Wenn der Schnee ans Fenster fällt (eBook)

Winterliche Geschichten und Gedichte

Heide Franck (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491312-4 (ISBN)

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Wenn der Schnee ans Fenster fällt -
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Die ideale Lektüre für gemütliche Winterabende - Gedichte und Geschichten von Thomas Mann, Robert Gernhardt, Judith Hermann, Peter Stamm und vielen anderen. Winter Der Fjord mit seinen Inseln liegt wie eine Kreidezeichnung da; die Wälder träumen schnee-umschmiegt, und alles scheint so traulich nah. So heimlich ward die ganze Welt ... als dämpfte selbst das herbste Weh aus stillem, tiefem Wolkenzelt geliebter, weicher, leiser Schnee. Christian Morgenstern

Die winterlichen Geschichten und Gedichte eignen sich allesamt wunderbar für gemütliche Winterabende in der warmen Stube.

Oscar Wilde

Das Sternkind


Es waren einmal zwei arme Holzfäller, die gingen durch einen großen Tannenwald nach Hause. Es war Winter, und die Nacht war bitterkalt. Hoch lag der Schnee auf der Erde und auf den Ästen der Bäume. Zu ihrer Rechten und Linken knackte, wenn sie vorübergingen, der Frost die kleinen Zweige, und als sie zu dem Gebirgsbach kamen, hing er reglos in der Luft, denn die Eiskönigin hatte ihn geküßt.

So kalt war es, daß selbst die Tiere des Waldes und die Vögel nicht wußten, was sie davon halten sollten.

»Huuu!« knurrte der Wolf, als er durchs Unterholz humpelte, den Schwanz zwischen den Beinen. »Das ist doch tatsächlich ein scheußliches Wetter. Warum tut denn die Regierung nichts dagegen?« – »Uitt! Uitt! Uitt!« zwitscherten die grünen Hänflinge, »die alte Erde ist tot, und sie haben sie in ihrem weißen Leichentuch aufgebahrt.«

»Die Erde will Hochzeit halten, und das ist ihr Brautkleid«, gurrten die Turteltauben einander zu. Ihre kleinen rosa Füße waren schon ganz erfroren, aber sie hielten es für ihre Pflicht, die Lage in romantischem Licht zu betrachten.

»Unsinn!« brummte der Wolf. »Ich sage euch, das ist alles Schuld der Regierung, und wenn ihr es nicht glaubt, werde ich euch fressen.« Der Wolf war eine durch und durch praktische Natur und nie um ein schlagendes Argument verlegen.

»Nun, ich meinerseits«, versetzte der Specht, der ein geborener Philosoph war, »ich kümmere mich kein Atom um Erklärungen. Wenn etwas so ist, ist es so, und zur Zeit ist es entsetzlich kalt.«

Entsetzlich kalt war es nun allerdings wirklich. Die kleinen Eichhörnchen, die im Inneren des hohen Tannenbaums wohnten, rieben in einem fort ihre Nasen aneinander, um sich warm zu halten, und die Kaninchen lagen zusammengerollt in ihren Löchern und wagten es nicht einmal, zur Tür hinauszugucken. Die einzigen, die sich wohlzufühlen schienen, waren die großen Uhus. Ihr Gefieder war ganz steif vom Reif, aber das störte sie nicht. Sie rollten ihre großen gelben Augen und riefen einander quer durch den Wald zu: »Tu-uitt! Tu-wu! Tu-uitt! Tu-wuu! Was haben wir doch für ein herrliches Wetter!«

Weiter und weiter stapften die beiden Holzfäller, hauchten sich kräftig auf die Finger und stampften mit ihren riesigen eisenbeschlagenen Stiefeln auf dem festgefrorenen Schnee. Einmal versanken sie in einer tiefen Schneewehe und kamen so weiß heraus wie die Müller, wenn die Mühlsteine gerade Korn mahlen. Und einmal glitten sie aus auf dem harten, glatten Eis über dem gefrorenen Sumpf, und ihr Reisig fiel heraus aus den Bündeln, und sie mußten es aufklauben und wieder zusammenbinden. Und einmal glaubten sie schon, sie hätten den Weg verloren, und eine große Angst befiel sie, denn sie wußten, wie grausam der Schnee zu denen ist, die in seinen Armen einschlafen. Aber sie setzten ihr Vertrauen auf den guten heiligen Martin, der über allen Wanderern wacht, gingen auf ihren Spuren zurück und dann sehr vorsichtig weiter, und endlich erreichten sie den Waldrand und sahen tief unten im Tal unter sich die Lichter des Dorfes, in welchem sie lebten.

