Survival (eBook)

Ein Streifzug durch die kanadische Literatur
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8013-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Survival -  Margaret Atwood
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Erstmals in deutscher Übersetzung - Margaret Atwoods fundierte, hochamüsante Literaturgeschichte Kanadas 1972 erschien »Survival« erstmals und sorgte für Stürme der Begeisterung wie der Empörung. Seitdem wird es gelesen, gelehrt, immer wieder aufgelegt - und nun, fast 50 Jahre danach, endlich auch ins Deutsche übersetzt. Margaret Atwood fragt darin: Womit hat unsere Literatur sich im Wesentlichen beschäftigt? Ihre provokante Antwort erläutert sie in zwölf geistreichen, leidenschaftlichen Kapiteln. Als eine der Ersten betont sie die Bedeutung der Geschichten der First Nations, liest die kanadischen »Klassiker« neu und formte so die Eigenwahrnehmung ihrer Landsleute. Für die Neuausgaben je um ein Vorwort ergänzt, gilt Margaret Atwoods visionärer Wurf nach wie vor als das wohl interessanteste und prägendste Buch über die kanadische Literatur.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Lyrikband »Innigst«.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr "Report der Magd" wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Ich begann schon in jungen Jahren mit der Lektüre kanadischer Literatur, wusste jedoch nicht, dass es sich um kanadische Literatur handelte. Tatsächlich war mir nicht bewusst, dass ich in einem Land lebte, das so etwas wie eine eigenständige Existenz besaß. In der Schule brachte man uns bei, »Rule, Britannia« zu singen und den Union Jack, die britische Flagge, zu zeichnen. Nach dem Unterricht lasen wir stapelweise Comics über Captain Marvel, Plastic Man und Batman, ein Vergnügen, das durch das Missfallen unserer Eltern noch gesteigert wurde. Irgendjemand hatte uns aber auch Charles G. D. Roberts’ Könige im Exil zu Weihnachten geschenkt, und ich schluchzte mich rasch durch die herzzerreißenden Geschichten über eingesperrte, gefangene und gepeinigte Tiere. Danach war Ernest Thompson Setons Wilde Tiere, die ich kannte dran, womöglich noch erschütternder, weil die Tiere wirklicher erschienen – sie lebten in Wäldern, nicht im Zirkus – und ihr Sterben banaler war: nicht das Sterben von Tigern, sondern von Kaninchen.

Niemand bezeichnete diese Geschichten als kanadische Literatur, und falls doch, hätte es mich kein bisschen interessiert; für mich waren diese Bücher einfach frisches Lesefutter, neben Walter Scott, Edgar Allan Poe und Donald Duck. Ich war bei meiner Lektüre nicht wählerisch und bin es auch heute noch nicht. Ich las damals vor allem zur Unterhaltung, so wie heute. Und ich meine das nicht entschuldigend: Ich finde, wenn man die spontane Gefühlsreaktion beim Lesen ausklammert – die Begeisterung oder Spannung oder einfach die Freude daran, eine Geschichte erzählt zu bekommen – und versucht, sich zuerst auf die Bedeutung oder die Form oder die »Botschaft« zu konzentrieren, kann man es auch sein lassen; Arbeit allein macht nun mal nicht glücklich.

Doch damals wie heute gab es verschiedene Grade der Unterhaltung. Ich las die Rückseite von Cornflakes-Packungen zum Zeitvertreib, Captain Marvel und Walter Scott als Flucht aus dem Alltag – selbst damals war mir klar: Wo ich auch lebte, dort war es nicht, denn ich hatte noch nie ein Schloss gesehen, und auch das auf dem Comic-Umschlag beworbene Eis am Stiel gab es in Kanada nicht zu kaufen, oder wenn, dann teurer – aber Seton und Roberts las ich als etwas, das, ob Sie es glauben oder nicht, dem echten Leben näher war. Tiere hatte ich schon gesehen, sogar eine ganze Menge davon; ein sterbendes Stachelschwein war für mich wirklicher als ein Ritter in Rüstung oder Clark Kents Metropolis. Alte, moosige Verliese und Kryptonit waren in meiner Heimat Mangelware, auch wenn ich gern glauben wollte, dass es sie anderswo gab; aber die Materialien für Setons Objekte aus Stöcken und Steinen und die aus der Natur stammenden Zutaten für Ellsworth Jaegers Rezepte aus Wildwood Wisdom gab es überall; wir konnten das alles recht einfach nachmachen und taten es auch. Die meisten dieser Gerichte waren einigermaßen ungenießbar – probieren Sie doch einmal den Eintopf aus Rohrkolbenwurzeln oder die Pollenpfannkuchen –, aber die Grundzutaten findet man rund um jedes kanadische Sommerhäuschen.

