Trümmermädchen (eBook)

Annas Traum vom Glück

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2020 | 1. Auflage
512 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2425-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trümmermädchen -  Lilly Bernstein
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Eine zerstörte Bäckerei in einer zerbombten Stadt. Ein eisiger Winter, der tausende Opfer fordert. Und mittendrin zwei Frauen, die ums Überleben kämpfen, um die Liebe und die Erfüllung ihres Traums Köln, 1941. Anna wächst bei ihrer Tante Marie und ihrem Onkel Matthias auf, einem Bäckerehepaar. Das Mädchen liebt die Backstube über alles. Der Duft von frischgebackenem Brot, die mehlgeschwängerte Luft, der große Ofen aus Vulkanstein - für Anna der schönste Ort der Welt. Doch mit dem Krieg kommt das Unglück: Matthias wird eingezogen und die Bäckerei bei Luftangriffen zerstört. Während Köln in Trümmern liegt und vom kältesten Winter des Jahrhunderts heimgesucht wird, schließt Anna sich in ihrer Not einer Schwarzmarktbande an und steigt zur gewieftesten Kohlediebin der Stadt auf. Als sie am wenigsten damit rechnet, verliebt sie sich - eine verbotene Liebe mit gefährlichen Folgen. Von Kälte, Hunger und Neidern bedroht, halten Anna und ihre Tante verzweifelt an dem Traum fest, die Bäckerei wiederaufzubauen. Und an der Hoffnung, dass die Männer, die sie lieben, irgendwann zu ihnen zurückkehren. 'Wie schnell Kinder in Kriegszeiten erwachsen werden mussten, und was für eine kreative Kraft sie entwickeln konnten, um zu überleben, das zeigt Lilly Bernstein mit Anna eindrucksvoll und spannend in ihrem Roman Trümmermädchen.' --- Brigitte Glaser, Autorin von Bühlerhöhe und Rheinblick

Lilly Bernstein ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Ihre Romane Trümmermädchen und Findelmädchen waren große Presse- und Publikumserfolge. 

Lilly Bernstein ist das Pseudonym einer Kölner Journalistin und Autorin, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Sie stammt aus einer Bäckersfamilie und wuchs zwischen Laden und Backstube auf. Ihre Mutter ist ebenfalls Bäckerskind und hat die Nachkriegszeit noch in lebendiger Erinnerung. Trümmermädchen - Annas Traum vom Glück ist Lilly Bernsteins persönlichster Roman. Mit seiner Veröffentlichung geht für die Autorin ein Herzenswunsch in Erfüllung.

Kapitel 1


Es war der Duft, der sie geweckt hatte. Keine heulende Sirene. Keine Hände, die nach ihr griffen. Kein hastiges Zerren die Treppe hinab. An diesem frühen, stillen Morgen war es einfach nur der Duft, der Anna geweckt hatte. So vertraut, so köstlich.

Es war der schwere, ein wenig saure Geruch von frisch gebackenem Schwarzbrot. Anna liebte Schwarzbrot. Allein bei dem Gedanken an die großen Laibe, die in der Hitze des Ofens vor sich hin waberten, seufzte sie wohlig. Schwarzbrot! Das backte Onkel Matthias nur einmal in der Woche. Heute musste ihr Glückstag sein! Kein Alarm, und dann auch noch Schwarzbrot. Es brauchte fast zwei Stunden, bis es fertig ausgebacken war. Anna war erst elf, aber es gab vieles, was sie schon wusste. Zwei Stunden volle Hitze! Wie viele Briketts dafür wohl nötig waren? Sie würde später Onkel Matthias fragen.

Anna rutschte ein bisschen tiefer ins Bett, so tief, dass ihre nackten Füße die Wand erreichten. Hmmm. »Niemals mehr kalte Füße«, hatte Tante Marie gelacht, als sie in dieses Zimmer gezogen waren, damals, nachdem sie nicht mehr oben bei den Kohns hatten wohnen dürfen. In der engen Kammer unter dem Dach hatten sie im Winter gefroren wie die Schneider. Hier aber, direkt über der Backstube, war es immer herrlich warm. Dafür sorgte der Kamin, der mitten durch den schmalen Raum hindurchging. Anna presste ihre Fußsohlen gegen die Wand. Himmlisch fühlte sich das an. Auch jetzt, im Sommer, konnte sie nie genug davon bekommen. Und Tante Marie hatte natürlich recht behalten. Anna hatte niemals mehr kalte Füße, denn der Ofen bullerte Tag und Nacht.

Sie konnte das Bullern spüren. Es fühlte sich an, als würde ein Riese das ganze Zimmer vorsichtig in seiner Hand hin und her wiegen, mit allem, was darin war, mit dem Bett und der kleinen Kommode und natürlich mit Anna. Dieses Wiegen, dieses sanfte Vibrieren – das war das Feuer, das direkt unter dem Zimmer im Ofen loderte und das Onkel Matthias niemals ausgehen ließ.