So überglücklich waren sie über ihre Rettung, daß sie aus vollem Halse lachten, und die Erde kam ihnen vor wie eine Blume aus Silber und der Mond wie eine Blume aus Gold.

Doch nachdem sie gelacht hatten, wurden sie traurig, denn sie dachten an ihre Armut, und der eine von ihnen sagte zu dem andern: »Warum haben wir uns nur so gefreut, wo doch das Leben für die Reichen ist und nicht für solche wie uns? Besser wären wir im Wald umgekommen vor Kälte oder ein wildes Tier hätte uns angefallen und zerrissen.«

»Wahrlich«, erwiderte sein Gefährte, »manchen ist viel gegeben, anderen aber nur wenig. Das Unrecht hat die Welt verteilt, und nur der Kummer ist einem jeden gleich zugemessen.« Doch während sie einander ihr Elend klagten, geschah etwas Seltsames: Vom Himmel fiel ein hellglänzender, schöner Stern. Er glitt am Himmel seitlich herab, vorbei an den anderen Sternen auf seinem Lauf, und da sie ihm staunend mit den Augen folgten, kam es ihnen vor, als ginge er hinter einer Gruppe von Weidenbäumen nieder, die nahe an einer kleinen Schafhürde stand, nicht mehr als einen Steinwurf von ihnen entfernt.

»Hoho! Da liegt ein Topf voll Gold für den, der ihn findet«, riefen sie und stürzten los und rannten, so begierig waren sie auf das Gold.

Und der eine von ihnen lief schneller als sein Gefährte und überholte ihn und bahnte sich einen Weg durch die Weiden und kam auf der anderen Seite wieder heraus, und siehe! da lag wirklich etwas Goldenes auf dem weißen Schnee. Er eilte also darauf zu, beugte sich nieder und berührte es mit den Händen, und es war ein Umhang aus Goldgewebe, mit Sternen wundersam durchwirkt und in viele Falten geschlungen. Und er rief seinem Gefährten zu, er hätte den Schatz gefunden, der vom Himmel gefallen war, und als sein Gefährte herzukam, setzten sie sich in den Schnee und lösten die Knoten des Umhangs, daß sie die Goldstücke unter sich teilten. Aber ach! Da war weder Gold darin noch Silber, noch sonst ein Schatz, sondern nur ein kleines Kind, das ruhig schlief.

Und der eine von ihnen sagte zu dem andern: »Das ist ein bitteres Ende für unsere Hoffnung, und gar kein Glück ist uns beschieden, denn was bringt ein Kind dem Manne für einen Nutzen? Wir wollen es hier liegenlassen und unseres Weges gehen, denn wir sind arme Leute und haben selber Kinder, deren Brot wir nicht an ein fremdes Kind verschenken dürfen.«

Aber sein Gefährte entgegnete ihm: »Nein, es wäre übel gehandelt, wenn wir das Kind hier im Schnee umkommen ließen. Bin ich gleich ebenso arm wie du und habe viele Mäuler zu stopfen und nur wenig im Topf, so will ich es doch mit mir nach Haus tragen, und mein Weib soll sich seiner annehmen.«

Und er hob das Kind behutsam auf und hüllte es in den Umhang, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen, und ging den Hügel hinab auf das Dorf zu; und sein Gefährte wunderte sich sehr über seine Torheit und sein weiches Herz.

Und als sie ins Dorf kamen, sagte sein Gefährte zu ihm: »Du hast das Kind, so gib mir den Umhang, denn es ist nur recht und billig, daß wir teilen.«

Doch der andere erwiderte: »Nein, denn der Umhang gehört weder mir noch dir, sondern einzig dem Kind«, und er sagte ihm Lebewohl und gelangte zu seinem eigenen Haus und klopfte an.

