unseren Schrecken addieren. Angela Merkel stimmte uns auf ein hartes Jahr ein. Ihr eigenes wird so hart nicht werden dank windelweicher Rhetorik und einem Phantomschmerz namens SPD.

So sind denn auch aus Kopenhagen die Demonstranten ganz leise wieder heimgezogen. Ganz unbemerkt haben auch die Studenten ihre Streiks eingestellt, waren doch die Professoren oft radikaler gewesen als ihre Pflegebefohlenen. Durch den Lärm des Schweigens drang nichts, und die einzige Ruhestörerin in diesem Frieden war eine Frau, die den Papst am Weihnachtstag umriss. Aber sie wollte ihn bloß umarmen, und um das zu wollen, sprach die publizistische Ferndiagnostik, muss man schon »geistig verwirrt« sein.

Prophetisch, hat doch die Kirche seither dem Umarmen seinen guten Ruf genommen und den Eindruck erzeugt, als schändeten ihre Priester seit Jahrzehnten der Verjährung entgegen. Könnte es sein, dass sich so viele Ausnahmen allmählich zur Regel verdichten, dass ein totalitäres System wie die Kirche dergleichen zwangsläufig hervorbringt, oder, wie Dieter Hildebrandt so bündig fragte: »Die Kirche spricht von sexuellem Missbrauch? Versteh ich nicht. War doch Brauch!«

Doch der Vatikan ist kein Spielfeld und kein »Wiesenhof«: Beim DFB wurde die Fummelei unter Schiedsrichtern mit Runden Tischen nicht unter lebenslänglich bestraft, und kaum wurde der Verdacht ruchbar, bei Wiesenhof seien Hühner, wenn nicht sogar minderjährige Hähnchen, systematisch misshandelt worden, kam es zu einer Strafanzeige. Tierschutz ist eben manchmal schneller als Menschenschutz.

Denn jetzt, oh weh, Odenwald, Salem, Domspatzen, Windsbacher Knabenchor: überall »entsprechende Vorfälle«! Da hilft nur noch das äußerste Äußerste: eine Hotline, so heiß, dass sie gleich überlastet war. Deshalb musste der Vatikan sein Schweigen außertelefonisch auf die gute alte »urbi-et-orbi«-Art verbreiten. Das »reine Herz« des Bischofs Mixa allerdings entpuppte sich als unrein und konnte sich lange zum Rücktritt nicht durchringen, anders als das der Bischöfin Käßmann, die zwar unreinen Blutes war, ihr reines Herz aber auf dem rechten Fleck hatte.

Doch dann eine Stimme wie Donnerhall. Die Welt am Sonntag titelt: »Es reicht« – und alle, alle geben ihr recht. »Es reicht!« – »J’accuse!«, sie reinigt die Luft, diese »Abrechnung mit dem Winter«! Ja, da kann sich der Winter warm anziehen, wenn er die WamS gegen sich hat und ihre Käufer, die immer schon wollten, dass ihr Blatt mal die wahren Gegner identifiziert: die Jahreszeiten. Woher soll man es auch sonst nehmen, dieses Wir-Gefühl, diese Einigkeit in Recht und Nonsens? Wir vermissen dich, Schweinegrippe! Wir wollen dieses Pandemiegefühl zurück, wollen Bilder von fotogen geimpften Ministern und telegen euphorisierten Pharma-Hysterikern. Wir wollen wieder von einer Bedrohung, der Seuche, dem Winter, dem Gaspreis verwandt, zusammengetrieben werden. Es werde Wolke!

Und weil das so ist, konnten wir erleichtert feststellen, wie die identitätsstiftende Kraft des Feindbilds von Väterchen Frost auf Guido Westerwelle überging, der uns nebenbei lehrte: Satire darf zwar alles, kann aber nicht immer. Zum Beispiel kann sie nicht übertriebener tun, als Guido es schon ist. Der Außenminister, der ehemals im Wahlkampf darüber spekulierte, in wie vielen Stunden Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen München erreichen könnten, hat schon Monate nach seiner Wahl von der schlimmsten Drohung Gebrauch gemacht: »Ich werde mich nicht beirren lassen!« Seine Opfer, die Armen, leben in »spätrömischer Dekadenz«, seine Gegner sind »Sozialisten«, die »die DDR wieder wollen«, seine Kritiker treffen mit ihren Angriffen vor allem »meine Familie«. Das, nicht aber das Wahlkämpfen mit eingebildeten Kriegen, das Auftreten bei Big Brother oder das Gondelfahren für die Bunte in Venedig nennt er »für die politische Kultur in Deutschland eine traurige Entwicklung«. Immerhin wahr ist dagegen seine Behauptung: »Mein Ziel ist nicht Beliebtheit, sondern, das Richtige für unser Land zu tun.«