Zum Duft des Schwarzbrots gesellte sich nun ein weiterer Geruch. Anna kniff die Augen fest zusammen, sie schnupperte. Dieser Duft war nicht ganz so schwer, und er war nicht ganz so sauer. Er war ein wenig sanfter, doch zugleich durchdringend und schlängelte sich zu ihr hinauf ins Zimmer, strömte durch jede Ritze. Graubrot. So roch Graubrot. Anna lächelte. Und über allem drüber schwebte, ganz leicht und doch unverkennbar, der Duft von frisch gebackenen Brötchen. Kross war dieser Duft und so luftig, dass er gleich weiterschwebte, hinaus in den Hof und durch die enge Gasse.

Anna schnupperte und lächelte weiter still in sich hinein. Sie zog das Daunenbett, dessen Bezug über und über bedruckt war mit gelben Rosen, bis an ihr Kinn. Sie streckte und räkelte sich. Wie ungewohnt es immer noch war, das Bett ganz für sich allein zu haben! So lange sie denken konnte, hatte sie dieses Bett mit Tante Marie geteilt. Und weil Tante Marie das war, was Onkel Matthias mit einem Leuchten in den Augen »wohlgeformt« nannte, war für Anna nur ein klitzekleines bisschen Platz geblieben. In den ersten Wochen ohne Tante Marie hatte sie weiterhin dicht an der Bettkante geschlafen, auf der linken Seite. Weil sie es nicht anders gekannt hatte.

Wenn Anna ganz ehrlich war – aber niemals hätte sie das irgendjemandem verraten, nicht einmal Ruth –, dann vermisste sie Tante Marie nachts. Manchmal. An Tante Marie war alles weich und duftig. Mit ihr im Bett zu schlafen, war, als hätte man ein zusätzliches Daunenkissen gehabt, ein extragroßes, an das man sich ankuscheln konnte, das einem abends ein Lied sang und morgens einen Kuss auf die Stirn drückte.

Nun aber war Anna bald ein großes Mädchen und konnte allein schlafen.

Tante Marie hatte Onkel Matthias geheiratet und schlief mit ihm unten, in dem Zimmer direkt neben der Backstube. Onkel Matthias roch nach Schwarzbrot und nach Sauerteig und manchmal sogar nach Schokolade. Sein Haar leuchtete wie der Kupferkessel, in dem er mit einem Rührbesen, der so lang wie sein Arm war, Eiweiß für Baiser anschlug. Und er hatte ein Lachen, das auf seine rechte Wange ein Grübchen zauberte. Weil er viel lachte, ging das Grübchen meist gar nicht mehr weg. Anna liebte Onkel Matthias sehr. Sie fand allerdings, dass er viel zu viel küsste.

Denn seit sie verheiratet waren, und eigentlich auch schon davor, küssten Onkel Matthias und Tante Marie sich unentwegt. Sie küssten sich, wenn sie früh in der Nacht aus dem Zimmer neben der Backstube kamen. Sie küssten sich beim Frühstück und beim Mittagessen. Sie küssten sich, während Matthias seine großen Hände tief im Bottich voller Teig versenkte, sie küssten sich sogar, wenn Marie im Laden hinter der Theke stand und gerade keiner guckte. Sie küssten sich beim Abendessen, und sie hörten nicht damit auf, bis sie in ihrem Zimmer verschwanden, wo das große Bett mit dem hohen Kopfteil auf sie wartete.

»Die küssen sich wahrscheinlich auch die ganze Nacht«, hatte Ruth Anna erklärt, »sei bloß froh, dass du dein eigenes Zimmer hast und nicht wie andere Kinder bei deinen Eltern schlafen musst!«

»Onkel Matthias und Tante Marie sind doch gar nicht meine Eltern!«, hatte Anna geantwortet.

»Stimmt.« Ruth hatte ein wenig nachgedacht, um dann hinzuzufügen: »Aber da du niemand anderen hast, sind sie es irgendwie doch, zumindest ein bisschen.«

Ruth war Annas beste Freundin. Sie war etwas älter, schon fast zwölf, und kannte die lustigsten Spiele und die besten Verstecke. Sie war ungeheuer lieb. Und sehr klug. Anna hatte lange über Ruths Worte nachgedacht. Wie ging das, ein bisschen Eltern sein? Wie hatte Ruth das gemeint? So gerne hätte sie sie das gefragt. Aber das konnte sie nicht. Denn Ruth war verschwunden.

Anna lauschte. Von unten waren Stimmen zu hören. Onkel Matthias, wie er lachte, und Tante Marie, wie sie in sein Lachen einfiel.