Und nicht nur der Inhalt dieser Bücher fühlte sich wirklicher für mich an. Auch ihre Form, ihre Struktur. Die Tiergeschichten handelten vom Überlebenskampf, und Setons praktische Ratgeber waren im Grunde Überlebenshandbücher. Sie wiesen nachdrücklich auf mögliche Gefahren hin: sich verirren, die falsche Wurzel oder Beere essen oder einen Elch in der Brunftzeit reizen. Obwohl sie vor nützlichen Tipps nur so strotzten, bildeten sie eine Welt voller Fallgruben ab, so, wie auch die Tiergeschichten von Fangeisen und Schlingen durchsetzt waren. In dieser Welt stürzte sich kein Superman in letzter Sekunde vom Himmel, um einen vor der Katastrophe zu retten; kein Reiter erschien spornstreichs mit des Königs Begnadigung. Das Wichtigste war, am Leben zu bleiben, und nur durch eine Mischung aus List, Erfahrung und knappem Entrinnen konnte dies dem Tier – oder dem sich selbst überlassenen Menschen – gelingen. Und es gab, zumindest in den Tiergeschichten, keine endgültigen Happy Ends oder perfekten Lösungen. Falls das Tier in der Geschichte durch Glück seiner Notlage entrann, wusste man doch, dass später eine andere folgen würde, der es zum Opfer fallen musste.

Damals analysierte ich die Dinge natürlich nicht so gründlich. Ich lernte einfach, was man zu erwarten hatte: In Comics und Büchern wie Alice im Wunderland oder Conan Doyles Die vergessene Welt wurde man gerettet oder kehrte aus der Welt der Gefahren wieder in sein heimeliges, sicheres Leben zurück; bei Seton und Roberts nicht, denn die Welt der Gefahren war mit der echten Welt identisch. Doch als ich während der Highschool auf etwas stieß, das deutlicher als kanadische Literatur gekennzeichnet war, wieder ein Weihnachtsgeschenk, nämlich die Anthologie Kanadische Kurzgeschichten, von Robert Weaver und Helen James herausgegeben, überraschte mich das nicht. Da waren sie wieder, die flüchtenden Tiere, diesmal größtenteils in Menschengestalt, und diese Menschen mussten sich behaupten. Da gab es den winzigen Fehler, der in die Katastrophe führte, da gab es den verhängnisvollen Unfall. Es war eine Welt erfrorener Leiber, toter Erdhörnchen, voll Schnee, toter Kinder und einem beständigen Gefühl der Bedrohung. Keine Bedrohung durch einen böswilligen Feind, sondern durch die gesamte Umwelt. Die vertraute Gefahr lauerte hinter jedem Busch – und ich kannte die Namen jedes einzelnen Buschs. Noch einmal: Ich las das alles nicht als Canlit, ich las es einfach bloß. Ich weiß noch, wie mich einige dieser Geschichten begeisterten (besonders James Reaneys »Der Bully«), andere mich ziemlich kaltließen. Doch sie alle fühlten sich für mich auf eine Weise echt an, wie es Charles Dickens, so gern ich ihn auch las, nicht vermochte.