Und als sein Weib die Tür öffnete und sah, daß ihr Mann heil zu ihr zurückgekehrt war, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn und nahm ihm das Reisigbündel vom Rücken und bürstete den Schnee von seinen Stiefeln und hieß ihn eintreten.

Er aber sagte zu ihr: »Ich habe im Wald etwas gefunden und dir mitgebracht, auf daß du dich seiner annimmst«, und er wich nicht von der Schwelle.

»Was ist es?« rief sie. »Zeig es mir, denn das Haus ist leer, und es fehlt uns an vielen Dingen.« Da schlug er den Umhang zurück und zeigte ihr das schlafende Kind.

»Ach, lieber Mann!« murrte sie. »Haben wir nicht genug eigene Kinder, daß du uns noch einen Wechselbalg ins Haus schleppen mußt? Und wer weiß, ob es nicht Unglück bringt? Und wie sollen wir es aufziehen?« Und sie war sehr zornig über ihn.

»Ja, aber es ist ein Sternkind«, antwortete er und erzählte ihr, auf wie seltsame Art er es gefunden hatte. Aber sie wollte sich nicht beschwichtigen lassen, sondern spottete seiner und sprach im Zorn und rief: »Unsere Kinder haben kein Brot, und wir sollen das Kind eines anderen füttern? Wer kümmert sich denn um uns? Und wer gibt uns Brot?« – »Gott behütet auch die Sperlinge und gibt ihnen Brot«, antwortete er.

»Sterben nicht die Sperlinge im Winter vor Hunger?« fragte sie. »Und ist jetzt nicht Winter?« Und der Mann erwiderte nichts, wich aber nicht von der Schwelle. Und ein bitterer Wind wehte vom Wald herein durch die offene Tür und ließ sie erzittern, und sie schauerte und sagte zu ihm: »Willst du nicht die Tür schließen? Bitterer Wind bläst herein ins Haus, und mir ist kalt.«

»In ein Haus, in dem ein hartes Herz ist, bläst da nicht immer ein bitterer Wind?« fragte er. Und die Frau gab ihm keine Antwort, sondern rückte nur näher ans Feuer. Und nach einer Weile wandte sie sich um und blickte ihn an, und ihre Augen waren voll Tränen. Und geschwind trat er ein und legte das Kind in ihre Arme, und sie küßte es und legte es in ein kleines Bett, wo das jüngste ihrer eigenen Kinder schlief. Und am Morgen nahm der Holzfäller den seltsamen Umhang aus Gold und tat ihn in eine große Truhe, und die Frau nahm eine Bernsteinkette, die um des Kindes Nacken lag, und tat sie gleichfalls dazu.

Und so wuchs das Sternkind auf mit den Kindern des Holzfällers, saß mit ihnen am selben Tisch und war ihr Spielgefährte. Und mit jedem Jahr war es schöner anzusehen, so daß alle, die im Dorf wohnten, mit Staunen erfüllt wurden. Denn während sie selber schwärzliche Haut und schwarze Haare hatten, so war das Kind weiß und zart, wie aus Elfenbein geschnitzt, und seine Locken glichen den Blütenblättern einer roten Blume, und seine Augen waren wie Veilchen an einem Bach voll klaren Wassers, und sein Leib wie die Narzisse auf einem Feld, dahin der Schnitter nicht kommt.

Und doch geriet seine Schönheit ihm zum Bösen, denn es wurde stolz und grausam und selbstsüchtig. Es verachtete die Kinder des Holzfällers und die anderen Kinder aus dem Dorf und sagte, sie seien von niederer, es selber jedoch von vornehmer Herkunft, einem Stern entsprossen, und es warf sich zum Herrn auf über sie und nannte sie seine Knechte. Kein Mitleid hatte es mit den Armen, noch mit denen, die blind oder verkrüppelt waren oder sonst vom Schicksal geschlagen, sondern...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2020
Reihe/Serie Fischer Klassik
Fischer Klassik
Zusatzinfo 23 s/w-Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • Gedichte • Georg Trakl • Geschichten • Lyrik • Schnee • Weihnachten • Winter • Winterabend
ISBN-10 3-10-491312-9 / 3104913129
ISBN-13 978-3-10-491312-4 / 9783104913124
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