Das mögen Gott Genscher und Stuckrad-Barre, Guidos Eckermann, verhüten. Der schrieb ein paar Artikel für Springer-Blätter, band sie zum Buch, und die Zeit jubelte, einen besseren Chronisten unserer Zeit gebe es einfach nicht. Der Spiegel befand, dass man »unsere Republik im neuen Millennium« nur »begreifen« kann, wenn man das gelesen hat. Der Autor traute sich bei Westerwelle ans Äußerste und rekapitulierte: »Ich hab ihn mir ein paar Tage angeguckt und hatte dann irgendwann einen kurzen, zarten Moment mit ihm, als wir uns über Hautkrankheiten unterhalten haben.« Hier kommt, wie Adorno sagen würde, das Wort »zart« nach Hause. Abgesehen davon handelt es sich um das, was James Carville »the biggest act of public masturbation« nennen würde.

Yessir, wer das nicht gelesen hat, versteht unser Millennium nicht, und erst recht nicht die ganz große Politik in Gestalt der Angela Merkel, der sich der Pop-Senior nähert wie der Firmling der Madonna: »Und dann die Überraschung: Die gibt’s ja auch in echt! Die sitzt da jetzt wirklich, guckt einen an und fragt sich, was man gleich fragt. Das ist aufregend und lustig.« Noch Fragen, Millennium?

Dabei hätte es zu Angela Merkel doch so viele Meinungen gegeben, alle gedruckt: Merkel ist Kohl, Merkel ist die Kur gegen Kohl, Merkel ist »Frau Anti-Kohl«, »Mrs. Euro- pa«, »Frau Germania«, sie ist »Germany’s last und next Bundeskanzler« oder einfach das nationale Pin-up – jeder hat so seine Meinung, und je weniger man weiß, desto mehr kann man interpretieren.

So weiß man zwar nicht, wann sie von der Tanklaster-Katastrophe von Kundus erfahren hat, man weiß aber sicher, dass sie von eben dieser zu einer gänzlich neuartigen, hoch rhetorischen Edelfloskel inspiriert wurde, nämlich: »Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.« Merkel bereichert die deutsche Rhetorik um das konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann »zutiefst«, und wenn »zutiefst«, dann »natürlich«!

Dabei entpuppt es sich bei über 140 Toten des nächtlichen Angriffs als überraschende Infamie des Gegners, dass er nicht ausschließlich Taliban zum Laster vorgelassen hat, sondern auch Kinder ohne radikalislamische Gesinnungsprüfung. Und somit handelt es sich zwar um die mit Abstand größte Kriegskatastrophe der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt aber daheim doch noch genügend Patrioten, die dies im Tenor von »Wo gehobelt wird, da fallen Späne« kommentieren. Befindet man sich mit einem solchen Standpunkt zum Massentod von Zivilisten eigentlich noch auf dem Boden der Verfassung oder nur außerhalb der Humanität?

Solche Systemveränderer führen diesen Krieg vor allem als eine Schlacht der Vokabeln: Anfangs war dies eine Krise. Doch dann gab die Finanzkrise dem Wort einen schlechten Geschmack. Dann war...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2020
Nachwort Insa Wilke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 2010 • 2011 • 2012 • 2013 • 2014 • 2015 • AfD • Angela Merkel • Boulevard • Deutschland • DIE ZEIT • Gesellschaftskritik • Jahresrückblick • Jahreszeiten • Jahreszeitenkolumnen • Parteien • Polemik • Politik • Politiker • Roger Willemsen • Rückschau • SPD
ISBN-10 3-10-491323-4 / 3104913234
ISBN-13 978-3-10-491323-0 / 9783104913230
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