Ich schreibe hier nicht von diesen frühen Erfahrungen, weil ich sie für typisch halte, sondern weil ich sie – ganz im Gegenteil – für sehr untypisch halte. Ich bezweifle, dass viele Menschen meines Alters auch nur diese geringe Leseerfahrung ihrer eigenen Literatur besaßen, so eingeschränkt und zufällig sie in meinem Fall auch war. (Wo ich das so schreibe, fühle ich mich ungefähr wie 102, denn seither hat sich einiges verändert. Doch obwohl hier und dort in unserem Land neue Lehrpläne aufgestellt werden, bin ich noch nicht überzeugt, dass das durchschnittliche kanadische Kind oder der durchschnittliche Highschool-Schüler mit mehr kanadischer Literatur in Berührung kommt, als es damals bei mir der Fall war. Und genau das ist natürlich Teil unseres Problems.)

Dennoch, obgleich ich nur wenige kanadische Werke las, besaßen sie immerhin ihre eigene Form, die sich anders anfühlte als die Formen anderer Bücher. Als was sich diese Form entpuppte, und was sie meiner Ansicht nach für dieses Land bedeutet, wurde mir umso klarer, je mehr ich las. Und das ist, selbstverständlich, das Thema dieses Buches.

***

Ich möchte mit einer dramatischen Pauschalisierung beginnen und behaupten, dass jedem Land und jeder Kultur ein einziges verbindendes und prägendes Symbol zugrunde liegt. (Bitte sehen Sie keine meiner groben Vereinfachungen als dogmatisch und ausnahmslos an; ich will damit lediglich verschiedene Blickwinkel eröffnen, aus denen man Literatur betrachten kann.) Das Symbol also – ob Wort, Wendung, Idee, Bild, oder alles auf einmal – funktioniert wie ein System aus Glaubenssätzen (es ist ein System aus Glaubenssätzen, wenn auch nicht immer als solches ausgewiesen), das im Land für Zusammenhalt sorgt und seinen Bewohnern hilft, auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten. Das Symbol für Amerika ist vermutlich die Grenze, the Frontier, ein flexibler Begriff, der viele Elemente umfasst, die dem Amerikaner lieb und teuer sind. Sie steht für einen Ort, der neu ist, an dem die alte Ordnung nicht länger gilt (wie bei der Gründung Amerikas durch einen Haufen unzufriedener Protestanten und wie später zur Zeit der Revolution); eine Linie, die sich immer weiter verschiebt und damit taufrisches, jungfräuliches Land vereinnahmt oder »erobert« beziehungsweise »besiegt« (sei es den Westen, den Rest der Welt, das Weltall, die Armut oder die Geografie des Geistes); die Grenze stellt eine Hoffnung dar, niemals erfüllt, aber stets verheißen; die Hoffnung auf Utopia, die perfekte menschliche Gesellschaft. Der Großteil der amerikanischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt sich mit der Kluft zwischen dieser Verheißung und der Wirklichkeit, zwischen dem erträumten, idealen, goldenen Westen oder der City upon a Hill, dem Vorbild für die ganze Welt, wie von den Puritanern gefordert, und dem tatsächlichen, verkommenen Materialismus, der kauzigen Kleinstadt, der hässlichen Großstadt oder dem von Rednecks bevölkerten Hinterland. Einige Amerikaner verwechselten sogar Vorhandenes und Verheißung. Da wird ein Hilton-Hotel mit Cola-Automaten zum Himmelreich.

Die symbolische Entsprechung in England ist wohl die Insel, ganz offensichtlich ein passendes Bild. Im siebzehnten Jahrhundert schrieb der Dichter Phineas Fletcher ein Langgedicht namens The purple Island, das sich auf eine erweiterte Metapher des Körpers als Insel stützt, und obwohl das Gedicht fürchterlich ist, meine ich genau diese Art von Insel: der Körper als Insel, eigenständig, ein Staatskörper, der sich organisch entwickelt, mit hierarchischem Aufbau, wo der König den Kopf darstellt, die Politiker die Hände, die Bauern oder Arbeiter die Füße und so weiter. Das englische Sprichwort »My home is my...

Erscheint lt. Verlag 29.7.2021
Übersetzer Yvonne Eglinger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Anglistik / Amerikanistik
Schlagworte erste Siedler • First Nation • Gastland Kanada • Kanada • Literaturgeschichte • Quebec • Überleben • Wildnis
ISBN-10 3-8270-8013-4 / 3827080134
ISBN-13 978-3-8270-8013-4 / 9783827080134
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