Über ihr war es mucksmäuschenstill.

Über ihr lebten die Kohns. Mutter Kohn, Vater Kohn, Ruth und ihr kleiner Bruder Gerald. Gerald war ein bisschen komisch im Kopf. »Mama hatte eine schwere Geburt«, hatte Ruth ihr erklärt, »da hat er zu wenig Sauerstoff bekommen.« Gerald war ein Junge von acht Jahren, doch er war so klein, er hätte auch erst vier oder fünf Jahre alt sein können. Er hatte ein liebes Gesicht, und er lächelte fast immer, aber er sprach nicht.

Gerald war ein stilles Kind. Von ihm hatte Anna in ihrem schmalen Zimmer über der Backstube nie irgendetwas gehört. Doch sie hatte Ruth gehört, ihre kleinen schnellen Schritte, wie sie über den Flur gelaufen war, in die Küche, in den Salon, ins Kinderzimmer, ins Bad. Die Wohnung der Kohns war hochherrschaftlich, sie hatten sogar einen extra Ofen nur für warmes Wasser, sie nannten ihn den Badeofen.

»Dass du uns hören kannst!«, hatte Ruth gestaunt. »Dabei hat Papa doch extra Betonböden einziehen lassen, wegen der Wanzen!«

Anna hatte in ihrem Zimmer auch Herrn Kohn gehört. Dessen tiefe Stimme hatte fast wie das Tuten der Dampfer geklungen, die nur wenige Hundert Meter entfernt den Rhein hinauf- und hinabfuhren. Und sie hatte Frau Kohn gehört. Frau Kohn war unüberhörbar gewesen. Sie hatte an einem Stück geredet. Und wenn sie nicht geredet hatte, dann hatte sie von früh bis spät gesungen. Und wenn ihr weder nach Reden noch nach Singen zumute gewesen war, dann hatte sie Schallplatten aufgelegt. Hans Albers, Zarah Leander, Heinz Rühmann – sie alle hatten stundenlang gesungen in der Wohnung im zweiten Stock.

Anna wusste nicht, wann es angefangen hatte, doch die Kohns waren leiser und leiser geworden. Frau Kohn hatte nicht mehr gesungen, sie hatte keine Platten mehr aufgelegt, sie hatte nur noch wenig gesprochen und ganz so, als fürchtete sie, unterbrochen zu werden. Die Stimme von Vater Kohn war brüchig geworden. Und selbst Ruth war nicht mehr so viel hin und her gerannt, sie hatte sich auf Zehenspitzen bewegt, und wenn Anna sie gesehen hatte, hatte ihre Freundin von Woche zu Woche blasser gewirkt. Allein der kleine Gerald hatte seine hölzerne Eisenbahn unbeirrt und wie eh und je durch die Zimmer geschoben.

Nun war es dort oben vollkommen still. Egal, wie sehr Anna die Ohren spitzte, sie hörte nichts, keinen einzigen Laut. Und so ging das schon seit drei Tagen und drei Nächten.

»Die Kohns sind nur kurz weg«, hatte Tante Marie erklärt.

Anna war das komisch vorgekommen.

»Wohin denn?«, hatte sie gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Eins ist doch klar, überlegte Anna nun, die Decke mit den gelben Rosen bis ans Kinn gezogen und die Füße an die warme Kaminwand geschmiegt, wenn die Kohns in Urlaub gefahren wären, dann hätte Ruth ihr das doch gesagt! Stundenlang wären sie mit dem Finger über den Globus gefahren, der bei den Kohns auf dem Vertiko stand und bei dem man innen ein Lämpchen anmachen konnte, sodass er leuchtete. Vor drei Sommern waren die Kohns in die Schweiz gefahren, und Anna konnte seither nahezu blind auf das winzig kleine Land tippen, so oft hatten die beiden Mädchen es auf dem Leuchtglobus gesucht. Die Schweiz war seitdem durchsichtig, man konnte das kleine Lämpchen brennen sehen. Und überhaupt, wohin sollten die Kohns denn in Urlaub fahren, jetzt, wo doch...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • 700 Jahre Kölner Dom • Bäckerei • Bäckerin • Deutschland • Diebstahl • Dom • Erste Liebe • Erwachsen werden • Familie • Familiensaga • Frauen • Fringsen • Geschichte • historisch • Hunger • Hungersnot • Hungerwinter • Kinder • Kinder im Krieg • Kohle • Kohlediebstahl • Köln • Kölner Dom • Krieg • Liebe • Liebe im Krieg • Not • Roman • Saga • Schwarzmarkt • Trümmer • unglücklich verliebt • Winter • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8437-2425-3 / 3843724253
ISBN-13 978-3-8437-2425-8 / 9783843724258
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